Dienstag, 27. Mai 2025

Erhaltung, Selektion, Hypertelie.

             zu Jochen Ebmeiers Realien

Die Organisation erscheint in der zur Zeit vorherrschenden Sicht vor allem als Trä-ger von lebensfördernden Funktionen.Was nicht zu dieser Ansicht passt, gilt als zu-fälliges Nebenresultat; es wird vielleicht auch, wenn es sich genügend aufdrängt, et-wa als eine Luxusbildung gekennzeichnet. Das Fachwort Hypertelie, mit dem wir Gebilde benennen, die "übers Ziel hinaus" gehen, meint ja nur, dass das Ziel, das hier überschritten wird, eben die Erhaltung ist. Wie wir dieses Überschreiten be-werten, bleibt dabei offen. Das übermächtig gewordene Geweih des Riesenhirsches der Vortzeit, die Krümmmung und Größe der Mammutstoßzähne und ähnliche Beispiele ausgestorbener Wesen geistern wie Warnungen durch unsere Darstellun-gen des Lebens, um zu zeigen, wohin es führt, wenn die Forderungen der Erhal-tung nicht mehr respektiert werden! Auch von der Innerlichkeit gilt in dieser Sicht nur, was ein Instrument der Erhaltung ist; das Seelische wird auf seinen funktiona-len Wert hin taxiert. Der menschliche Geist wird oft genug nur in dieser techni-schen Beurteilung erfasst, und man versucht, den Ursprung dieses Verhaltens als unsere besondere Anpassung an lebenserhaltende Leistungen zu verstehen - das Geistige als Ausgleich für die Abschwächung oder Auflösung der ererbten tieri-schen Instinkte: das ist ein arg dürftiger Versuch des Verstehens. /

Man wird vielleicht sagen, die Naturforschung mache, was ihre Aufgabe ist: das mit ihren Mittel Fassbare und nur das auszusagen. Man kann dem durchaus zustimmen, unter der Voraussetzung, dass alles, was auf diesem Weg nicht erfasst wird und das doch vorhanden ist, in seinem Vorhandensein wenigstens gesehen und ernst genom-men wird. Wir müssen aber auch prüfen, ob im Bereich der Forschung nicht noch andere Ansätze zum Verstehen gewonnen werden können. 

... Wir nannten derartige Erscheinungen unadressiert, weil sie sich nicht an einen Partner richten. Die Versuche,  [sie] zu deuten, beruhten, wie wir sahen, vor  allem auf dem Grundsatz, diese müssten entstanden sein als an sich belanglose von Vor-gängen, denen ihrerseits Erhaltunswert zukommt. Dieser Deutung stellen wir eine andere entgegen... Unser Ansatz geht von der Annahme aus, der Organismus neh-me für sein Erscheinen, für die Selbstdarstellung seiner besonderen Art in seinem Keim bereits ebensoviele und ebenso komplizierte Aufbauprozesse und Strukturen in Dienst, ebenso viele Fermentwirkungen und Ketten von Vorgängen, wie er er sie für die bloße Erhaltug des Individuums oder der Art aufwendet. Ja, ich lasse die Möglichkeit offen, dass für die Organisation der Selbstdarstellung oft Anlagen be-reitgestellt werden, deren Leistungen die der Selbst/erhaltung übersteigen. Die lu-xurierende Formbildung, von der wir eben sprachen, wäre in diesem Fall nicht eine ab und zu beobachtete Übertreibung, sondern die Erfüllung eine wichtigen Aufbau-leistung des lebendigen Stoffes. Die Deutung unsere eigenen Existenz führt zu einer entsprechenden Auffassung: Auch in unserem ganzen menschlichen Verhalten und Treiben wird in vielen Fällen, wenn nicht immer, mehr getan, als was die pure Notdurft der Erhaltung erfordert. /

 ... Die Stufe ist überschritten,auf der lebendiger Stoff sich im wesentlichen unab-lässig selbst vermehrt und durch die dauernde Teilung kurzlebiger einfacher Ge-stalten fortbesteht. Auf dieser neuen, höheren Stufe werden Individuen verwirlicht; aus kurzfristigen, makromolekularen Strukturen entstehen jetzt Einzelwesen mit intensiver Weltbeziehung, mit einer Lebensdauer, die mit steigender Organisations-höhe zunimmt. ...

Der Stoffwechsel dient der Erhaltung des Individuums; und wie hoch wir auch seine Bedeutung auch einschätzen, so müssen wir uns doch von dem Gedanken durchdrin-gen lassen, dass der Organismus nicht dazu da ist, Stoffwechdel zu be-treiben, sondern dass Soffwechsel von ihm betrieben wird, auf dass diese besondere Lebensform in Individuen wirklich sei; da sei. Der Organismus betreibt Stoffwech-sel, damit seine spezifische Seinsweise in Einzelwesen sich eine Weile lang in der Erscheinung behaupten kann. Das besondere Gebilde, das hier und jetzt als diese Pflanze, jenes Tier vor uns ist, ist als Ganzes mehr als die Ordnung von Prozessen, die es am Leben erhält.
aus Adolf Portmann, Neue Wege der Biologie, München 1960, S. 214-217  

 

Nota. - Dass ihm die Biologie als bloße Naturwissenschaft zu wenig war, darf man Adolf Portmann hoch anrechnen, er wollte eine Anthropologie, die dem Mensch-sein einen Zweck zuweist. Doch das geht nicht, indem man der Biologie von außen philosophische Gedanken von außen zu-fügt, sondern indem man ihre impliziten Prämissen sichtet und sortiert; indem man durch der Kritik der historischen Vor-aussetzungen einer Wissenschaft einerseits deren materialen Ertrag freisetzt und vom weltanschaulichen Ballast säubert. Dann bleibt übrig der Satz, dass der Zweck des Menschseins das ist, was die Menschen in Freiheit aus sich machen werden. Das geht allerdings weit über Naturwissenschaft hinaus.

*

Etwas kann nur jemandem erscheinen und ihm dargestellt werde. Portmann will verständlich machen, weshalb das Leben sich nicht einfach reproduziert, sondern dabei immer wieder höhere Formen ausbildet. Der Schritt zur spezifischen Homini-sation kann also nicht "unadressiert" erfolgen - er setzt die Andern notwendig vor-aus.

Dass die Einführung der Idee eines artübergreifend natürlichen Selbstdarstellungs-drangs einen unguten mystischen Beiklang hat, darf aber nicht davon ablenken, dass die von Portmann mit dutzenden von Beispielen belegte Allgegenwart von Hyper-telie in organischen Gestaltungsprozessen doch eines rationellen Verständnisses be-darf.

Wären sie nämlich 'unadressiert', dann könnten sie keine Rückmeldung hervorru-fen, die für die natürliche Selektion wirksam würde. Selbstdarstellung ohne Echo kann nichts erklären. Portmann unterschiebt entweder ein Bild der Natur als intel-ligentem Designer oder des individuellen Organismus als aristotelischer Entelechie.

Wir brauchen aber den Rahmen der Auslesetheorie gar nicht zu verlassen. Dass der-Erhaltung-schädliche Eigenschaften ausgemustert werden, bleibt unangefochten. Dass Mutationen, die dem Ausbau der Erhaltungsfuntkionen besonders förderlich sind, bevorzugt vererbt** werden, ebenfalls. Was wird aus Mutationen, die der organi-schen Anpassung zwar nicht förderlich, aber eben auch nicht hinderlich sind? Ihr Schicksal wäre unbestimmt, mit andern Worten: zufällig. Sie würden nicht bevor-zugt weitergegeben, aber auch nicht zweckhaft entfernt.

Das trifft auf jeden Fall auf solche neugewonnenen Fähigkeiten zu, die im Alltag der Individuen latent bleiben und nur in besonders verlockenden Situationen in Erscheinung treten - wie etwa das Spielen bei ausgewachsenen Individuen.*

Wenn aber, wie in der Laborsituation, der Druck der Nahrungsbeschaffung wegfällt und die andern anwesenden Individuen nicht mehr konkurrieren; wenn durch Un-tätigkeit Langeweile - die es notabene gar nicht gäbe, wenn der Organismus nur auf homöostatische Erhaltung ausgelegt wäre - herrscht, können sie sogar regelmäßig in Erscheinung treten und, da genügend Adressaten im Labor ja gegenwärtig sind, ihrerseits als Auslesemedien fungieren, mindestens im sozialen Bereich.

Dafür stehen die von Adolf Portmann bevorzugt vorgetragenen Beispiele für Farben und Blatt- bzw. Gefiederformen bei Pflanzen und Vögeln - schon ganz ohne Labor! Ob sie auf sozialen Umwegen nicht auch eine selektive Rolle spielen, ist schwer zu ermessen und daher umstritten. Ebensowenig messbar und strittig ist ihre Bedeutung für die Ausbildung eines Vorstellungvermögens und der ästheti-schen Urteilskraft. Das ist ein großer Schritt in Richtung Conditio humana, und das ist es, worauf es uns bei der Entwicklungslehre ankommt.

*) Auch erwachsene Katzen spielen regelmäßig bis ins hohe Alter. Aber nur Stubenkatzen. Freigänger brauchen das nicht. 

**) Nachtrag. Der Ausdruck 'bevorzugt vererbt' ist missverständlich und fast falsch. Nicht das Erbgut wird "von der Natur" bevorzugt, sondern seine Träger haben im Leben seinetwegen größeren Erfolg, und vor allen Dingen mehr Gelegenheit zur Fortpflanzung. Sein Fehlen ist nicht an sich ein Nachteil, sondern die Abwesenheit eines Vorteils. Anderes Erbgut mag seinerseits größere Erfolge bei der Fortpflan-zung verschaffen - aber eben doch weniger große.
JE


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