Lothar Sauer zu Philosophierungen
Unter der Überschrift Das Unbewusste: Der Autopilot im Kopf veröffentlichte
spektrum.de am 28. 5. 21 einen Artikel von Steve Ayan über eine neue Theorie, nach der die Erfahrungen, die unsere Vorfahren im Lauf unserer Gattungsgeschchte angesammelt haben, im Gehirn als ein Autopilot zusammengefasst lägen, der uns erlaubt, unsern Alltag ohne allzuviel Reflexionsarbeit durchzustehen und die wache Urteilskraft, die wir im Besondern als unser Bewusstsein auffassen, nur in kritischen Momenten in Anspruch zu nehmen.
Im Autopiloten sind die Wahrnehmungen und Handlungsroutinen von Millionen Jahren Stammesgeschichte gespeichert. Er hält ununterbrochen Ausschau, und so-lange ihm alles vertraut vorkommt, überlässte er sich seinen Mustern. Weil wir da-von keine Meldung erhalten - wozu denn? -, nennen wir ihn das Unbewusste. Da werden aber an einer andern Stelle im Gehirn die aktuellen Sinneswahrnehmungen zusammengeführt, und wo der Autopilot Vorgaben macht, die in die Wahrnehmungs-landschaft nicht hineinpassen, hat eine plötzlich erwachte Höhere Instanz einen Mo-ment Zeit, nein! zu rufen. Bleibt es aus, geht alles weiter wie gehabt - und wenn's ein Unfall wird.
Das ist keine Theorie, die begründen, sondern ein Schema, das eine Theorie ver-ständlich machen will: Der vorausgesetzte Zweck ist in jedem Fall eine Handlung, die durch eine unerwartete Situation erforderlich wird. In diesem Moment wird ein X sich-seiner-selbst-bewusst ("reißt sich zusammen"), weil es ein Urteil fällt.
Nota II. - Das Wort bewusst wird auch in der Neurowissenschaft verwendet wie in der Alltagssprache, nämlich als Synonym für reflektiert. Das Reflektieren hat aber zu seiner Voraussetzung das Gelten von Begriffen. In dem, was oben 'das Unbe-wusste' genannt wird, kommen Begriffe nicht vor. Natürlich nicht, denn in deinem und meinem Leben sind Begriffe die Voraussetzung dafür, dass wir urteilen kön-nen. Der Haken: Im Begriff ist längst geurteilt worden. Wir wurden in eine Welt hineingeboren, die schon restlos von Begriffen erfasst ist. Alles, was vorkommt, ist von Begriffen bezeichnet; so, als hätte ein anderer längst vor mir schon reflektiert.
Das ist faktisch aber auch richtig. Der vernünftige Verkehr der Menschen unterein-ander hat nicht darauf gewartet, dass ich ihm seinen Segen gebe; doch vom Himmel gefallen ist er auch nicht. Das Weltbild, das wir heute als das vernünftige ansehen, musste erst einmal hergestellt werden - von urteilenden Menschen in ihrer Zeit. Je-der einzelne Begriff musste irgendwo, irgendwann von irgendwem ersteinmal be-stimmt worden sein, ehe er Eingang finden konnte in eine intelligible Welt, als de-ren Bürger wir uns heute alle vorkommen.
Und bevor er bestimmt werden konnte, musste er als unbestimmte Ahnung im praktischen Verkehr der historischen Menschen erst einmal gegenwärtig werden, als Vorstellung - die nach oben referiertem Sprachgebrauch "unbewusst" war. Unbe-wusst mochten - und mögen - sie sein; aber der Stoff, aus dem das Bewusstsein gemacht ist, sind sie doch.
Nota III. - Die Wissenschaftslehre erzählt nicht die Geschichte, wie dein und mein Bewusstsein entstand. Sie entwirft ein Schema dessen, was Vernunft ist. Eine Vor-stellungswelt, in der keine Vernunft gilt, ist kein Bewusst-Sein, sondern Irrsinn.
Das Schema arrangiert nicht Erfahrungstatsachen zu einem ansehnlichen System, sondern entwirft aus der Mannigfaltigkeit der beobachteten Fakten einen Sinn zu-sammenhang. Seine Sinnbehauptungen müssen sich in der einen oder andern Ge-stalt unter den erhobenen Fakten wiederfinden lassen, und die Fakten müssen im Schema eine sinnhafte Funktion ausfüllen. Anders wäre Transzendentalphilosophie vergeudete Zeit.
Wenn der Hirnforscher von "freier Energie" spricht, bezeichnet er - hypothetisch! - einen Faktenkomplex, der in der Wissenschaftslehre als ideale Tätigkeit postuliert wurde; eine Energie, die der "Homöostase" ein ewig überlegener Feind ist.
Kommentar zu Die Physiologie des Bewusstseins. JE, 29. 5. 21
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