Die Wladimir-Putin-Saga.


aus nzz.ch, 21. 8. 2023     Ein Mann mit vielen Gesichtern. Bilder von Dmitri Wrubel und Victoria Timofejewa für einen Kalender, 2001.

Im Anfang war das Verbrechen – über den Mann, der seine Feinde auch auf der Toilette eliminiert
Verbrechen und Gewalt ziehen sich durch Putins Herrschaft. Als er die Ukraine angriff, sahen sich deutsche Politiker in ihm getäuscht. Sie wollten sich täuschen lassen. Aber warum? Eine Skandalgeschichte.

von Benedict Neff

Als die russische Armee am 24. Februar 2022 in die Ukraine einfiel, ist in Deutschland ein Weltbild zusammengebrochen. Wie konnte es sein, dass Wladimir Putin den Krieg zurück nach Europa brachte? Insbesondere die deutschen Sozialdemokraten konnten sich dies nur mit einer Täuschung erklären. «Er hat offensichtlich alle getäuscht», sagte Manuela Schwesig, die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern. Doris Schröder-Köpf meinte, das Gesicht Putins, «das wir heute sehen, war damals nicht erkennbar». Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gab zu, den «imperialen Wahn» Putins unterschätzt zu haben. «Da habe ich mich, wie andere auch, geirrt», erklärte er im Schloss Bellevue und gab seinen Ehrendoktortitel an die Uni Jekaterinburg zurück.

Geirrt, getäuscht, nicht gewusst – deutsche Politiker brachten sich in Sicherheit. Wenn ein Krieg unvorhersehbar ist und eine finstere Gestalt alle hinters Licht geführt hat, dann ist auch niemand schuld. Und alle können wieder in Ruhe ihren Ämtern nachgehen. Manche, wie der ehemalige deutsche Bundeskanzler und Gas-Lobbyist Gerhard Schröder, wollten sich aber nicht einmal getäuscht sehen. «I don’t do mea culpa. It’s not my thing», beschied er der «New York Times» in diesem Jahr. Schuldbekenntnisse sind nicht sein Ding. Der Befehl, in Butscha Zivilisten zu töten, sei nicht von Putin gekommen, wusste Schröder. Dass der russische Präsident ebenjene Soldaten mit Orden auszeichnete, schien ihm nicht erwähnenswert.

Eine Geschichte vom Ende her zu erzählen, ist immer leichter. Waren nicht überall Zeichen, die das künftige Verbrechen angedeutet haben? So überraschend die russische Invasion in der Ukraine gewesen sein mag, im Falle von Putin konnte sich kein Politiker Illusionen hingeben. Es sei denn, er ist mit einer Naivität geschlagen, die ihn für die Politik komplett untauglich macht. Oder er ist an aussenpolitischen und geostrategischen Fragen überhaupt nicht interessiert. Oder er versucht ein verbrecherisches Regime zu verharmlosen – aus politischen, wirtschaftlichen Interessen oder aus Sympathie. In der deutschen Russland-Politik kommen alle Faktoren zusammen.

Der Unbekannte

Wer ist Wladimir Putin? Zwei Monate vor seiner Wahl zum russischen Präsidenten wurde die Frage am Weltwirtschaftsforum in Davos in einer Diskussionsrunde aufgeworfen. Vier russische Experten, unter ihnen namhafte Politiker, sahen sich betreten an und schwiegen. Irgendwann lachte der ganze Saal. Denn niemand schien eine Antwort zu wissen. Damals war Putin für die Öffentlichkeit ein fast unbeschriebenes Blatt, eine Projektionsfläche. Genau dies brachte den ehemaligen Direktor des russischen Inlandgeheimdienstes FSB auch an die Macht. Der einflussreiche Oligarch Boris Beresowski sah in ihm einen folgsamen Bürokraten: Ein Mann ohne Gesicht oder mit einem Gesicht, in dem alle sehen konnten, was sie wollten.

Im Anfang aber steht schon die Gewalt. Putin, damals noch Ministerpräsident unter Boris Jelzin, lancierte seine politische Karriere mit dem zweiten Tschetschenien-Krieg. 1999 ereigneten sich in Moskau und weiteren russischen Städten Bombenanschläge mit Hunderten zivilen Opfern, für die die Regierung tschetschenische Terroristen verantwortlich machte. «Wir werden sie zur Strecke bringen. Wo immer wir sie finden, werden wir sie vernichten», sagte Putin an einer Pressekonferenz. «Selbst wenn wir sie auf der Toilette erwischen. Dann radieren wir sie eben im Klo aus.» Nicht nur die Politik schien sich zu ändern, auch die Sprache. Hier schien nicht ein künftiger Präsident zu sprechen, sondern ein Gangster.

In der Bevölkerung kam dieser Stil erstaunlich gut an, als hätten alle auf eine eiskalte Härte gewartet. Bis heute ist die Frage allerdings ungeklärt, ob Putin den Anlass für diesen Krieg nicht selbst inszeniert hat. Als der lokale FSB in einem Wohnhaus in Rjasan eine Hexogen-Bombe entschärft hatte, sprach der damalige russische Innenminister von einem vereitelten Attentat. Als jedoch publik wurde, dass die Sprengstoffsäcke von FSB-Mitarbeitern deponiert worden waren, bezeichnete der FSB-Chef den Vorfall plötzlich als eine «Übung», um die Wachsamkeit der Bevölkerung zu prüfen. In den Säcken habe sich auch nicht Hexogen, sondern Zucker befunden.

Einige Zeit später lud der Sender NTW die Bewohner des betroffenen Hauses ins Studio. Alle bezweifelten die Schilderung des FSB, bis auf einen Mann, der vorgab, ebenfalls in der Siedlung zu leben. Kaum ergriff er das Wort, erklärten die andern, sie hätten diesen «Nachbarn» noch nie gesehen. Dass der russische Staat die Anschläge gegen die eigene Bevölkerung selbst veranlasste, lässt sich nicht beweisen. Sicher ist, dass der Staat jegliche Aufklärung zum Vorfall unterbunden hat. Menschen, die sich genau mit dieser Frage beschäftigt haben, sind unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen.

Und so bewegt sich dieser Vorfall wie viele andere Verbrechen in Russland in der Sphäre des Unaufgeklärten. Vielleicht war Rjasan ein zynisches Experiment, um die Wachsamkeit der Bevölkerung zu prüfen. Vielleicht war es aber auch der misslungene Versuch, Hunderte Zivilisten in die Luft zu jagen, um die Macht zu konsolidieren und den Krieg gegen Tschetschenien zu rechtfertigen – und während der Plan bei den Anschlägen in Moskau und Wolgodonsk gelungen ist, ist er in Rjasan gescheitert.

Allein, dass dies Putin zuzutrauen ist, spricht für sich. Wer nichts zu verbergen hat, versperrt sich gemeinhin nicht einer unabhängigen Aufklärung. Aber daran hat die russische Regierung kein Interesse. Was ist die Wahrheit? Sie braucht in Russland keine objektiven Kriterien, wahr ist, was Putin verlauten lässt. «Unsere eigenen Wohnhäuser in die Luft jagen? (. . .) Das ist doch krank», sagt Putin. «Das ist nichts anderes als Teil des Informationskrieges gegen Russland.»

«Moskau schweigt»

Putin machte von Beginn an Politik mit Angst. Als sei das Land immer nur so stark wie der Schrecken, den es verbreitet – gegen innen und aussen. Eine Art Schlüsselszene muss für ihn gewesen sein, als im Januar 1990 Demonstranten vor dem KGB-Gebäude in Dresden randalierten. Der damalige KGB-Mitarbeiter Putin telefonierte und bat um Hilfe. Vom anderen Ende bekam er lediglich zu hören: «Wir können nichts unternehmen, solange wir keine Order aus Moskau haben. Und Moskau schweigt.» Irgendwann seien die sowjetischen Soldaten endlich eingetroffen, und die Demonstranten hätten sich verzogen. «Eines jedoch ging mir nicht aus dem Kopf», erzählt Putin: «‹Moskau schweigt.› Ich begriff, dass die Sowjetunion krank war. Es war eine tödliche Krankheit namens Lähmung. Eine Lähmung der Macht.»

Eine solche Ohnmacht galt es künftig zu vermeiden. Wenn man sich die ersten Dekrete anschaut, die Putin verabschiedete, so stehen sie im Zeichen der Restitution, des Militarismus und der Kontrolle. Mit dem ersten Dekret garantierte er seinem Vorgänger Jelzin Freiheit vor Strafverfolgung. Sodann rückte er ab von der alten Militärdoktrin, die einen Verzicht auf den Erstschlag vorsah. Fortan sollte der Einsatz der Armee auch proaktiv möglich sein, «wenn andere Mittel der Konfliktlösung erschöpft oder wirkungslos geworden sind». Die Reservisten mussten wieder Reserveübungen machen, die Buben mussten an den Schulen wieder Kalaschnikows auseinandernehmen, reinigen und zusammenbauen. Vierzig hohen Amtsträgern wurde das Recht eingeräumt, Informationen als geheim einzustufen. Einen Monat nach der Amtseinführung wurde das Militärbudget um 50 Prozent erhöht.

«Kursk»-Katastrophe: «Ich habe das Richtige getan»

Im ersten Amtsjahr war der Untergang des U-Boots «Kursk» in der russischen Barentssee für Putin ein Desaster. Das Boot war in einem miserablen Zustand, die Mannschaft schlecht ausgebildet, schliesslich explodierte ein Torpedo an Bord. Von 118 Soldaten überlebten 23. Diese sendeten mehr als zwei Tage lang verzweifelte SOS-Signale, ohne eine Rückmeldung zu bekommen. Putin machte derweil Ferien auf der Krim und lehnte jegliches Hilfsangebot aus dem Ausland ab. «Ich habe das Richtige getan», sagte er gegenüber den Medien nach langem Schweigen in Jalta. «Die Hinzuziehung von Nichtspezialisten aus anderen Bereichen oder die Anwesenheit hoher Amtsträger im Katastrophengebiet wäre keine Hilfe gewesen, sondern hätte die Arbeit eher behindert. Jeder sollte an seinem Platz bleiben.» Tatsächlich hätten die 23 Soldaten mit ausländischer Hilfe womöglich gerettet werden können.

Nach zehn Tagen kam es zum Treffen mit den Hinterbliebenen der Besatzung in Widjajewo. Den Anfang machte der Flottenkommandant Wladimir Kurojedow. «Glauben Sie, dass die Jungs noch am Leben sind?», fragte ein Journalist. Der Admiral: «Das ist eine gute Frage! Ich werde sie so direkt beantworten, wie Sie sie gestellt haben: Ich glaube immer noch, dass mein 1991 verstorbener Vater am Leben ist.»

Stunden später kam Wladimir Putin, im schwarzen Hemd und Anzug. Was Trauer hätte darstellen sollen, wirkte eher dubios. Den aufgebrachten Bürgern berichtete er: «Tragödien auf See hat es immer gegeben, auch zu einer Zeit, als wir in einem sehr erfolgreichen Land zu leben glaubten. Es hat immer Tragödien gegeben. Ich dachte allerdings nie, dass alles in einem solchen Zustand ist.» Ob Russland denn nicht über eigene Rettungstaucher verfüge, wollte jemand wissen. Putin: «Es ist nicht alles scheisse in diesem Land.»

Wenige Wochen später sass der russische Präsident in der Show des amerikanischen Talkmasters Larry King und wurde gefragt, was mit der «Kursk» geschehen sei. Putin blinzelte, grinste und sagte: «Sie sank.»

Die toten Kritiker

Die Geringschätzung von Menschenleben ist Teil von Putins Handschrift. Menschliche Opfer scheinen ihn nicht zu rühren. Es hat sie immer gegeben – und der Staat fordert nun einmal Opfer, die er dann zur Belohnung Helden nennt. Und doch wirkten diese Ereignisse und die Berichterstattung darüber für ihn nicht besonders vorteilhaft. Putin verstaatlichte darauf viele private Medien. Den Tycoon Beresowski, seinen einstigen Mentor, jagte er zum Teufel. Und so ging es vielen reichen und ambitionierten Leuten. 2003 wurde auch Michail Chodorkowski verhaftet und später zu zehn Jahren Haft verurteilt.

Der Oligarch hatte mit Yukos den effizientesten Rohstoffkonzern im Land geschaffen. Er kontrollierte damit wichtige Ressourcen, und er mischte sich zunehmend auch in die Politik ein, prangerte die Korruption an. Putin wusste, dass die Russen mit diesem schwerreichen Mann kein Mitleid haben würden. Im Gegenteil: Mit dem Schauprozess gegen Chodorkowski stellte Putin einen potenziellen Konkurrenten kalt, er brachte dessen Konzern unter staatliche Kontrolle, und darüber hinaus war das Ganze noch eine populistische Aktion, die seine eigene Beliebtheit stärkte.

Der Staat raffte die privaten Industriebetriebe zusammen, die ihm gefielen. Oppositionelle wurden abgehört, gegängelt und verprügelt. Journalisten verschwanden, Politiker wurden verhaftet oder ermordet. Hin und wieder wird ein Putin-Kritiker an einem natürlichen Herzinfarkt gestorben sein, aber die Häufung aller Fälle kann kein Zufall sein. 2006 wurde die berühmte Investigativjournalistin Anna Politkowskaja erschossen. Es war an Putins 54. Geburtstag. Drei Wochen später wurde Alexander Litwinenko in London mit radioaktivem Polonium vergiftet. Er schrieb mit Unterstützung von Beresowski an einem Buch über die Bombenanschläge in Russland im Jahr 1999. Für Litwinenko schien es keinen Zweifel zu geben, wer ihn auf dem Gewissen hatte. Bevor er ins Koma fiel, diktierte er: «Sie haben bewiesen, dass Sie genau der rücksichtslose Barbar sind, für den Ihre schärfsten Kritiker Sie stets gehalten haben.»

Die Journalistin Masha Gessen schreibt in ihrer Putin-Biografie: «Die simple und offenkundige Wahrheit ist, dass Putins Russland ein Land ist, in dem politische Gegner und unbequeme Kritiker häufig ermordet werden. Zumindest manchmal kommt der Befehl zum Mord direkt aus dem Büro des Präsidenten.»

Gessens Biografie «Der Mann ohne Gesicht» stammt aus dem Jahr 2012. Sie zeigt, was man schon lange vor der russischen Annexion der Krim und der Invasion in der Ukraine wissen konnte, wenn man es denn wissen wollte. In Deutschland verklärte man Putin aber unbeirrt weiter. Seine Rede im Deutschen Bundestag von 2001 schien auch noch zwanzig Jahre später jedes Verbrechen zu überstrahlen. «Russland ist ein freundliches europäisches Land», sagte Putin. Den Kalten Krieg erklärte er für beendet. Die «Süddeutsche Zeitung» vermeldete begeistert, Putin habe «den Reichstag im Sturm» genommen.

Mochte Putin in Russland veranstalten, was er wollte, in Deutschland durfte er ein «lupenreiner Demokrat» sein (Gerhard Schröder). Aber auch die Amerikaner sahen ihn lange zu gnädig. George W. Bush sagte nach seinem ersten Treffen mit Putin 2001: «Ich habe dem Mann in die Augen gesehen. Ich halte ihn für direkt und vertrauenswürdig. Ich war in der Lage, einen Eindruck von seiner Seele zu gewinnen.» Und selbst der amerikanische Präsident Barack Obama attestierte Putin 2009 immerhin 50 Prozent guten Willen. Der Russe erledige eine Angelegenheit mit dem einen Fuss nach der alten Methode, mit dem anderen nach der neuen, meinte Obama. Was Putin mit den Worten quittierte: «Wir machen nicht die Beine breit.»

Die diplomatischen Charmeoffensiven aus Russland schienen stets stärker gewichtet zu werden als die russische Repression gegen innen und die Kriegsverbrechen in Tschetschenien. Letztere haben im Westen nie die Aufmerksamkeit erlangt, die sie verdient hätten. Das lag auch an Putin, der die Terroranschläge von 2001 in New York geschickt instrumentalisierte und den Krieg in Tschetschenien als Anti-Terror-Operation darstellte. Ganz auf Linie mit dem Westen.

Beslan: Mit dem Willen zur Katastrophe

Daneben versammelte Putin liberale Wirtschaftsexperten wie Andrei Illarionow um sich und gaukelte dem Westen damit vor, er sei am Aufbau einer freien Marktwirtschaft. Diese Feigenblätter kamen vor allem in den amerikanischen Medien hervorragend an. Es gab also tatsächlich russische Täuschungsversuche, doch liessen sich diese mit einem Blick auf die russische Wirklichkeit leicht entlarven.

2002 blockierten tschetschenische Geiselnehmer das Dubrowka-Theater in Moskau. Spezialeinheiten des FSB pumpten vor der Stürmung Gas in das Theater. 125 Zivilisten starben an den Folgen des Einsatzes, unter anderem weil sie von den Einsatzkräften falsch oder gar nicht versorgt wurden und vor dem Theater an ihrem eigenen Erbrochenen erstickten.

Zwei Wochen später erkundigte sich ein Journalist bei einer Pressekonferenz in Brüssel, ob Putin vorhabe, in Tschetschenien die Zivilbevölkerung mit Splitterbomben auszurotten. Putin: «Wenn Sie bereit sind, ein radikaler Islam-Anhänger zu werden und sich beschneiden zu lassen, dann möchte ich Sie einladen, nach Moskau zu kommen. Wir sind ein Land, in dem es viele Glaubensrichtungen gibt. Wir haben Spezialisten für so etwas. Ich werde anregen, die Operation so auszuführen, dass dort nie wieder etwas wächst.»

Gleich rabiat wie bei der Stürmung des Dubrowka-Theaters gingen die russischen Spezialeinheiten im Falle der Schule von Beslan vor, die nordkaukasische Terroristen 2004 in ihre Gewalt gebracht hatten. Bei der planlosen Befreiungsaktion handelten die Spezialkräfte wieder nach der Maxime «keine Angst vor Verlusten und Hauptsache, hart durchgreifen». Unter anderem schossen sie mit Panzern gegen die Schule. Über 300 Menschen kamen ums Leben, die Mehrzahl von ihnen Kinder.

«Als die Geiselnahmen stattfanden, taten die unter Putins direktem Befehl handelnden Einsatzkräfte der Regierung alles, um Katastrophen herbeizuführen», schreibt Gessen. Der Sinn dahinter: den immer dominanteren Staat, die Repression im Innern und die Gewalt in Tschetschenien zu rechtfertigen. Putin benutzte Beslan für eine Reihe von Gesetzen, um die Macht weiter auszubauen.

Putins Wirtschaftsweiser Illarionow zog sich 2004 aus der russischen Politik zurück, die Geiselnahme von Beslan nannte er seinen Wendepunkt.

Mit der Wahl von Dmitri Medwedew 2008 zum Präsidenten verband die russische Elite gewisse Hoffnungen, doch die Wahl war nur Teil eines pseudodemokratischen Spiels. Spätestens als Putin 2012 als Präsident zurückkehrte, hätten die Letzten merken können, dass es ihm um die eigene Macht und nicht um eine Liberalisierung und Demokratisierung des Landes geht.

Der Anti-woke-Präsident

Ab 2012 blies Putin verstärkt zum Kulturkampf: Die Regierung verunglimpfte Homosexuelle und pries daneben die angeblich richtigen Russen, Menschen mit sogenannt traditionellen Werten. «Wir werden danach trachten, Führer zu werden», verkündete Putin – und meinte damit, dass Russland ein Gegenmodell zu dem als dekadent empfundenen Westen sein solle. Die «kastrierte und unfruchtbare Toleranz» des Westens wurde zum Feindbild. Putins imperialistische Vorstellungen drängten zur Verwirklichung in Georgien und mit der Annexion der Krim. Die militärische Unterstützung des Diktators Asad in Syrien rundet das Bild eines nicht eben freundlichen Nachbars ab.

Tod und Gewalt im Zeichen des russischen Imperialismus werden als sinnstiftend gedeutet. 2022 sagte Putin zu den Müttern gefallener Soldaten, dass der Tod ihrer Söhne einen Sinn gehabt habe. Ihr Leben sei «sichtbar» gewesen und habe deshalb sein Ziel erreicht. Ganz anders das «unsichtbare» Leben all derjenigen, die bei Unfällen oder durch Alkohol gestorben seien.

Die Naiven und die Kollaborateure

Wie konnte die deutsche Politik dies alles ausblenden? Nur aus einer Kombination vieler Faktoren: wirtschaftliches Interesse an billigem Gas, gepaart mit einem Desinteresse an geostrategischem Denken. Die deutsche Regierung war unermüdlich darin, zu erklären, dass es sich bei der Nord-Stream-2-Pipeline nur um ein privatwirtschaftliches Projekt handle – und nicht um eine geostrategische Waffe. Und die Deutschen schienen es noch mehr zu glauben, als der damalige amerikanische Präsident Donald Trump vor dem Pipeline-Bau warnte. So ist auch der deutsche Antiamerikanismus eine Komponente in dieser Geschichte: Viele deutsche Politiker trauen noch lieber Russland als Amerika. Handel durch Wandel, ein dritter Weg zwischen Ost und West – solche deutschen Selbstbeschwörungen führten mit in die Katastrophe.

Ihren historischen Schuldkomplex haben viele deutsche Politiker seltsamerweise sehr einseitig auf Russland bezogen, während sie die Sorgen und Ängste der Polen, Balten und Ukrainer nicht ernst nahmen, obschon Deutschland auch diese Länder im Zweiten Weltkrieg in grausamer Weise versehrt hat. Aber was interessieren die kleinen Länder? Es spielte die deutsch-russische Achse.

Diese Aspekte werden im Buch «Die Moskau-Connection» von Reinhard Bingener und Markus Wehner treffend analysiert. Die Autoren kommen zu dem Schluss, das Schröder und die beiden SPD-Aussenminister Steinmeier und Gabriel die anschwellende Aggressivität Russlands «verkannt, verharmlost, streckenweise sogar negiert» haben. Die merkwürdige Nähe dieser Politiker zu ihren russischen Kollegen ist auch in zahlreichen Bildern eingefangen. Fast zärtlich fasste man sich an den Ellbogen, an die Schultern.<

Merkel macht auch kein «mea culpa»

Gerade Schröder bildete sich auf seine Nähe zu Putin viel ein, seine Versuche, im Ukraine-Krieg als Friedensstifter zu wirken, blieben aber erfolglos. Seine Funktion als russischer PR-Agent war erfüllt, sein Einfluss vorbei. Am Ende war auch er nur einer von Putins nützlichen Idioten. Die drei SPD-Granden – Schröder, Steinmeier, Gabriel – stehen letztlich aber auch nur in der Tradition ihrer Partei. So zeigte etwa auch der ehemalige SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt Verständnis für die russische Annexion der Krim, da er die Ukraine ohnehin nicht für einen eigenen Nationalstaat hielt.

Die Hauptschuld liegt bei den Sozialdemokraten, allerdings waren abgesehen von den Grünen und dem Gros der FDP alle deutschen Parteien Teil des Problems. Die CSU-Ministerpräsidenten flogen eifrig nach Moskau. Beim Abschiedsbesuch von Edmund Stoiber nahm sich Putin fast vier Stunden Zeit. Bundeskanzlerin Angela Merkel war weniger naiv als ihre SPD-Kollegen, aber sie liess sich deren Anbiederungspolitik gefallen. Und ähnlich wie Schröder hat auch sie keine Lust auf «mea culpa»: «Diplomatie ist ja nicht, wenn sie nicht gelingt, deshalb falsch gewesen. Ich werde mich deshalb auch nicht entschuldigen.» Bingener und Wehner fordern in ihrem Buch zu Recht einen Untersuchungsausschuss: «Im Kern geht es um die Frage, wie sich Deutschland und andere europäische Staaten so lange Illusionen über das Machtsystem Wladimir Putins hingeben konnten, obwohl dessen Brutalität und aggressiver Charakter offen zutage traten.»

Neue Putin-Freunde

Natürlich sind auch jetzt nicht alle Illusionen zerschlagen. Oder muss man eher sagen: Der böse Wille ist weiterhin am Werk? Die Lust, in Putin alles zu erkennen, nur nicht den Verbrecher, ist unermüdlich. Die SPD bewahrt sich Reminiszenzen ihrer Putin-Freundschaft, indem sie der Ukraine nur zögerlich hilft. Die neuen Russland-Freunde sind nun aber zuvorderst bei den Rechtspopulisten zu finden, bei Parteien wie der AfD und der SVP.

Putins Anti-woke-Politik scheint manche Politiker im Westen so zu beeindrucken, dass sie bereit sind, über Tausende Tote und eine Politik, die die Freiheit verachtet, hinwegzusehen. Das zeigt sich auch in der Schweiz. Der SVP-Nationalrat Roger Köppel sieht in Putin «eine wandelnde Kriegserklärung an den Zeitgeist, an die ‹Woke›- und ‹Cancel-Culture›». Die westlichen Intellektuellen und Politiker würden ihn mit einer «panischen Feindseligkeit» bekämpfen, weil sie in dem «Polit-Macho» eine Bedrohung ihres Weltbildes sähen.

Ein Ausrutscher, unmittelbar vor der russischen Invasion in der Ukraine geschrieben, wo manche es eben noch nicht besser wussten? Nein. Im April reiste Köppel nach Russland und verfasste den Text «Frühling in Moskau». «Als wir vor dem Hauptsitz des Geheimdiensts FSB, einst KGB, der Lubjanka, ein Interview drehen, kommt ein Uniformierter fast entschuldigend auf uns zu, wir möchten doch bitte etwas Abstand halten, um die Privatsphäre der Angestellten, die da durch die Türe kommen, zu schützen. Fast scheint es, als habe der Uniformierte vor den Ausländern mehr Respekt als umgekehrt», schreibt Köppel. Die Putin-Verharmlosung lebt weiter.


Masha Gessen: Der Mann ohne Gesicht. Wladimir Putin: Eine Enthüllung. Piper, München 2012. 400 S., Fr. 18.90.
Reinhard Bingener, Markus Wehner: Die Moskau-Connection. Das Schröder-Netzwerk und Deutschlands Weg in die Abhängigkeit. Verlag C. H. Beck, München 2023. 304 S., Fr. 26.90.

Putins Sackgasse.
"Der Krieg stärkt Putins Macht – es wird mit ihm keinen Frieden geben, weil er einen solchen gar nicht will.
"Die Befürworter von raschen Friedensverhandlungen zwischen Kiew und Moskau gehen von der Prämisse aus, dass Putin Friede anstrebt. Tatsächlich aber führt er einen Vernichtungskrieg, und der Krieg sichert seine Herrschaft auf eine für ihn unabdingbare Art und Weise."
Rudolf G. Adam in Neue Zürcher Zeitung, 6. 5. 2023

Vor Jahr und Tag habe ich vorausgesagt, dass Putin eine aggressive Außenpolitik verfolgen wird, weil er gar nicht anders kann. Die Mechanik der bonapartistischen Regierungs-weise lässt gar keine andere Wahl: Der Oberste Schiedsrichter ist an die Macht gekommen und, was wichtiger ist, hält sich an der Macht, weil die gesellschaftlichen Kräfte im Innern zu heterogen und zu zersplittert sind, um gesellschaftlich, nicht parlamenta-risch mehrheitsfähige Allianzen aushandeln zu können, die sich - und sei's nur vorübergehend - auf einen gemeinsamen Plan verständigen können. Die Mechanik des Systems beruht darauf, sie stets in Bewegung zu halten und gegeneinander in Stellung zu bringen und an oberster Stelle dafür zu sorgen, dass sie einander nahezu ausgleichen, so dass ein Schiedsrichter auftreten muss und kann, als halte er die Gesellschaft in Bewegung, indem er ihr eine Richtung weist.


Das Arsenal kleinerer innerer Konflikte ist begrenzt, weil größere Zusammenstöße ja vermieden werden müssen, und so kann die Bewegung, jedenfalls auf Dauer, nur nach außen gerichtet werden. 

Dass er allen Ernstes einen souveränen Nachbarstaat mit Panzern überfallen würde, habe ich für so unmöglich gehalten wie irgendwer. Aber dass Russland unter ihm jedenfalls keinen Frieden geben würde, war mir klar. 

Die Sowjetunion war in ihren letzten Jahrzehnten kein Friedenslager, aber immerhin eine hochgerüstete Kraft der Stagnation, ein Hort der Reaktion eher als ein ausgleichender Faktor. Russland unter Putin ist dagegen der Kriegstreiber, als den die antikommunistische Propaganda die Sowjetunion bis zu Schluss dargestellt hat.

*

Wenn Rudolf Adam meint, dass Putin gar keinen Frieden wollen kann, weil er den Krieg braucht, kann man ihm nur zustimmen. Der Haken ist der: selbst einen Siegfrieden nicht! Siege aber braucht er, wenigstens ab und zu, sonst kann er die Gesellschaft nicht in der Bewegung halten, die sie für ein dauerhaftes Gleichgewicht braucht. Er wird früher oder später scheitern. Und wir müssen alles daran setzen, dass es früher geschieht als später, und nicht erst, wenn die russische Armee ausgeblutet und die Ukraine verwüstet ist.
7. 5. 2023


Groß-Eurasien: Die russische Alternative zum Abendland.

aus nzz.ch, 8. 5. 2023                        Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs machten Deutschland und Russland gemeinsame Sache, zum Beispiel im Polenfeldzug                                         zu öffentliche Angelegenheiten

Die toxische Ideen-Saat der deutschen Demokratieverächter aus den 1920er Jahren geht nun in Putins Russland auf.
Auf dem Boden der Weltkriegsniederlage entfaltete sich in Deutschland nach 1918 ein antiwestliches Gebräu aus Nationalismus und Ressentiment. Russland wurde zur Utopie von Fortschrittsgegnern und der Westen zum Inbild der Dekadenz.


von Annette Werberger

Der Artikel von Catherine Belton, Souad Mekhennet und Shane Harris in der «Washington Post» über die Versuche des Kremls, eine deutsche Antikriegs-koalition aus russlandfreundlichen linken und rechten Kräften in der bundesrepublikanischen Politik zu schmieden, offenbart, dass Deutschland weiterhin ein zentraler Bezugspunkt russischer Geopolitik ist.

Deutschland galt und gilt als wichtigster europäischer Baustein für Putins Projekt eines echten eurasischen Europa von Lissabon bis Wladiwostok. Dieses wurde von russischen Politiktechnologen und Ideologen immer wieder propagiert, um die verhassten ‹Angelsachsen› mit ihrem dekadenten Liberalismus und ihrem Rechtssystem vom europäischen Kontinent zu vertreiben. Russische Vorstellungen eines solchen «alternativen Europa» der Volksdiktaturen tragen damit die dunkle Saat des späteren Hitler-Stalin-Pakts in das 21. Jahrhundert hinein.

Russland bzw. Sowjetrussland war in den 1920er Jahren schon einmal Kristallisationspunkt für eine solche randständige, radikale Form der Europakritik, die Krisen nicht zu überwinden sucht, sondern diese schürt und ausbeutet. Der Historiker Fritz Stern hat den Hintergrund dieses politischen Denkens 1961 unvergleichlich präzise in «Kulturpessimismus als politische Gefahr» dargestellt. Er beschrieb darin eine deutsche Denktradition der Weimarer Republik, in der Russland zum Sehnsuchtsort für Demokratieverächter aufstieg. Ein antidemokratisch gedachtes Europa der zwei «Kulturnationen» Russland und Deutschland wurde gegen ein Europa der Institutionen, Parlamente und Regeln in Anschlag gebracht.

«Geopolitik des Geistes»

Die zentrale Person, die diese Ideologie des Ostens in Weimar vertrat, war Arthur Moeller van den Bruck (1876–1925), der Herausgeber der roten Dostojewski-Ausgabe bei Piper und Verfasser des berüchtigten Buchs «Das dritte Reich» von 1923. In neurechten Kreisen ist auch sein Aufsatz «An Liberalismus gehen die Völker zugrunde» von 1922 sehr beliebt.

Moeller van den Bruck war ein emphatischer «Ostländer», der den Osten mit Russland gleichsetzte. Er kam aus der Kultur- und Kunstgeschichte, politisierte sich nach dem Ersten Weltkrieg, den er wie viele Nationalisten als Betrug verstand, und wurde zu einem wichtigen Vertreter der Konservativen Revolution in Deutschland. Sein ästhetisches, formbewusstes Verständnis der Moderne tendierte dazu, geschlossene politische Zukunftsszenarien zu entwerfen. Er schrieb gewissermassen aus dem preussischen Berlin über die Welt im Habitus einer «Geopolitik des Geistes» (Stern), für die er nur wenig Wirklichkeit benötigte.

Der Publizist Arthur Moeller van den Bruck, 1876–1925.

Zu Russland kam er über Dostojewski. Dieser war Moellers Vorbild für die Idee, die «ideologische Zukunft Europas in der antiliberalen Gemeinschaftskultur Russlands» (Stern) zu sehen. Russland war zu Beginn des 20. Jahrhunderts allgemein in Mode gekommen. Plötzlich gab es überall Tolstoianer und Verehrer der russischen Mystik wie etwa Rainer Maria Rilke.

Moeller sammelte Bausteine für ein Russland als imaginäre Gegenwelt zum Westen. Dazu gehörten Dostojewskis missionarischer Nationalismus, der Europa aus westlicher Dekadenz und Antichristentum erlösen sollte, die antimoderne russische Mystik oder Versatzstücke des orthodoxen Gemeinschaftsdenkens, dem sich der Einzelne zu unterwerfen hat.

Die russische Exilkultur der monarchistischen «Weissen» prägte dieses Russlandbild später mit – darunter auch einige Texte von Professor Doktor Iwan Iljin, dem deutsch-russischen Lieblingsphilosophen von Wladimir Putin, der Ende der 1920er Jahre die russische Zeitschrift «Russische Glocke» in der Augsburgerstrasse 56 am Berliner Kurfürstendamm herausgab.

Die Idee eines völkischen Europa

Während der Westen bei Moeller für «Amerikanisierung», Individualisierung und Kapitalismus stand, brachte er in seiner auf dem Volkskörper beruhenden Russlandvorstellung sogar die junge Sowjetunion und Lenins Parteidiktatur unter. Der Bolschewismus in Russland war für ihn nur ein Übergangsphänomen auf dem Weg zu einem völkischen Europa mit deutsch-russischem Zentrum. Russland und Deutschland gehörten für Moeller zu den jungen Kulturnationen, die die Zukunft bestimmen würden. Frankreich und England hingegen waren alte Nationen, ebenso wie die jungen USA wegen ihrer Parteinahme im Weltkrieg.

Für die französischen Menschenrechte, die angelsächsische Tradition der parlamentarischen Institutionen und «Checks and Balances» hatte er nur Verachtung übrig und sah sie als ein überkommenes Modell, das dem Tode geweiht war. Für Moeller van den Bruck sass trotz seinem ideologischen Abstand zum Bolschewismus der Feind im Westen und der Freund im Osten.

Eine ähnlich ausgerichtete Parteibewegung mit deutsch-russischer Grundierung entstand parallel im Nationalbolschewismus der Weimarer Republik, in dem sich kommunistische und nationalistische Kräfte vereinigten, die in der Diktatur die Zukunft und im Liberalismus als «zersetzende Kraft» den Feind sahen.

Der Nationalbolschewist Ernst Niekisch etwa versuchte, den preussischen Staat als Verbindung von deutschen und slawischen Elementen zu konzipieren. Auch Moeller schrieb zu Beginn der 1920er Jahre mehrere Aufsätze über diese mögliche Allianz. Im Juni 1921 imaginiert er in der jungkonservativen Zeitschrift «Das Gewissen» eine mögliche «Achse» zwischen Revolutionären und Konservativen gegen den individualistischen Liberalismus, der nur «durchseucht und zersetzt» und Parlamentarismus als «Schutzform» betreibe. Wenn die Linken das Nationale ernst genug nehmen könnten, würde man sich bei der Form der Diktatur schon einig werden, so sein Kalkül.

Ernst Niekisch

Thomas Mann, der die Zeitung ebenfalls las, lässt seine Figur Serenus Zeitblom im Roman «Doktor Faustus» 1947 über die 1920er Jahre erklären, dass Russland ein «Bruder im Leide» gegen die «Mächte sei, die uns den Fuss in den Nacken setzen». Thomas Mann glaubte selbst einmal an die Wahlverwandtschaft der besonderen deutsch-russischen «Menschlichkeit». In seinen «Betrachtungen eines Unpolitischen» (1918) verbindet er autoritären Russland-Kitsch mit den von Dostojewski inspirierten Thesen vom Russen als dem «menschlichsten Menschen», der schon von Natur aus christlich-kommunistisch sei und Brüderlichkeit vor Freiheit stelle. Das «patriarchale-theokratische Selbstherrschertum» wäre deswegen die geeignete russische Staatsform. Ein Gedanke, der im heutigen Russland neue Popularität erfährt.

Nationalismus und Ressentiment

Klagen über Verluste oder verlorene Traditionen gehören zur Fortschrittsverheissung der Moderne. Wenn sie zum Antrieb einer Politik des Ressentiments werden, zerstören sie freilich alles, was sich ihnen in den Weg stellt. Moeller und andere deutsche Intellektuelle propagierten diese Form der revanchistischen, radikalen Antipolitik in der Zwischenkriegszeit. Man ersparte sich damit Reflexion und Fehleranalyse zur Vergangenheit.

Die Ideen dieses Dunkeldeutschlands wanderten Jahrzehnte später nach Russland. Mitte der neunziger Jahre und vor allem mit Putins Amtsantritt begann die russische Politik mit den Mitteln von Nationalismus und Ressentiment zu agieren. Radikale Kräfte in der Russischen Föderation interpretierten die Auflösung der Sowjetunion 1991 als Betrug des Westens und Demütigung. Übersetzungen von Moeller van den Brucks «Das dritte Reich» erschienen in den nuller Jahren fast parallel zu Michail Jurjews Machwerk «Das Dritte Imperium» (2006), das deutlich Anklänge an nationalbolschewistischen Ideen zeigt und in dem Berlin als westliche Hauptstadt dieses Imperiums firmiert.

Eduard Limonow 

Literatur erspürt und beschreibt oft zuerst die Empfänglichkeit von Gesellschaften für bestimmte Ideen. Auch der Schriftsteller Eduard Limonow, den viele im Westen als schrägen Punk-Autor und avantgardistisches Enfant terrible betrachteten, präfiguierte in seinen Romanen und in seinem Leben viele Entgleisungen der heutigen Propagandisten im russischen Fernsehen sowie die Gewaltexzesse der russischen Militärführung, auch wenn er sich in den letzten Jahren als Oppositioneller gab. Nach Weimarer Vorbild schuf er 1992 in der Russischen Föderation prominent die national-bolschewistische Partei samt rotbrauner Insignien, in welcher der Dichter und Militarist Sachar Prilepin und der Ideologe Alexander Dugin Mitglieder wurden.

Das Verbot der Partei richtete sich eher gegen deren Unkontrollierbarkeit als gegen die Ideen selbst. Nur die Ukrainer liessen sich von diesem in Charkiw aufgewachsenen Propagandisten des Grossrussentums nie in die Irre führen und nahmen seine antiukrainischen Aktivitäten und imperialistischen Drohungen ernst. Weil Limonow der Ukraine das Existenzrecht absprach, war er ebenda bis zu seinem Tod 2020 auch aufgrund seiner militärischen Aktivitäten verachtet. Derweil machte man im Westen Bücher und Filme über ihn, als sei er ein Pop-Star, der ein paar Kunsttabus bricht.


Das deutsch-russische Unternehmen des Nationalbolschewismus scheitert an der brutalen Realität des «Dritten Reichs», das der konservative Revolutionär Moeller, der 1925 Suizid begangen hatte, selbst nicht mehr erlebte. Verantwortung für die Wirkung dieser Ideen tragen er und seine Mitstreiter dennoch. Fritz Stern fragt deswegen am Ende seines Buches zu Recht: «Kann man der Vernunft abschwören, die Gewalt verherrlichen, das Zeitalter des unumschränkten Machthabers prophezeien, alle bestehenden Institutionen verdammen, ohne damit den Triumph der Verantwortungslosigkeit vorzubereiten?»


Annette Werberger lehrt osteuropäische Literaturen an der Europa-Universität Viadrina und forscht im BMBF-Forschungskolleg «Europäische Zeiten».


Nota. - Vor acht Jahren schrieb ich, dass sich Putin zum Gefangenen der großrussischen Chauvinisten gemacht habe und Mühe hätte, sie wieder loszuwerden. Das muss er gelesen haben, jedenfalls hat er aus seiner Not eine Tugend gemacht und sich selbst an ihre Spitze gesetzt. Die neuentstandene Gattung der Kremlastrologen hatte schon lange geunkt, er habe dort seine neue ideologische Heimat gefunden. Ob so oder so, wenn er sich nicht vollends die Hände binden und als bloßer Korken auf dem feudal-bürokratischen Sumpf-loch treiben wollte, musste er sich ein eigenes Profil geben, mit dem er Leute mobilmachen konnte, die bereit wären, gegebenenfalls ihr Leben für ihn einzusetzen - die aber mit einem kleinen Pöstchen nicht zufriedenzustellen sein würden, sondern ganz große Posten von ihm erwarteten.

Vielleicht war die Annexion der Krim ja wirklich nur ein leichtfertiges Abenteuer gewesen, als sein Ansehen im Keller war und die Sache weltpolitisch wenig riskant erschien. Doch wer A sagt, muss auch B sagen und sein "Plan" wäre ihm pragmatisch zugewachsen, und mit weniger als einem eurasischen Großreich kann er sich nicht mehr begnügen. Will sagen, mit der Ukraine jedenfalls nicht. 

Damit wird er nie durchkommen, das glaub ich auch. Hitler ist schließlich auch nicht durchgekommen, aber heute weiß jeder: Spätestens bei der Resttschechei hätte ma Mai 2023n ihn stoppen müssen.


PS. Dass sich übrigens China am Ussuri-Fluss, 'den sie Wussuli nennen', dauerhaft aufhalten lassen will, kann ich mir kaum vorstellen.
8. 5. 2023



Ein Welt-Krieg in der Ukraine.

                                                               zu öffentliche Angelegenheiten

Egal wie Putins Krieg ausgeht, ob er kommt mit einem blauen Auge davonkommt oder ver-sinkt im Orkus: Das Ergebnis wird sein Russland als eine Satrapie Chinas. Wenn er die Zer-stückelung Restrusslands verhindern wollte, hat er's am falschen Ende angefangen. Denn an der ist dem infamierten "Westen" viel weniger gelegen als einem Fernen Osten. Dort aber wird sich Japan China gegenüber bald so wiederfinden, wie seinerzeit gegenüber den Vereinigten Staaten - die es heute als Verbündeten braucht.

Unabhängig davon darf  Putin nicht mit einem blauen Auge davonkommen. Denn daraus würde nur China einen Vorteil ziehen. Und das wäre das Ende eines Anfangs.

16. 1. 2023



Das sicherste Mittel, ihn zu weiterem Zocken zu verleiten...


...wäre, jetzt zurückzuweichen.

29. 9. 2022



Putins Erbe: Was zurückblieb von der Sowjetgesellschaft.


aus nzz.ch, 21. 9. 2022

Die russische Wirtschaft taumelt, und die Bürokraten und Apparatschiks wollen es nicht wahrhaben. 
Doch das Scheitern des Putin-Modells ist eine gute Nachricht
Die Sanktionen und das Kriegsregime sind ein weiterer Meilenstein auf dem langen Abstieg Russlands.


von Christian Steiner

Wer schadet hier eigentlich wem? Für Wladimir Putin ist klar: Die Europäer begehen mit ihren Sanktionen regelrecht «wirtschaftlichen Selbstmord». Nun ja. Nach mehr als einem halben Jahr Krieg mit Sanktionen und Gegensanktionen kann man konstatieren, dass sich der Schaden in Europa wohl in Grenzen hält. Die Wirtschaft wächst, und man wird den Winter auch ohne russisches Erdgas überstehen.

In Russland hingegen kann man gerade beobachten, wie sich ein vormals in die globalen Wertschöpfungsketten eingebundenes Land abkapselt. Im Kleinen ist das in den Bars zu spüren: Whiskey-Importe sind um die Hälfte zurückgegangen. Derzeit versuchen Händler in Kneipen und Klubs leere Flaschen von ausländischen Spirituosen aufzukaufen, um diese wieder zu befüllen und an den Mann zu bringen. Man könne sich glücklich schätzen, wenn einen diese Produkte nicht krank machten oder töteten, heisst es in der Boulevardzeitung «Moskowski Komsomolez».

Wenn ausländische Unternehmen Russland verlassen, schmerzt das doppelt

Doch es fehlt nicht nur an importierten Gütern. Hunderte von ausländischen Firmen haben das Land verlassen und ihr Russlandgeschäft aufgegeben. Mit ihnen verschwinden nicht bloss die Markennamen und Produkte, sondern auch viel Wissen darüber, wie man Geschäfte führt. Die ausländischen Besitzer brachten moderne Managementtechniken ins Land und haben für mehr Kontrolle gesorgt. Die nun eher schlecht als recht zusammengezimmerten Nachfolgefirmen können das so nicht.

Zu den bekanntesten Unternehmen, die gehen, zählt Ikea. Der schwedische Möbelbauer war mehr als nur ein Geschäft. Mit seinen Produkten wurde die sowjetische Wohnung «entrümpelt», sie galten im Land als Statussymbol und Zeichen des neuen Wohlstands Anfang der 2000er Jahre. Der Weggang der Schweden stellt für Russland eine Zäsur dar, die die Menschen in ihrem Alltag merken.

Alles kein Problem? Das meint zumindest die russische Strafvollzugsbehörde. Die Gefängnisse kündigten grossspurig an, dass sie der Bevölkerung ihre geliebten Billy-Regale zurückgeben würden. Die Behörde meint im vollen Ernst, Ikea ersetzen zu können: «Die Möbel, die wir herstellen, sind von besserer Qualität und billiger», so lassen sich die Gefängniswärter in einem Zeitungsartikel zitieren. Doch mehr als ein frommer Wunsch ist das nicht.

Was wie ein Scherz klingt, ist derzeit die schöne neue Welt der russischen Wirtschaft. Je stärker die ausländischen Sanktionen wirken, desto verkrampfter klingen die Durchhalteparolen der Bürokraten und Günstlinge im Kreml. Wie die Papageien wiederholen sie, wenn ein westliches Unternehmen das Land verlässt: «Sollen sie doch! Wir können das selber sowieso besser, günstiger und schöner.»

Doch anders als die grossen Worte vermuten lassen, ist Russland nicht auf dem Weg in eine glorreiche Zukunft, sondern zurück ins 20. Jahrhundert mit Autos ohne Airbags, Flugzeugmodellen, die schon längst ausgemustert wurden, und anderen Scheinlösungen. Dafür aber aus russischer Produktion. Es ist gerade die Zeit der Grossmäuler und des Sichdurchwurstelns. Doch wer es wagt, dies auszusprechen, befindet sich schon längst im Ausland, muss schnellstens dorthin flüchten oder stürzt, wie der Chef des Konzerns Lukoil, der sich erdreistete, den Krieg zu kritisieren, unter mysteriösen Umständen aus einem Fenster.

Es fehlt an allen Ecken und Enden

Die Produktion im Land ist stark zurückgegangen, weil die Unternehmen keine Komponenten importieren können. Dies zeigt beispielhaft die Automobilindustrie, die 80 Prozent weniger Fahrzeuge als noch vor einem Jahr herstellt. Die Firmen werden derzeit noch angehalten, nicht zu viele Menschen zu entlassen, weil dies zu sozialen Spannungen führe.

Doch auch der Export harzt. Die metallurgische Industrie läuft mit halber Kraft. Zwar könnten die Werke mehr produzieren, doch da sie den Stahl nur in Russland verkaufen können, fehlen ihnen die Abnehmer. Die Europäer kaufen nichts mehr, und der Schwenk nach Osten verläuft sehr langsam. In der Metallurgie sind über eine halbe Million Menschen tätig. Viele von ihnen arbeiten in Monostädten, die nur einen einzigen grossen Arbeitgeber kennen. Verlieren viele von diesen Arbeitern ihren Job, droht Ungemach.

Die einzige Antwort, die man in Russland auf die Sanktionen hat, ist mehr Staat und mehr Dirigismus. Verlässt eine Firma das Land, springt fast immer Väterchen Staat ein. Dies schaltet auch noch das letzte bisschen an Innovationskraft aus. Diese Unsicherheit spüren auch die Konsumenten. Die Russen haben in den Überlebensmodus geschaltet. Es wird weniger eingekauft, und man versucht sich möglichst auf noch Schlimmeres vorzubereiten. Die Detailhandelsumsätze sind auf das Niveau von 2008 zurückgegangen.

Was für Putin aber noch schlimmer sein muss, ist, dass der Westen endlich sieht, dass die russische Wirtschaft unter seiner Ägide zu einem Scheinriesen geworden ist. Von weitem betrachtet, wirkt die alte Supermacht mit all ihren Rohstoffen und 140 Millionen Konsumenten wie eine grosse Wirtschaftskraft. Doch wer näher hinschaut, erkennt nur den verblichenen Glanz der Vergangenheit, viel Korruption, Misswirtschaft und eine spezielle Art des Staatsdirigismus. Das grosse Russland hat in der Weltwirtschaft bloss das Gewicht Südkoreas, und es fehlt an einer Idee für die Zukunft.

Das grosse Problem ist, dass Putin auch keinen Plan braucht. Neben dem Ausgeben von Durchhalteparolen macht der Kreml das, was er muss, um an der Macht zu bleiben. Dies bedeutet, dass die sogenannten Silowiki bei der Stange gehalten werden. Diese Kaste aus hochrangigen Vertretern von Militär, Geheimdiensten und Polizei darf sich weiter am Staatseigentum bedienen, Bestechungsgelder kassieren und unliebsame Konkurrenz ausschalten. Solange das Geld für den Sicherheitsapparat reicht, wird sich die Putin-Regierung an der Macht halten können. Den Preis zahlen die einfachen Menschen.

Ebenfalls unter die Räder kommen die sogenannten Oligarchen. Diese werden von den Sanktionen des Westens hart getroffen, ihre Vermögenswerte im Ausland wurden konfisziert, und ihre Geschäfte leiden unter der Isolation. Und Putin? Er zuckt bei den Geschäftsmännern mit den Schultern. Denn diese sind das grösste Missverständnis in der ganzen Geschichte.

Der Begriff Oligarch ist ein Trugschluss

Anders als die Silowiki sind die sogenannten Oligarchen blosse Mitläufer oder Profiteure. Schon allein der Begriff Oligarch ist ein Trugschluss. Wären sie wirklich Oligarchen, dann besässen die Reichen die Macht, den Präsidenten zu stoppen und seinen Krieg sofort zu beenden. Dass dies nicht geschieht, zeigt: Die Milliardäre sind bloss von Putin geduldete Marionetten. Ohne die Macht, auch nur das Geringste zu ändern.

Doch ohne die marktwirtschaftlichen Methoden der ausländischen Firmen und mit einer korrupten Staatswirtschaft entwickelt sich Russland zu einem zweiten Iran – abgeschnitten vom Westen, mit einer autarken Wirtschaft, einer ärmeren Bevölkerung und technologisch rückständig im Vergleich zu den führenden Ländern der Welt oder dem Potenzial, das Russland hätte, wenn es einen anderen Weg gewählt hätte.

Schon allein die «neuen» Freunde von Russland zeigen, wie schlecht es um die Wirtschaft steht. Wer sich mit den Herrschern von Nordkorea, Iran oder Venezuela oder den Taliban umgibt, ist nicht nur in schlechter Gesellschaft, sondern auch in einer schlechten Position für die Zukunft.

Da hilft es auch nicht, dass man in Russland auf Rettung aus China setzt. Die Machthaber in Peking sind zwar gerne beim Säbelrasseln gegen den Westen dabei. Wenn es aber um die eigene Kasse geht, dann sind die Chinesen kühle Rechner. Aus Russland werden zwar gerne Rohstoffe zu vergünstigten Preisen gekauft. Doch dafür allzu offensichtlich die Sanktionen zu brechen, sind auch die chinesischen Unternehmen nicht bereit.

Der Abstieg ist ein Mahnmal

Und dennoch ist der langsame Abstieg der russischen Wirtschaft eine gute Nachricht. Hier kann man sehen, was passiert, wenn man sich vom Westen abkapselt und auf Kleptokratie und Staatswirtschaft setzt. Das Land befindet sich seit langem auf diesem Weg. Die Sanktionen und das Kriegsregime sind eine Verstärkung. Russland wird noch schneller zu einer Rohstoffwirtschaft – und diesmal mit einer geringeren Anzahl an Abnehmern.

Der langsame Abstieg Russlands ist ein Mahnmal an alle, die nicht glauben, dass Werte wie Freiheit, Wettbewerb, Rechtssicherheit und Marktwirtschaft mehr als bloss hohle Phrasen sind. Diese Errungenschaften haben unseren Wohlstand erst möglich gemacht. Planwirtschaft, Korruption und Günstlingswirtschaft bringen einem bloss Leid und Stagnation. Russland lernt das gerade auf die harte Tour.

Nota. - Was hat sich geändert seit dem Untergang der Sowjetunion? Spötter werden sagen: dass das Einparteiensystem nicht mehr in der Verfassung steht. Viel ist das nicht...

Man könnte hinzufügen: Zur herrschenden bürokratischen Kaste des Realexistierenden gehörte jeder, dem sie Mitgliedschaft in der KPdSU gelungen war. Und über allem lastete ein Politbüro, mit dem es nicht vorwärts noch zurück ging. Doch nein: Zurück ging es rasant - mit der Wirtschaft. Der friedliche Wettbewerb der Systeme hatte die Sowjetproduktion zu Tode gerüstet. Da wurde das System preisgegeben, um die Substanz zu wahren.

Ohne eine gewaltige Umschichtung im Personal war das nicht zu machen. An die Stelle des greisen Politbüros, wo keiner mehr an den morgigen Tag denken konnte, musste ein dynamischer Haudegen treten mit einer verschworenen Bande im Gefolge. 

... wird fortgesetzt...

 20. März 2022

Putins Vordenker: Iwan Iljin.

 

aus welt.de, 17. 12. 2014

Putin übernimmt Ängste seines Lieblingsphilosophen
Lieblingslektüre des Präsidenten: Wer Russlands neuen Nationalismus verstehen will, muss den 1954 gestorbenen konservativen Philosophen Iwan Iljin lesen. Der Denker schürt die Furcht vor der Freiheit.

In seiner letzten Rede an die Nation zitierte der russische Präsident Wladimir Putin den Philosophen Iwan Iljin: „Wer Russland liebt, muss ihm Freiheit wünschen, vor allem Freiheit für Russland selbst, seine internationale Unabhängigkeit und Selbstständigkeit.“ Es ist nicht das erste Mal, dass Putin in seinen Reden diesen konservativen Denker erwähnt, der nach der Oktoberrevolution aus Russland auswanderte und in der Emigration starb. 2005 wurden seine Überreste nach Russland gebracht. Vier Jahre später ließ Putin auf eigene Kosten einen neuen Grabstein für Iljin errichten. 2006 wurde das Archiv des Philosophen aus Amerika zurückgebracht.

Iwan Iljin ist inzwischen zum russischen Philosophen der Stunde geworden. Wladislaw Surkow, die graue Eminenz des Kremls, der in den 2000er-Jahren besonders einflussreich war und die Fäden der russischen Politik hinter den Kulissen gezogen hat, schätzt Iljin sehr. Seine Bücher werden in der Präsidialverwaltung gerne gelesen. Vor einem Jahr schenkte die Kreml-Administration Gouverneuren und Mitgliedern der Regierungspartei Einiges Russland Bücher zur empfohlenen Lektüre, darunter „Unsere Aufgaben“ von Iwan Iljin.

Der 1883 geborene Philosoph war Anhänger der Monarchie und Gegner der Revolution. 1922 wurde er aus der Sowjetunion ausgewiesen. Er zog nach Deutschland und wurde zum Ideologen der antikommunistischen Bewegung. 1938 musste Iljin in die Schweiz auswandern, wo er bis zu seinem Tod lebte.

Die Aufteiler Russlands werden ihr absurdes Experiment durchzusetzen versuchen, sie werden es betrügerisch als den Triumph der ‚Freiheit‘, ‚Demokratie‘ und ‚Föderalismus‘ darstellen.
Iwan Iljin

Auch wenn Putin in der Rede Iljins Aussage über Freiheit erwähnte, um damit womöglich das liberale Lager in Russland zu beruhigen, ist der Philosoph bei Weitem nicht liberal. Das Zitat stammt aus seinem Manifest „Russland braucht Freiheit“ von 1949. Der Streit zwischen Liberalen und ihren Gegnern vor der Oktoberrevolution hat nach Iljin mit der Entstehung der Sowjetunion seinen Sinn verloren. „Liberale haben nicht vorhergesehen, dass die äußerste oder zum falschen Zeitpunkt zugelassene Freiheit zu Zügellosigkeit und Versklavung führt“, schrieb er. Die Gegner des Liberalismus hätten Recht gehabt. Nach Iljin haben im zaristischen Russland ausgerechnet Forderungen nach mehr persönlicher Freiheit zur Revolution und zur kommunistischen Diktatur geführt. Das kommt Putins Angst vor zu viel Freiheit entgegen, die angeblich ins Chaos mündet.

„Absurdes Experiment im postbolschewistischen Chaos“

Interessant ist auch eine andere Arbeit Iljins: „Was bringt der Welt die Aufteilung Russlands?“ von 1950. „Wir müssen uns darauf gefasst machen, dass die Aufteiler Russlands auch im postbolschewistischen Chaos versuchen werden, ihr absurdes Experiment durchzusetzen, sie werden es betrügerisch als den Triumph der ‚Freiheit‘, ‚Demokratie‘ und ‚Föderalismus‘ darstellen.“ Iljin ist der Meinung, dass ausländische Staaten an einem schwachen Russland interessiert seien und deshalb seinen Zerfall vorbereiteten. Die westlichen Völker verstünden russische Eigenheiten nicht; sie wollten den „russischen Besen“ in einzelne Ruten aufteilen, sie zerbrechen, um damit „das erloschene Feuer ihrer Zivilisation“ anzuheizen.

Unter Russland versteht Iljin das Russische Imperium, und die Unabhängigkeit der ehemaligen Provinzen, etwa der Ukraine, wäre für ihn der Anfang der Aufteilung. Er spielt das Szenario der „unabhängigen Ukraine“ durch, bei dem sie in den deutschen Einflussbereich fallen würde. Insgesamt werde der Zerfall Russlands zu einem Weltkrieg führen, bei dem unterschiedliche europäische und asiatische Staaten um Einfluss auf die neuen Gebieten kämpfen würden.

„Russland wird so zum gigantischen Balkan“, schreibt Iljin. Wenn dieser Prozess begänne, gebe es nur zwei Möglichkeiten. „Entweder wird in Russland eine nationale Diktatur entstehen, die die Zügel fest in die Hand nimmt, Russland eint und alle separatistischen Bewegungen im Land unterbindet, oder eine solche Diktatur wird nicht entstehen, dann aber beginnt im Land ein unvorstellbares Chaos.“ Die Idee von Russlands Feinden, die das Land aufteilen wollen, ist auch im heutigen Russland populär. Ebenfalls in seiner letzten Rede an die Nation warf Putin „dem Ausland“ vor, in den Neunzigerjahren den tschetschenischen Separatismus unterstützt zu haben. „Man hätte uns gerne in das jugoslawische Szenario von Zerfall und Aufteilung geschickt“, erklärte der russische Präsident.

Allerdings ist Iljin wegen seiner Einstellung zum Nationalsozialismus umstritten. Wie andere russische Antikommunisten auch hat er anfangs Hitler begrüßt. 1933 veröffentlichte er den Artikel „Nationalsozialismus. Der neue Geist“, in dem er die „Bewegung“ verteidigte. „Was hat Hitler getan? Er hat den Prozess der Verbreitung des Bolschewismus in Deutschland gestoppt und damit ganz Europa einen Gefallen getan“, schrieb er. Man dürfe die Ereignisse in Deutschland nicht aus der Sicht der Juden bewerten. Der Geist des Nationalsozialismus stelle Deutschland vor schöpferische Aufgaben. Allerdings musste Iljin 1938 Deutschland verlassen, weil er in der NS-Diktatur nicht mehr leben konnte. Später korrigierte er seine Ansichten, doch ließ er von der Sympathie für nationalsozialistische Ziele nicht ganz ab.

„Wahrer Nationalismus ist ein geistiges Feuer“
Man hätte uns gerne in das jugoslawische Szenario von Zerfall und Aufteilung geschickt.
Wladimir Putin

1948 schrieb er den Text „Über Faschismus“, in dem er „Fehler“ des deutschen Nationalsozialismus und des italienischen Faschismus analysierte. Als Reaktion auf den Bolschewismus habe der Faschismus recht gehabt: „Der Faschismus hatte recht, weil er vom gesunden national-patriotischen Gefühl ausging.“ Allerdings seien den Faschisten Fehler unterlaufen: feindliche Einstellung zur Religion, Diktatur, militärischer Chauvinismus, Monopol einer Partei. Am Ende äußerte Iljin die Hoffnung, dass russische Patrioten die Fehler des Nationalsozialismus nicht wiederholen werden.

Mit dem russischen Nationalismus hat sich Iljin ausführlich beschäftigt. „Wahrer Nationalismus“ sei ein „geistiges Feuer, das Menschen zum aufopfernden Dienst und das Volk zum geistigen Aufschwung“ bringt. In Russland sei der christlich-orthodoxe Glauben zentral. Russland habe die große Aufgabe, eine nationale Idee zu formulieren, die das Land in die Zukunft führt und ihre Völker vereint. Im heutigen Russland scheint diese Aufgabe noch nicht gelöst. Kirche und Tradition werden allerdings immer stärker betont. Auch über die geistige Einheit spricht der russische Präsident häufig. Sie soll Russland von den Gefahren schützen, die ihm angeblich aus dem Ausland drohen.

Donnerstag, 27. November 2014

Der späte Sieg der Weißen: Woher Putin seine Ideen hat.


aus nzz.ch, 2014-11-27 11:30:00                                                         Zaristische Offiziere; 4. v. lks. der weiße General Denikin

Putins Ideologie vom eurasischen Grossrussland

Die Weissen haben gewonnen
Präsident Putin handelt zwar aussenpolitisch nach der Staatsräson der Sowjetunion im Kalten Krieg, doch seine Ideen von der imperialen Grösse und dem eurasischen Sonderweg Russlands wurzeln im reaktionär-konservativen Denken des antibolschewistischen Exils. So gilt Putin als glühender Anhänger von Iwan Iljin. 

Unter den verheerenden Folgen des Ersten Weltkriegs gebührt der bolschewistischen Revolution 1917 zweifellos der oberste Rang. Die Niederlage und der Zusammenbruch des russischen Reichs wurden von einem blutigen Bürgerkrieg begleitet, in dem die Bolschewisten, die Roten, über die Weissen den Sieg davon trugen. Die Bolschewisten versprachen Frieden, Gleichheit und Gerechtigkeit, die Weissen kämpften für die Wiederherstellung der alten Ordnung. Nach vier Jahren in den Schützengräben waren die Bauern und Soldaten auf das Ancien Régime nicht gut zu sprechen. Den Kommunisten war es zudem gelungen, das russische Reich zu grossen Teilen in der Sowjetunion wieder zu vereinen. Das multinationale, vormoderne Imperium wurde die Heimat der Weltrevolution und des Sozialismus.

Kultur der Niederlage

Die geschlagenen Anhänger des alten Russland – Oppositionelle und Intellektuelle von rechts bis links – flohen ins Exil . Im Nachkriegseuropa liessen sich konservative Emigranten, die von der Befreiung des heiligen Russland vom Joch des Bolschewismus träumten, von faschistischen und geopolitischen Ideen jener Zeit beeindrucken. Manch ein Patriot versprach sich eine Wiedergeburt seiner Heimat von der rechten Diktatur und grübelte über einen Sonderweg Russlands. Unter den Exildenkern galt der Philosoph Iwan Iljin (1883–1954) als einer der besonders militanten Antibolschewisten. Im Faschismus sah er eine gesunde Reaktion auf den «linken Totalitarismus» und pries 1933 Hitler als Verteidiger Europas gegen die bolschewistische Barbarei. Selbst nach dem Sieg der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg, als sich Stalins Imperium im Zenit seiner Macht und Ausdehnung zu befinden schien, glaubte Iljin an dessen unausweichlichen Zusammenbruch.

Er sah mittlerweile aber ein, dass der Faschismus es mit der totalen Herrschaft zu weit getrieben hatte. Dem künftigen Russland wünschte er eine autoritäre Diktatur im Stile Francos oder Salazars. Zugleich empörte sich Iljin aber über die Unterstützung nationaler Unabhängigkeitsbewegungen im sowjetischen Einflussbereich durch die Alliierten. Denn sie trügen zu einer Schwächung des Sowjetreichs bei, an dessen Stelle einmal ein «einiges und unteilbares Russland» als Führerstaat treten sollte. «Es wird die historische Stunde kommen», schrieb der russische Emigrant Iwan Iljin 1950 in der Schweiz, «da [das russische Volk] aus seinem scheinbaren Sarg auferstehen und seine Rechte zurückfordern wird.»

Auch andere Emigranten träumten von der Wiedergeburt des russischen Imperiums. In den zwanziger Jahren begründete eine Gruppe von Philosophen und Historikern eine Bewegung unter dem Namen Eurasiertum. Die Eurasier legten Wert auf geografisch bedingte Besonderheiten, unter denen der Nationalcharakter eines Volks in den zurückliegenden Jahrhunderten seine unverwechselbare Form angenommen habe, und hielten ihn für eine anthropologische Konstante. Russland sei weder Europa noch Asien, sondern ein vollkommen eigenständiger Landkontinent, der überwiegend asiatisch geprägt sei. Die russische Bevölkerung sei aus der Vermischung slawischer Stämme und mongolischer Nomaden hervorgegangen. Das romanisch-germanische Europa tauge deshalb keinesfalls als Vorbild, vielmehr stelle es eine Gefahr für die russische Kultur dar. Demokratische und sozialistische Ideen seien künstlich nach Russland verpflanzt worden, Liberalismus und Parlamentarismus seien dem Volk fremd. Die geeignete Staatsform sei daher eine Ideokratie, in der die vom Volk gewählte Führungsschicht durch eine Weltanschauung fundiert sei. Im künftigen Russland müsse der orthodoxe Glaube den Platz des Marxismus einnehmen.

Der liberale Politiker Pawel Miljukow verspottete das Russlandbild der Eurasier als «Aseopa». Er spielte damit auf ihren antieuropäischen Affekt an. Das Eurasiertum, erkannte scharfsinnig der Philosoph Nikolai Berdjajew, sei weniger eine intellektuelle denn eine «emotionale Reaktion nationaler und religiöser Instinkte auf die Katastrophe der Oktoberrevolution». Die Sehnsucht nach der Heimat hat einige der Emigrierten in die Sowjetunion getrieben, wo sie bald Opfer politischer Repressalien und des Grossen Terrors wurden. Stalin brauchte keine Berater in Sachen Ideokratie, war er doch selbst mit seiner imperialen Ideologie des Sowjetpatriotismus ein praktizierender Eurasier.

Auch als Denker waren die russischen Emigranten Zaungäste des Weimarer Europa geblieben. In der Sowjetunion wurden ihre Bücher in den Bibliotheken im «spezchran», dem Giftschrank, aufbewahrt. Eine Handvoll ausgewählter, parteinaher Geisteswissenschafter durfte in den vergilbten Seiten der in Berlin und Prag verfassten Werke blättern, um gegen den Klassenfeind ideologisch gewappnet zu sein.

Wiedergeburt auf Staatsebene

Doch diese Zeit ist längst passé. Die sterblichen Überreste von Iwan Iljin sind 2005 aus dem Schweizer Exil auf den Friedhof des Moskauer Donskoi-Klosters übergeführt worden. Die trüben Lehren der Eurasier füllen Regale in den Buchläden und werden wissenschaftlich erforscht. Mehr noch, die Emigranten mit ihrer Ideologie eines eurasischen Kulturraums scheinen ganz oben angekommen zu sein. Heute outet sich der russische Präsident Putin als glühender Anhänger von Iwan Iljin. Den Staatsbeamten empfiehlt er, dessen Werke wie einst die von Lenin zu lesen. Mit den Vorstellungen der «Russischen Welt», wie sie im Prag und Berlin der zwanziger und dreissiger Jahre herbeiphantasiert wurden, werden geopolitische Ansprüche Russlands legitimiert. 

In seinen Reden, wie etwa im Fernsehgespräch mit dem Volk, das nach dem Krim-Anschluss am 17. April 2014 stattgefunden hat, spricht Putin von Russen als ethnischem Mix, von besonderen russischen Werten, die den westlichen entgegengesetzt seien. «Wir sind weniger pragmatisch als andere Völker, dafür haben wir eine breite Natur. Vielleicht spiegelt sich darin auch die Grösse unseres Landes wider.» Der russische Mensch verfügt laut Putin über eine höhere moralische Bestimmung, die seit Dostojewski zum nationalistischen Stereotyp gehört. Der Russe sei anders als der Europäer durch seine Hinwendung nach draussen, zur Welt gekennzeichnet, er halte wenig vom Geld und sei bereit, für sein Vaterland zu sterben. «Darin liegen tiefe Wurzeln unseres Patriotismus», so Putin. «Daher kommen der Massenheroismus in den militärischen Konflikten und sogar eine Selbstaufopferung in der Friedenszeit. Hier wurzeln unser Gefühl der Zusammengehörigkeit, unsere Familienwerte.» 

Erst Ende der achtziger Jahren ging das kommunistische Projekt, das die alte bürgerliche Intelligenzia aus dem Land verbannt hatte, in die Brüche. Doch die Hoffnungen, Russland könnte sich politisch modernisieren und den europäischen Weg gehen, wurden enttäuscht. Mit der Hinwendung zu faschistischen und totalitären Phantasien, erkannte Berdjajew, reagierten russische Emigranten auf die Katastrophe der Oktoberrevolution. Auch das Ende des Sowjetimperiums wurde in Russland als eine «geopolitische Katastrophe» (Putin) wahrgenommen. Russen fanden sich auf einmal als ein geteiltes Volk wieder. Es nimmt wenig wunder, dass die Niederlage des Sowjetreichs einen massenpsychologischen Hintergrund schuf, vor dem das intellektuelle Erbe antiwestlicher Emigranten wie das des Grossmacht-Chauvinisten Iwan Iljin und der Eurasier in den Rang einer Staatsideologie erhoben werden konnte. 

Wladimir Putin preist nun die Siege russischer Feldherren im Ersten Weltkrieg und wirft den Bolschewisten, die bekanntlich für die Niederlage des eigenen Lands agitierten, Verrat an nationalen Interessen vor. Die Schreibtisch-Träumer aus den Zentren des russischen Exils liefern nun postum Belege für die höhere moralische Bestimmung des russischen Volkes und seine Bereitschaft, für das Vaterland in der ukrainischen Steppe zu sterben. Ein Jahrhundert nach der Oktoberrevolution haben die Weissen gewonnen. 


Sonja Margolina, 1951 in Moskau geboren, lebt als Publizistin und Buchautorin in Berlin. Zuletzt veröffentlichte sie die Romane «Brandgeruch» (Berlin-Verlag, 2011) und «Kaltzeit» (Amazon, 2013). 2004 kam «Wodka: Trinken und Macht in Russland» heraus.

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