Samstag, 20. Dezember 2025

Mathematik und Ästhetik: Begann so das mathematische Denken?

Bemalte Tonscherbe mit Blütenmotiven in bräunlicher Farbe. 
aus derStandard.at, 16. Dezember 2025       Keramik der Halaf-Kultur aus der Sammlung des British Museum in London.                                                                                                                           zu Geschmackssachenzu Jochen Ebmeiers Realien
Halaf-Kultur
Archäologen wollen älteste Evidenz für mathematisches Denken entdeckt haben
Die weltweit frühesten botanischen Darstellungen auf 8000 Jahre alten Keramiken enthalten laut einer neuen Studie auch Mathematik

von Klaus Taschwer

Als der Beginn der Mathematik gelten praktische Zähl- und Maßaufgaben, die vor rund 5000 Jahren im Alten Babylonien gelöst wurden. Hierfür wurden Tontafeln benutzt, die sich im Übrigen viel länger hielten als die Papyrusrollen der Alten Ägypter. Die waren dann die zweite Hochkultur, die sich mit alltagspraktischen Berechnungen herumschlug.

Erst mit den großen griechischen Mathematikern wie Thales oder Pythagoras wurde die Mathematik mittels Beweisen und Lehrsätzen zur abstrakten Wissenschaft. Durch Euklids Buch Elemente aus dem dritten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung erhielt dieses Denken eine axiomatische Fassung. In der Neuzeit kam es durch Descartes, Newton und Leibniz sowie durch Algebra und Analysis zu weiteren Abstraktionen des mathematischen Denkens.

Vorverlegung der Anfänge

Nun wollen zwei israelische Archäologen die Vor- und Frühgeschichte des mathematischen Denkens und der archäologischen Evidenz neu schreiben und gleich um ein paar Jahrtausende vorverlegen. Yosef Garfinkel und Sarah Krulwich (beide von der Hebräischen Universität Jerusalem) behaupten, dass rund 8000 Jahre alte botanische Kunstwerke auf bemalter Keramik aus der Halaf-Kultur Nordmesopotamiens mathematische Konzepte enthalten.

Wie Garfinkel und Krulwich im Journal of World Prehistory vermuten, hatten diese floralen Motive mehr als nur ästhetische Bedeutung. Sie würden ein bemerkenswert ausgefeiltes Verständnis von Zahlen, Raum und Ordnung zeigen.

Für ihre Studie analysierten die beiden die fein gearbeiteten Keramikgefäße, die von den Angehörigen der Halaf-Kultur hergestellt wurden, die zwischen etwa 5700 und 5000 Jahre vor unserer Zeitrechnung als Kleinbauern im heutigen Irak, Syrien und der Türkei lebten. Während die prähistorische Kunst von Darstellungen von Menschen und Tieren dominiert wurde, zeigen halafische Töpferwaren eine deutliche Vorliebe für die Darstellung der Pflanzenwelt.

Sechs keramische Gefäße mit den rekonstruierten Mustern, die mathematisch inspiriert sein dürften.
Florale Muster mit mathematischem Hintergrund: Diese Tongefäße zeigen kleine Blumen mit vier Blütenblättern in schwarzen Quadraten eines Schachbrettmuster

Auf Schalen und Krügen sind häufig Blumen, Sträucher, Zweige oder Bäume zu finden und werden mit einem ausgeprägten Sinn für Ausgewogenheit dargestellt. Garfinkel und Krulwich analysierten hunderte dieser botanischen Motive auf der Keramik aus 29 archäologischen Stätten der Halaf-Kultur. Während einige dieser Darstellungen eine starke Ähnlichkeit mit realen Pflanzen aufweisen, sind andere Motive sehr stilisiert.

Alle freilich zeigen eine bewusste Komposition und Symmetrie. Dies deutet laut den Forschenden darauf hin, dass diese Motive wahrscheinlich Teil einer gemeinsamen Bildsprache waren und nicht nur der Dekoration dienten. Einer der spannendsten Aspekte der neuen Untersuchungen ist der Nachweis der wiederholten Verwendung numerischer Muster in Blumenmotiven.

Stilisierte Blumenmuster mit 4, 8, 16 und 32 Blütenblättern.
Abstrakte botanische und zugleich mathematische Motive auf 8000 Jahre alter Keramik zeigen die Kunst der Verdopplung: Aus vier wird acht wird 16 wird 32

Viele Gefäße zeigen Blumen mit Blütenblättern, die in geometrischen Reihen angeordnet sind, in Gruppen von 4, 8, 16, 32 und in einigen Fällen sogar 64 Elementen. Solche klar abgegrenzten Reihenfolgen deuten auf die Fähigkeit hin, Räume gleichmäßig aufzuteilen, sowie auf ein Verständnis von Verdopplung und proportionaler Ordnung. Dies, so die Autoren der Studie, weist auf eine Form der Arithmetik hin, die älter ist als die Entwicklung der Schrift oder der formalen Mathematik in Mesopotamien.

All diese Fähigkeiten lassen sich wahrscheinlich auf den frühbäuerlichen Alltag zurückführen. Das Leben in landwirtschaftlichen Gemeinschaften erforderte die Aufteilung von Land, die Aufteilung der Ernte und die Organisation gemeinschaftlicher Arbeit. Es sei laut Garfinkel und Krulwich wahrscheinlich, dass dieselben kognitiven Fähigkeiten, die für diese Aufgaben eingesetzt wurden, auch bei der Keramikdekoration zu beobachten sind, wo Symmetrie und Wiederholung erforscht und verfeinert werden konnten.

Ästhetik und Abstraktion

Interessanterweise handelt es sich bei den pflanzlichen Motiven nicht um Dinge wie Weizen oder Gerste, die konsumiert werden konnten. Stattdessen gehören dazu Blumen und Bäume, die eher wegen ihrer Schönheit als wegen ihrer Nützlichkeit geschätzt worden sein dürften, wie Garfinkel und Krulwich vermuten. Und in dieser besonderen Ästhetik sei überraschend viel Mathematik enthalten, wie die beiden resümieren.

Mathematisches Denken scheint also nicht plötzlich mit den ersten schriftlichen Aufzeichnungen in der späteren sumerischen Gesellschaft aufgetaucht zu sein, sondern dürfte sich bereits Jahrtausende früher durch visuelle Praktiken im Zusammenhang mit dem täglichen Leben entwickelt haben. 

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  aus derStandard.at , 16. Dezember 2025         Keramik der Halaf-Kultur aus der Sammlung des British Museum in London.                   ...