Matisse, La danse II zu Philosophierungen
Mit der Frage, wie die
Vernunft (der Geist, der Sinn...) in die Welt gekommen ist, hat es eine
ähnliche Bewandtnis wie mit der Frage, wie der Wert (das Kapital) in
die Welt gekommen ist.
Im ersten Falle brauchte, da aus nichts nichts wird, Fichte sein vorgeschichtliches Normalvolk,
das dann wie die Abderiten in alle vier Winde zerstreut ward, um
un-merklich hier und da und schließlich überall das Licht unter den
Leuten anzuzün-den. Wie als Echo darauf führt Max Scheler
den "Genotyp des Bourgeois", d. h. den Juden ein, der den Kapitalismus
als Naturanlage "mitgebracht" und dann über die Erde verstreut hat.
Tatsächlich sind beide
Fragen im Wesen verwandt. Sie lösen sich, wenn man auf-hört, Wert und
Vernunft als seiende Sachen aufzufassen, sondern als Verhältnis be-greift - das als solches allerdings erst "in Erscheinung tritt", sobald es 'entwickelt' ist. Aber eben: Es ent wickelt sich aus vorangegangenen Verhältnissen.
Und da erhellt
plötzlich, dass es sich beidemal wirklich "irgendwie" um dasselbe
handelt: nämlich um das Setzen dessen, was vor allem andern gelten
soll. Vernunft nennen wir ein solches Verhalten der Menschen zu sich
und den Dingen, das sich an den wahren Werten der Dinge orientiert. (Und
welches der wahre Wert der Din-ge ist, lässt sich immer nur - ex post -
praktisch ermitteln aus dem vernünftigen Verhalten...)
Ist das ein verbaler
Trick, Verhältnis aus Verhalten abzuleiten? Mitnichten; nur sol-che, die
sich zueinander verhalten, haben ein Verhältnis. Von Verhältnis ist gar
nicht zu reden, als wenn die Teilnehmer als Handelnde vorgestellt
werden. Richtig, Teil-nehmer: Denn an einem Verhältnis nehme ich teil -
oder ich habe keines. Vernünf-tig nennen wir Verhältnisse, in denen die
wahren Werte den Ausschlag geben. Wie wir die Werte setzen, bestimmt
je-weils unser Urteil über die Vernünftigkeit (oder andersrum - aber das
erst, wenn sich die Werte zu einem "System" sozialisiert ha-ben, dessen
Kohärenz Maßstab für die Gültigkeit einzelner Werte wird.)
Aber in der
Wirklichkeit erscheinen 'Werte' zuerst individuell - und zwar im
Gegen-satz zu den physiologischen Erhaltungserfordernissen. Jedes
Handeln, das sich an Anderem als den Bedürfnissen der Selbst- und
Arterhaltung orientiert, ist ipso facto werthaft. Denn es wählt.
In der Geschichte erscheint es punktuell, nämlich kultisch.
Die erste Stelle, wo regelmäßig ein Verhalten aufgetreten ist, das keinerlei
Bezug zu den phyiologischen Erhaltungsfunktionen mehr hat - und das
darum als Abschluss der Hominisation gilt -, ist die Haltung zum Tod.
Die Menschen wissen, dass sie sterben werden; vorher waren sie keine. Man kann überhaupt sagen: Es ist ihr erstes Wissen.
Sobald sie es wissen, hört der Tod auf, ein bloßes Naturgeschehen zu
sein - und sie setzen einen Fuß aus der Naturgeschicht-lichkeit ins Reich
der Freiheit. Nur weil sie sterben müssen, bekommt ihr Leben einen
Sinn.
31. 12. 1994
Nachtrag I. - Hier ist die Frage realphilosophisch, d. h. anthropologisch gestellt, nämlich: wie die Vernunft in die Welt gekommen ist. Noch nicht die Rede ist davon, worin sie besteht. Das ist erst eine Frage der Transzendentalphilosophie.
21. 3. 17
Nachtrag II. - Ein Verhältnis 'gibt es' gar nicht. Was 'es gibt', ist lediglich, dass Eines sich zu einem Andern verhält. Von dem, was der eine mit dem andern tut, kann ich, wenn ich einen Grund dafür habe, absehen. Das ändert aber nichts an dem Sach-verhalt: dass einer etwas tut. 'Es gibt' nicht Vernunft als objektive Eigenschaft des-sen, was einer tut; es gibt nur Vernünftigkeit seines Tuns: Er selbst handelt vernünf-tig oder nicht.
Alles weitere wäre Abstraktion und fiele in die Verantwortlichkeit des außenstehen-den Betrachters. Nur für ihn 'gibt es' ein Verhältnis. 'An sich' verhält sich immer nur Eines zu einem Andern, siehe oben. Anthropologie und Transzendentalphilosophie gehen nicht ineinander über oder gar ineinander auf. Sie sind zweierlei Gesichts-punkte - Perspektiven, aus denen man etwas sehen kann -, aber alternierend entwe-der dieser oder der andere.
Zusammenfassend gesagt: Vernünftigkeit ist ein (tätiges) Verhalten.
Denn die wahren Werte, die - siehe oben - das Verhalten der Menschen bestimmen, sind die Zwecke, die sie verfolgen. Gültig sind nicht schon die Zwecke, die ich oder ein anderer wirklich erstrebt, sondern solche, die geeignet sind, zu Zwecken aller zu werden. Das kann und muss man vorab erwägen. Doch erweisen kann es sich im-mer erst in der Tat. Ohne Wagemut keine Vernünftigkeit.
JE, 25. 6. 21
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