aus spektrum.de, 4. 5. 2025 zuJochen Ebmeiers Realien
von Florian Freistetter
Als ich während meines Studiums das erste Mal mit der »Vis-Viva-Gleichung« in Kontakt gekommen bin, habe ich mich ein bisschen über den seltsamen Namen gewundert. »Vis viva«, die lebendige Kraft: Was hat das mit dem zu tun, was die Formel aussagt?
Im sonnenfernsten Punkt (bei einem Abstand von 152,1 Millionen Kilometer) sind es 29,29 Kilometer pro Sekunde. Das ist genau das, was die keplerschen Gesetze über die Bewegung von Himmelskörpern sagen: In der Nähe der Sonne sind sie schneller als weiter entfernt. Und tatsächlich kann man die Vis-Viva-Gleichung auch ohne großen mathematischen Aufwand aus Keplers Gesetzen und der Energie- und Drehimpulserhaltung ableiten.
Aber was hat es mit dem Namen auf sich, der mehr nach Mystik und Alchemie klingt als nach Wissenschaft? Der Begriff »vis viva« geht auf das 17. Jahrhundert und Gottfried Wilhelm Leibniz zurück. Er hat Stoßprozesse untersucht und dabei festgestellt, dass in den aufeinanderstoßenden Objekten eine Art Kraft steckt, mit der sie beim Aufprall Arbeit verrichten können, also zum Beispiel andere Objekte bewegen oder verformen. Seiner Meinung nach war diese Kraft proportional zur Masse und dem Quadrat der Geschwindigkeit der Objekte. Außerdem stellte Leibniz fest, dass diese Größe bei den Stößen erhalten bleibt und hat ihr daher eine für die Bewegung grundlegende Rolle zugeschrieben.
Sein Zeitgenosse Isaac Newton sah das anders. Für
ihn war der Impuls eines Objekts die ausschlaggebende Größe – und der
Impuls ist das Produkt aus Masse und Geschwindigkeit. Oder anders
gesagt: Während für Leibniz das Quadrat der Geschwindigkeit relevant
war, ging bei Newton die Geschwindigkeit nur linear ein. In der Fachwelt
gab es lange Zeit keine Einigkeit. Newton hat Recht, sagten die einen,
weil jede Kraft eine Änderung des Impulses ist. Nein, Leibniz liegt
richtig, sagten die anderen, denn die wahre Größe, um Bewegung zu
beschreiben, ist die Energie, die in der Bewegung steckt.
Aus
heutiger Sicht mutet der Streit seltsam an. Wir wissen, wie zentral der
Impuls für ein Verständnis der Bewegung ist. Wir wissen aber auch, wie
wichtig die in der Bewegung steckende Energie ist, die Leibniz
beschrieben hat und die (bis auf einen Faktor ½) der modernen Definition
der kinetischen Energie entspricht. Es sind eben nur unterschiedliche
Größen, die unter verschiedenen Bedingungen erhalten bleiben.
Aber im 17. Jahrhundert war man gerade erst dabei, Konzepte wie Energie, Kraft oder Arbeit grundlegend zu verstehen und voneinander abzugrenzen. Und selbst im Jahr 1749 wollte noch Immanuel Kant mit seinem Buch »Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte« die Debatte um »vis viva« auflösen. Das moderne Verständnis der Energie hat sich erst im 19. Jahrhundert entwickelt; die Gleichung, die ausgehend von der Energieerhaltung die Bahngeschwindigkeit eines Himmelskörpers beschreibt, hat den alten Namen »vis viva« behalten. Sie wird heute unter anderem verwendet, um die Bahnen von Satelliten und Raumsonden zu beschreiben. Denn am Ende kommt es auf die Mathematik an und nicht die Bezeichnung der Formel.
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