Freitag, 26. Dezember 2025

Vernunft ist keine Sache, sondern ein Verhalten.

Matisse, La danse II                                                       zu Philosophierungen

Mit der Frage, wie die Vernunft (der Geist, der Sinn...) in die Welt gekommen ist, hat es  eine ähnliche Bewandtnis wie mit der Frage, wie der Wert (das Kapital) in die Welt gekommen ist. 

Im ersten Falle brauchte, da aus nichts nichts wird, Fichte sein vorgeschichtliches Normalvolk, das dann wie die Abderiten in alle vier Winde zerstreut ward, um un-merklich hier und da und schließlich überall das Licht unter den Leuten anzuzün-den. Wie als Echo darauf führt Max Scheler den "Genotyp des Bourgeois", d. h. den Juden ein, der den Kapitalismus als Naturanlage "mitgebracht" und dann über die Erde verstreut hat.

Tatsächlich sind beide Fragen im Wesen verwandt. Sie lösen sich, wenn man auf-hört, Wert und Vernunft als seiende Sachen aufzufassen, sondern als Verhältnis be-greift - das als solches allerdings erst "in Erscheinung tritt", sobald es 'entwickelt' ist. Aber eben: Es ent
wickelt sich aus vorangegangenen Verhältnissen.
 
Und da erhellt plötzlich, dass es sich beidemal wirklich "irgendwie" um dasselbe handelt: nämlich um das Setzen dessen, was vor allem andern gelten soll. Vernunft nennen wir ein solches Verhalten der Menschen zu sich und den Dingen, das sich an den wahren Werten der Dinge orientiert. (Und welches der wahre Wert der Din-ge ist, lässt sich immer nur - ex post - praktisch ermitteln aus dem vernünftigen Verhalten...) 

Ist das ein verbaler Trick, Verhältnis aus Verhalten abzuleiten? Mitnichten; nur sol-che, die sich zueinander verhalten, haben ein Verhältnis. Von Verhältnis ist gar nicht zu reden, als wenn die Teilnehmer als Handelnde vorgestellt werden. Richtig, Teil-nehmer: Denn an einem Verhältnis nehme ich teil - oder ich habe keines. Vernünf-tig nennen wir Verhältnisse, in denen die wahren Werte den Ausschlag geben. Wie wir die Werte setzen, bestimmt je-weils unser Urteil über die Vernünftigkeit (oder andersrum - aber das erst, wenn sich die Werte zu einem "System" sozialisiert ha-ben, dessen Kohärenz Maßstab für die Gültigkeit einzelner Werte wird.)

Aber in der Wirklichkeit erscheinen 'Werte' zuerst individuell - und zwar im Gegen-satz zu den physiologischen Erhaltungserfordernissen. Jedes Handeln, das sich an Anderem als den Bedürfnissen der Selbst- und Arterhaltung orientiert, ist ipso facto werthaft. Denn es wählt.

In der Geschichte erscheint es punktuell, nämlich kultisch

Die erste Stelle, wo regelmäßig ein Verhalten aufgetreten ist, das keinerlei Bezug zu den phyiologischen Erhaltungsfunktionen mehr hat - und das darum als Abschluss der Hominisation gilt -, ist die Haltung zum Tod.

Die Menschen wissen, dass sie sterben werden; vorher waren sie keine. Man kann überhaupt sagen: Es ist ihr erstes Wissen. Sobald sie es wissen, hört der Tod auf, ein bloßes Naturgeschehen zu sein - und sie setzen einen Fuß aus der Naturgeschicht-lichkeit ins Reich der Freiheit. Nur weil sie sterben müssen, bekommt ihr Leben einen Sinn. 

31. 12. 1994


Nachtrag I. - Hier ist die Frage realphilosophisch, d. h. anthropologisch gestellt, nämlich: wie die Vernunft in die Welt gekommen ist. Noch nicht die Rede ist davon, worin sie besteht. Das ist erst eine Frage der Transzendentalphilosophie. 
21. 3. 17

Nachtrag II. - Ein Verhältnis 'gibt es' gar nicht. Was 'es gibt', ist lediglich, dass Eines sich zu einem Andern verhält. Von dem, was der eine mit dem andern tut, kann ich, wenn ich einen Grund dafür habe, absehen. Das ändert aber nichts an dem Sach-verhalt: dass einer etwas tut. 'Es gibt' nicht Vernunft als objektive Eigenschaft des-sen, was einer tut; es gibt nur Vernünftigkeit seines Tuns: Er selbst handelt vernünf-tig oder nicht. 

Alles weitere wäre Abstraktion und fiele in die Verantwortlichkeit des außenstehen-den Betrachters. Nur für ihn 'gibt es' ein Verhältnis. 'An sich' verhält sich immer nur Eines zu einem Andern, siehe oben. Anthropologie und Transzendentalphilosophie gehen nicht ineinander über oder gar ineinander auf. Sie sind zweierlei Gesichts-punkte - Perspektiven, aus denen man etwas sehen kann -, aber alternierend entwe-der dieser oder der andere.

Zusammenfassend gesagt: Vernünftigkeit ist ein (tätiges) Verhalten.

Denn die wahren Werte, die - siehe oben - das Verhalten der Menschen bestimmen, sind die Zwecke, die sie verfolgen. Gültig sind nicht schon die Zwecke, die ich oder ein anderer wirklich erstrebt, sondern solche, die geeignet sind, zu Zwecken aller zu werden. Das kann und muss man vorab erwägen. Doch erweisen kann es sich im-mer erst in der Tat. Ohne Wagemut keine Vernünftigkeit.
JE, 25. 6. 21

 

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