
aus derStandard.at, 24. 5. 2025 zu öffentliche Angelegenheiten; zu Levana, oder Erziehlehre;
Kurzes Leben
Bayerischer "Eisprinz" gibt seine Geheimnisse preis
Im Allgäu wurde ein
reich ausgestattetes Kindergrab von Archäologen schockgefrostet, um es
zu untersuchen. Der Bub aus dem 7. Jahrhundert war mit Waffen, Schmuck
und einem Schwein bestattet worden
Kontext – das ist das große Schlagwort in der Archäologie: Ohne die Umgebung, also den Fundkontext, kann man nur begrenzt etwas über ein historisches Artefakt aussagen. Um den Kontext zu bewahren, griff ein Forschungsteam 2021 in Bayern zu einer drastischen Methode, als das Grab eines Kindes aus dem Frühmittelalter entdeckt wurde. Das Steinplattengrab bei Mattsies im Unterallgäu wurde komplett gefrostet, um es als riesigen Eiswürfel ins Labor zu schicken. Es war die Geburtsstunde des "Eisprinzen von Mattsies".
Wie das Bayerische Landesamt für Denkmalpflege berichtet, liegen nun die Ergebnisse der Analysen vor. Fachleute können nicht nur Rückschlüsse auf das Aussehen des Buben ziehen, der mit nur eineinhalb Jahren verstarb, sondern sammelten Indizien zu seinen Lebensbedingungen, seiner Gesundheit, der Todesursache und den Bestattungsriten.

Der Bub wurde im 7. Jahrhundert (wohl zwischen 670 und 680) in eine gut betuchte Familie hineingeboren. Er dürfte auch aus der Gegend um Tussenhausen stammen, in der er bestattet wurde, hatte wohl blondes Haar, blaue Augen und wurde noch gestillt, wie die Fachleute aus der Entwicklung der Milchzähne ablesen. Das ist prinzipiell auch dem Immunsystem zuträglich – dennoch wurde sein Schicksal bald mit einer chronischen Infektion besiegelt, die aufgrund einer Mittelohrentzündung entstand.
"Der Tod des Jungen dürfte seine regional bedeutende Familie erschüttert haben", sagt Generalkonservator Mathias Pfeil. "Sie hat offenbar große Anstrengungen unternommen, um dem Kind ein Begräbnis zu bereiten, das seinem sozialen Status gerecht wurde." Der Bestattungsplatz wurde in einem ehemaligen römischen Gutshof eingerichtet und nach der Bestattung zweimal neu überdacht. Das macht für die Fachleute den Eindruck, als habe man den Ort dort noch über einen längeren Zeitraum aufgesucht, um des toten Kindes zu gedenken.

Die steinerne Grabkammer – ein ungewöhnliches Arrangement für die damalige Zeit – wurde von erfahrenen Steinmetzen angefertigt. Die Kammer wurde mit Kalkmörtel abgedichtet, was dazu führte, dass keinerlei Sedimente ins Grab gelangten und es sich über 1350 Jahre bis heute unerwartet gut erhalten hat.
Bei der Entdeckung fielen den Expertinnen und Experten gleich die schmucken Grabbeigaben ins Auge: Neben, unter und auf dem Skelett lagen Armreifen aus Silber, ein Schwert und Goldblattkreuze. Dass sowohl Symbole der christlichen Religion als auch Grabbeigaben gefunden wurden, war für die damalige Zeit durchaus üblich.

Vor allem die Stoff- und Lederreste, die sich sonst selten über so lange Zeiträume halten, boten erstaunliche Einblicke. Der Reichtum und die Vernetztheit der Familie zeigen sich am Oberteil des Einjährigen: Es wurde aus feinem Leinwandgewebe hergestellt und an der Vorderseite und den langen Ärmeln mit Besätzen aus Seidenstreifen versehen. Seide zählte zu den Statussymbolen der Zeit und war nur durch Handelskontakte nach Byzanz zu erwerben.

Dazu wurden dem Kind Lederschuhe mit silbernen Sporen, eine Hose und Silberarmringe angezogen. Am Gürtel trug es ein kurzes Hiebschwert, dessen lederne Scheide mit Goldbeschlägen verziert war. Der Bub wurde auf ein Fell gebettet, außerdem befand sich im Grab ein Tuch, auf das ein Kreuz aus Goldblatt genäht worden war.
Bei der ersten Begutachtung hatte man tierische Knochen zu Füßen des Kindes entdeckt und vermutet, dass der Bube gemeinsam mit einem Hund bestattet wurde. Dies stellte sich als falsch heraus: Das Skelett gehörte nicht zu einem Hund, sondern zu einem zerlegten Ferkel. Daneben lag ein Bronzebecken mit den Überresten von Äpfeln, Birnen und Haselnüssen, neben den kulinarischen Beigaben befand sich hier auch ein rundlicher Trinkbecher mit silbernen Beschlägen, eine Holzschale und ein Kamm.

Diese Utensilien sind typisch für repräsentative Gastmahle. Vor dem Essen und Trinken wurden die Haare gekämmt und die Hände in Bronzeschalen gereinigt. Das Schwein neben dem Bronzebecken könnte ebenfalls zu dem kleinen Festmahl gehören, das auf einer gewebten Matte ins Grab gelegt und nie verspeist wurde.
Mehr als tausend Jahre später stieß man bei der Erschließung eines neuen Baugebiets im Tussenhausener Ortsteil Mattsies auf die Grabstätte. Die Bergungsmethode war unkonventionell: "Das Landesamt hat mit der Schockfrostung des Kindergrabes im Jahr 2021 Neuland betreten", betont Pfeil. Die Idee geht auf Denkmalpflegerinnen und -pfleger zurück und wurde hier erstmals durchgeführt: Um den Inhalt der Grabkammer beim Transport nicht zu bewegen oder zu beschädigen, weil keine Erde die Bestandteile zusammenhielt, wurde alles Schicht für Schicht mit Wasser benetzt und mit Flüssigstickstoff bei einer Temperatur von fast –200 Grad Celsius gefrostet.

Dieses Verfahren hat den Vorteil, dass das Wasser hart wird, ohne sich auszudehnen. So vermeidet man Eiskristalle, die die Strukturen zerstört hätten. Durch das schonende Verfahren waren auch DNA-Analysen möglich, die die Hinweise auf Augen- und Haarfarbe des Buben lieferten.
Der Nachteil: Die Bergung dauerte 14 Stunden, von 3 Uhr morgens bis 17 Uhr. Der 800 Kilogramm schwere Eisblock wurde ins nordbayerische Bamberg zur Restaurierungswerkstatt transportiert. Dann lag der kleine "Eisprinz" mehrere Monate in einer Gefrierzelle, bevor er über mehrere Tage kontrolliert aufgetaut wurde. Dafür nutzten die Fachleute einen Heißluftfön und Lötkolben und saugten das Tauwasser sofort wieder ab, um den Funden keinen Schaden zuzufügen.

Die Mühe hat sich für den bestens erhaltenen Fund jedoch gelohnt. Der
Kult um den eineinhalbjährigen Verstorbenen ist noch heute rührend,
wenngleich die Todesursache nichts Ungewöhnliches war. Zur damaligen
Zeit verstarben etliche Kinder und Erwachsene an den Folgen von
Infektionen – ein Schicksal, das heute dank Antibiotika und dem Wissen
um Desinfektionsmittel zum Glück viel seltener geworden ist.
Nota. - Eine Entdeckung des 20. Jahrhunderts war, dass Kindheit als besondere Lebensform eine Entdeckung der Romantiker war, eingeeitet vom Émile des Rokokoliteraten Rousseau. Daraus wurde arlos der Schluss gezogen, dass Kinder in der vorindustriellen Welt "unsichtbar gewesen" seien so dass man den zivilisato-rischen Skandal der Kinderarbeit in den Bergwerken getrost übersehen konnte. Die Erlösung sei erst mit Oliver Twist und David Copperfield gekommen.
Seit Jahren lesen wir nun immer wieder von der Entdeckung prächtig ausgestatteten Kindergräbern aus vorgeschichtlicher Zeit. Kinder als Individuen scheinen ganz und gar nicht unsichtbrar gewesen zu sein. Aber noch nie (?) sprang die Lösung dieses Widerspruchs so scharf ins Auge wie in diesem Fall: Dem keinen Jungen wurde nicht etwa ein Spielzeug ins Grab gelegt, sondern neben kostbarem Schmuck eine goldverziertes Schwert - freilich in angmessenen Format: Er gehörte noch nicht einer Untergruppe Kind an, sondern immernoch der männlichen Hälfte der Welt.
Es ist nicht bloß der Blick der Menschheit auf die Kinder, sondern ihr Blick auf sich selbst ein anderer geworden.
JE
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