aus FAZ.NET, 30. 4. 2025
Zuerst müssen die Klischees beseitigt werden
Mit
Deutungen einzelner Gemälde wollte er sich gar nicht erst aufhalten:
Gilles Deleuzes im Jahr 1981 gehaltene Vorlesungen über Malerei erinnern
daran, dass Kunst eigenen Gesetzen folgt.
Für das Frühjahrssemester 1980 hatte Roland Barthes am Pariser Collège de France ein Seminar über Marcel Proust und die Fotografie angekündigt. Im Zentrum der Veranstaltung sollten sechzig historische Porträtaufnahmen stehen, die der Pariser Fotograf Paul Nadar von Persönlichkeiten aus dem Umfeld Prousts angefertigt hatte. Barthes verstand diese Bilder als historisches Archiv, das die imaginäre Welt des proustschen Romans mit Fragmenten des Realen durchsetzte. Von diesem „Labormaterial“ hatte er beim französischen Kulturministerium Diapositive anfertigen lassen, die nach und nach an der Seminarwand erscheinen und die Seminarteilnehmer ihrer „toxischen Wirkung“ aussetzen sollten.
Zu der Veranstaltung ist es nicht mehr gekommen, da Barthes im März 1980 an den Folgen eines Verkehrsunfalls starb. Ein Jahr später hielt am anderen Ende der Stadt Gilles Deleuze seine Vorlesungen über Malerei. Was den Umgang mit Bildern betrifft, könnten die Unterschiede zu Barthes’ „Intoxikation“ seiner Zuhörer nicht größer sein. „Reproduktionen mag ich euch nicht zeigen, denn dann hat man keine Lust mehr zu reden“, bemerkt Deleuze am Beginn der Vorlesung. Als er in einer der Sitzungen dann doch einmal die Reproduktion eines Gemäldes von Francis Bacon herumgehen lässt, fügt er entschuldigend hinzu: „Ich schäme mich, euch Bilder zu zeigen, es sollte eigentlich eine bilderlose Vorlesung sein.“
Für diese ikonische Abstinenz lassen sich verschiedene Gründe denken. Vielleicht fand Deleuze die ästhetische Qualität der Reproduktionen von Kunstwerken einfach zu schlecht. Vielleicht hätte ihn das unmittelbare Nebeneinander von Bild und Text aber auch bei der sprachlichen Entfaltung seiner Überlegungen gestört. Oder war Deleuze der Überzeugung, das Zeigen von Bildern sei in einer Philosophievorlesung prinzipiell nicht notwendig, da philosophische Begriffsbildung sich der unmittelbaren Anschauung entzieht? Über Malerei zu sprechen, bedeutet für Deleuze, „Begriffe zu bilden, die in direktem Bezug zur Malerei stehen, und zur Malerei allein“. Für diese Begriffe liefern ihm einzelne Gemälde Anhaltspunkte, darüber hinaus geht es Deleuze aber um generalisierbare Aussagen zur Malerei, nicht um die Deutung einzelner Gemälde.
Bloßes Kunsthandwerk oder Dekoration
Auf diese Abstraktionsebene muss man sich einlassen, wenn man von der Lektüre der nun auch auf Deutsch erschienenen Vorlesungstexte etwas haben will. Nach der staatlich verordneten Schließung der Reformuniversität Vincennes, wo Deleuze seit 1970 unterrichtet hatte, war die Hochschule nach Saint Denis im Norden von Paris umgezogen. Die nun publizierte Fassung der Malerei-Vorlesungen beruht auf Tonbandmitschnitten, deren mündlichen Charakter der Herausgeber in der Transkription des Textes weitgehend beibehalten hat. Dass der Verlag für diese Form den reißerischen Slogan „Deleuze in action!“ wählt, wäre nicht nötig gewesen.

Eine angemessene Beschreibung gibt der Autor selbst, wenn er bemerkt, ein Vortragender müsse im Reden „Augenblicke der Inspiration“ herbeiführen und „sich selbst so weit bringen, mit Enthusiasmus sprechen zu können“. Der Text macht anschaulich, wie Deleuze seine Thesen Schritt für Schritt entwickelt, was ihn inspiriert und begeistert, ärgert oder langweilt. Besonders einfältig findet er etwa die Vorstellung vom „weißen Blatt“, das dem Künstler am Beginn seiner Arbeit entgegenstarre. Das Problem des Anfangs sei gerade nicht die Leere, sondern im Gegenteil der aufdringliche Überschuss an Banalitäten: Die Klischees sind schon da, noch bevor der erste Strich gezogen ist.
Die künstlerische Arbeit beginnt daher als Auslöschung der vielen falschen Bilder. Deleuze nennt dieses Anfangsstadium die „Katastrophe“ des Malakts, einen „präpikturalen Moment des Chaos“. Durch diese Katastrophe muss der Maler hindurchgehen, wenn sein Gemälde zum „geordneten Abgrund“ werden soll. Scheitert diese Anstrengung, ist das Resultat bloßes Kunsthandwerk oder Dekoration.
„Die Malerei schafft ihr eigenes Faktum“
Dass Deleuzes Vorlesungen nach den Worten des Herausgebers das „Laboratorium“ künftiger Bücher bilden, hat den Nebeneffekt, dass Lesern der Bücher zentrale Inhalte der Vorlesungen bereits bekannt sind. So ist neben den Überlegungen zur „Katastrophe“ des Malakts auch der zentrale Begriff des „Diagramms“ bereits in der 1981 erschienenen Bacon-Monographie formuliert. Nach Deleuze stellt ein Maler nicht Formen, sondern Kräfte dar. Der Begriff des „Diagramms“ bezeichnet dabei die „operative Instanz“ dieser Kräfte, eine Art Matrix, die von Künstler zu Künstler variiert. Ihre Entfaltung entzieht sich der unmittelbaren Sichtbarkeit, denn für Deleuze bestimmt nicht das Auge den Malakt, sondern die vom Auge losgelöste Hand.
Den klassischen Gegensatz zwischen „figurativer“ und „abstrakter“ Malerei stellt Deleuze dabei grundsätzlich infrage. „Ähnlichkeit aufzulösen gehörte schon immer zum Akt des Malens.“ Auch die vormoderne Malerei beruhte bereits auf der Abstraktion vom Gegenstand. Einen wirklichen Bruch markiert für Deleuze erst die „konturlose Linie“ Jackson Pollocks. In diametralem Gegensatz zum amerikanischen Kunstkritiker Clement Greenberg begreift Deleuze Pollocks Linien als eine rein manuelle Kunst, „Rebellion der Hand gegenüber dem Auge“.
Es ist beinahe ein halbes Jahrhundert her, dass Deleuze seine Philosophie der Kunst formuliert hat. Seither haben sich die Erwartungen an bildende Kunst grundlegend verändert. Kunstwerke werden heute zunehmend als statement, Botschaft und Kommentar zu Fragen der Zeit betrachtet. Von dieser Erwartung an die diskursive Dienstleistung der Kunst ist Deleuze weit entfernt. Ob ein Gemälde ein Thema hat, interessiert ihn nicht – an Michelangelo bewundert er die „wunderbare Gleichgültigkeit“ gegenüber dem Sujet. „Die Malerei schafft ihr eigenes Faktum.“
Dieses Insistieren auf den eigenen Gesetzen der Malerei erscheint gegenwärtig als wichtiges Korrektiv zur Reduktion der Kunst auf abrufbare Inhalte. Die Lektüre der Vorlesungen wird dabei nicht zuletzt für Maler von Interesse sein, zentrale Bezugspunkte sind die Arbeitsnotizen Cézannes, Kandinskys und Klees. Der Erfahrung im Verfertigen der eigenen Gedanken entspricht bei Deleuze eine hohe Aufmerksamkeit für den Entstehungsprozess eines Gemäldes. Nicht weniger entscheidend als das sichtbare Bild ist der vorangegangene Akt seiner Herstellung, sein allmähliches Hervortreten aus der „Katastrophe“.
Nota. - Wer Diskurse führen will, sollte sich des ihnen gemäßen Mediums bedienen: des gesprochenen und vorzüglich des geschriebenen Wortes. Denn darauf ist es zu dieser Zeit vor allem andern festgelegt. Zu einer Zeit, als die Wörter in der Welt selbstredend auch beschwörenden, berauschenden, begeisternden, entzückenden und selbst verfluchenden Anspruch stellten, konnte auch die Kunst sich belehren-den, weihenden und beschreibenden Absichten widmen, und an ihren Rändern ziehen sie beide bis heute die Grenzen nicht so genau.
Doch in den modernen Gesellschaften haben sich sowohl die Kunst als auch die Wissenschaften zu von einander unabhängigen Instanzen ausgebildet, und wer heute mit Wörtern malt oder mit Bildern Wissen schafft, muss wohl schon was Besonderes mitzuteilen haben.
So rede ich seit Jahr und Tag. Wenn ein Namhafter immerhin in diesem negativen Sinne ähnlich redet, gebe ich es gern zum Besten. Ob ich auch im Positiven seine Meinung teile, weiß ich nicht, denn dafür verstehe ich sie nicht genug. Doch bin ich bescheiden geworden.
PS. Ich neigte einmal der Ansicht zu, man könne heute Bilder nur noch als Parodie malen, "so dass sie quietschen"; da hatte ich aber noch nicht genug gesehen. Dem hat das Internet inzwischen Abhilfe ver-schafft. Dass aber, wer heute Bilder anschaut, durch hunderte und tausende Gemälde hindurch schau-en muss, die auf seiner Netzhaut ihre Abdrücke hinterlassen haben, hat sich gar noch verstärkt.
Deleuze scheint, wenn ich was verstanden habe, die Lösung in der Betrachtung des Arbeitsprozesses, also im Blick - nein: in der Hand des Malers finden zu wollen. In irgendeinem Sinn objektiv ist Kunst aber nur als Werk, nicht als Verrichtung,
JE
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