aus spektrum.de, 29.05.2025 zu Jochen Ebmeiers Realien
von Mario Gerwig
Bücher über die Geschichte der Physik gibt es viele. Doch dieses ist anders. Es be-schreibt die Entwicklung des physikalischen Weltbilds vom antiken Griechenland bis zur modernen Suche nach einer konsistenten Beschreibung des Universums. Es erläutert detailliert und kenntnisreich die Errungenschaften der Physik, zeigt aber auch auf, an welchen Stellen sich die beiden großen Theorien der modernen Physik – die Quantentheorie als Standardmodell des Mikrokosmos (»The Small«) und das Konsensmodell der Kosmologie, also die allgemeine Relativitätstheorie zur Beschreibung des Makrokosmos (»The Big«) – widersprechen. »Diese beiden Regel-werke […] passen nicht zusammen. Unser Bild des Universums leidet unter einer Disharmonie und fundamentalen Diskrepanz«, stellt Volker Knecht fest (S. 9). Was bis heute fehle sei eine Theorie, die diese Disharmonie (»The Ugly«) aufzulösen vermag. Kern einer solchen »Theorie von Allem« wäre eine Theorie der Quanten-gravitation – doch ob eine solche überhaupt existieren könne, sei offen. Vielleicht, so Knecht, sei eine widerspruchsfreie Beschreibung der Welt auch gar nicht möglich.
Das alles in einer für Laien verständlichen Art zu erklären, ist das ehrgeizige Ziel des 370-seitigen Buchs. Ist das möglich? Um es vorwegzunehmen: Ja, das ist es! Volker Knecht ist eine populärwissenschaftliche Darstellung der großen Entwicklungslinien der Physik gelungen – samt ihrer Kontroversen, Widersprüche, Schwierigkeiten und offenen Fragen.
»Die Physik lässt sich nur verstehen, wenn
man ihre Geschichte kennt«, schreibt der Autor gleich zu Beginn. Dieser
Überzeugung folgt die Gliederung des Buchs: Im ersten Teil geht es um
die Entstehung des kosmologischen Standardmodells, beginnend bei den
nach Ordnung strebenden Griechen und dann weiter zu den Arbeiten von
Kopernikus, Galilei, Kepler, Newton, Maxwell und Einstein. Im zweiten
Teil steht die Erforschung der subatomaren Welt zwischen den 1900er und
1970er Jahren im Zentrum, die zur Formulierung der Quanten-mechanik und
dem Standardmodell der Elementarteilchen führte. Im dritten Teil widmet
sich Knecht schließlich dem massiven Widerspruch in unserem Weltbild, zu
dem die zuvor beschriebene Forschungsgeschichte geführt hat.
Gleichzeitig beschreibt er Ansätze, die ihn aufzulösen versuchen.
Jeder
der drei Teile gliedert sich in Kapitel und teils sehr kurze
Unterkapitel, zwischen denen man gut hin- und herspringen kann. Dem
Autor gelingt es dabei, bisweilen sehr komplizierte Dinge
nachvollziehbar darzustellen, ohne sie durch Vereinfachung zu
verfälschen. So schafft er es, auf nur vier Seiten (Kap. 1.2) die
Urknalltheorie herzuleiten, ohne dabei in eine oberflächliche, halbwahre
Plauderei abzugleiten oder so tief in die Theorie einzusteigen, dass
man als interessierter Laie lieber schnell weiterblättert.
Etwa 50 Seiten später (Kap. 3.4) beschreibt der Autor – beginnend bei der ersten Beobachtung einer Abweichung der geradlinigen Ausbreitung des Lichts an der Grenze zwischen Licht- und Schattenraum durch Francesco Maria Grimaldi (1660), der dieses Phänomen »Beugung« nannte und damit den ersten Hinweis auf die Wellennatur des Lichts gab – die weitere Entwicklung der Wellentheorie des Lichts. Ihr stellt Knecht die Korpuskeltheorie Newtons gegenüber, die davon ausging, dass Licht – wie Materie auch – aus kleinsten Teilchen bestehe; eine Annahme, die erst sehr viel später (1850) widerlegt wurde (die Doppelnatur des Lichts thematisiert Knecht an anderer Stelle) und zur weiteren Beschreibung der Wellentheorie durch Maxwell und Hertz führte. Als Leser ist man verblüfft: Knecht braucht für die fachlich korrekte, das Wesentliche erwähnende und für Laien verständliche Darstellung dieses entscheidenden Paradigmenwechsels in der Physik gerade einmal zwei Seiten. In der Fähigkeit, Komplexität inhaltlich und sprachlich angemessen zu reduzieren, liegt eine große Stärke seines Buchs. Dass der Autor in puncto Verständlichkeit in späteren Kapiteln mitunter an seine Grenzen stößt, liegt dann vor allem an den hochkomplexen Inhalten aktueller physikalischer Theorien.
Zwei kleinere Schwächen gilt es dennoch
anzumerken. Zum einen geht die Begeisterung für sein Fach manchmal mit
dem Autor durch. Dies ist etwa der Fall, wenn es plötzlich im Text von
Fachtermini wimmelt: »Aufgrund der Beobachtungen am Zeeman-Effekt musste
dem Elektron der anomale gyromagnetische Faktor Zwei zugeschrieben
werden« (S. 162). Zum anderen legt der Autor schon ganz zu Beginn seine
Weltanschauung offen: »Das grundlegendste Verständnis der Welt liefert
die Physik […]. Die Physik ist auch der fundamentalste Zweig aller
Natur- und Sozialwissenschaften bis zur Soziologie« (S. 2). Dies ist als
Aussage von jemandem, der die Suche nach einer »Theorie von Allem«
beschreibt, durchaus bemerkenswert, zeigt sich hier doch eine
reduktionistische Tendenz, die der Physik ein gewisses Wahrheitsmonopol
zuschreibt. Dies wird auch an anderen Stellen deutlich, etwa wenn Knecht
schreibt: »Die Spezielle Relativitätstheorie sorgt gleichzeitig dafür,
dass sich das Elektron nicht schneller als das Licht bewegt« (S. 163).
Dass hier eine eigentlich nur erklärende Theorie zur Ursache eines
Geschehens gemacht wird, mag ein sprachlicher Lapsus sein; er wirkt
allerdings nicht zufällig.
Gleichwohl
lohnt sich die Lektüre des Buchs. Denn hier vermittelt ein absoluter
Kenner sein großes Fachwissen stilistisch gekonnt und so
allgemeinverständlich wie nur möglich, so dass auch für Laien das
Verständnis für die eindrücklichen Leistungen der Physik samt ihrer noch
bestehenden Unzulänglichkeiten deutlich wachsen kann.

Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen