
aus derStandard.at, 29. Juni 2025, Ein Teil des Ausgrabungsgeländes von Göbekli Tepe ist überdacht.
Aus der Ferne wirkt das weiße Schutzdach in der weiten anatolischen Landschaft surreal. Doch die moderne Konstruktion ist alles andere als fehl am Platz: Sie schützt die vielleicht wichtigste Fundstätte der Archäologie vor Wettereinflüssen. Die Bauwerke von Göbekli Tepe im Südosten der Türkei sind die ältesten Monumentalbauten der Menschheit, sie zählen zu den ältesten Gebäuden überhaupt. In jener Region um Şanlıurfa, die vor zwei Jahren von einem tödlichen Erdbeben erschüttert wurde, haben Archäologinnen und Archäologen rund 12.000 Jahre alte Überreste von Häusern und Sälen ausgegraben. Zum Vergleich: Die Monolithen von Stonehenge wurden vor maximal 4600 Jahren aufgestellt.
Das Erdbeben hinterließ glücklicherweise keine verheerenden Spuren an den steinzeitlichen Mauern, Säulen und Tierskulpturen, sagt Necmi Karul. Der 57-jährige Archäologe von der Universität Istanbul ist seit 2019 Grabungsleiter in Göbekli Tepe. Die steinzeitlichen Überreste wurden Mitte der 90er-Jahre vom deutschen Prähistoriker Klaus Schmidt entdeckt, fünf Jahre, bevor Karul an der Freien Universität Berlin promovierte. Seitdem hat man die Strukturen auf dem mehr als zehn Hektar großen Areal zu einem kleinen Teil ausgegraben. Zum Unesco-Weltkulturerbe zählen sie seit 2018.

Was weniger bekannt ist: Etwa 60 Kilometer entfernt befindet sich eine weitere "Megasite" namens Karahan Tepe sowie mehrere kleine und mittelgroße Siedlungen aus der Jungsteinzeit, fachsprachlich Neolithikum. Für einen Vortrag besuchte Karul diese Woche Wien – und für eine Ankündigung: Ab kommendem Herbst wird das Österreichische Archäologische Institut ebenfalls an den Grabungen bei den berühmten Fundstätten beteiligt sein.
Populär ist das Bild von Göbekli Tepe als urgeschichtlicher Tempelanlage, einem Ort großer Feierlichkeiten, der Menschen von weit her anlockte, unter anderem zum Biertrinken. Fachleute stießen dort auf Mahlsteine, die sich besonders gut zum Erzeugen von Brei und Bier eigneten. Doch wie viel Wahrheit steckt in diesem Bild von prähistorischen Party-People?

Vermutlich nur ein Körnchen, glaubt Karul. Diese Narrative seien bekannt geworden, nun aber schwierig zu verändern und durch fundiertes Wissen – die "wissenschaftliche Wahrheit" – zu ersetzen. Insbesondere mit der religiösen Deutung kann er sich nicht anfreunden. "Göbekli Tepe wurde häufig wie eine Art Vatikan der Steinzeit dargestellt", sagt der Archäologe. "Aber es war kein heiliges Zentrum wie der Vatikan, die al-Aqsa-Moschee oder die Hagia Sophia, sondern eine Siedlung."
Statt Tempelgebäuden, in denen man bete, handle es sich bei den bislang ausgegrabenen Bauten unter dem weißen Dach ganz allgemein um Gemeinschaftsräume. Sie hätten höchstwahrscheinlich mehrere Funktionen eingenommen und seien dazu da gewesen, viele Menschen zusammenzubringen.
In Karahan Tepe stieß man wiederum auf einen Komplex mehrerer Kommunalgebäude mit unterschiedlichen Grundrissen, die spezialisierte Zwecke vermuten lassen. Daneben befinden sich an beiden Fundstätten Spuren von bewohnten Gebäuden oder alltäglichem Leben – insgesamt kann man dem Experten zufolge also von Siedlungen sprechen. Karul bezweifelt, dass die "Megasites" von Göbekli Tepe und Karahan Tepe nur für Feierlichkeiten von Menschen aus der Ferne aufgesucht wurden und ansonsten unbewohnt blieben.

Die Fundstätten sind so bedeutsam, weil sie in die menschheitsgeschichtlich spannende Phase der neolithischen Revolution fallen. Diese beschreibt den Wandel von nomadischen Jäger-Sammler-Gemeinschaften zu einer sesshaften und landwirtschaftlich geprägten Lebensweise. Darunter darf man sich keinen raschen Umschwung vorstellen, sondern einen allmählichen Übergang – also Transition statt Revolution.
Zu Beginn der Sesshaftigkeit lebten die Menschen in Göbekli Tepe das ganze Jahr über am selben Ort, wie Knochenfunde von Wildtieren aus allen Jahreszeiten belegten, erklärt Karul. Ihre Nahrung, Kleidung und Co gewannen sie aber weiterhin ähnlich wie Wildbeuter-Gruppen. Fachleute schätzen, dass ein großer Anteil der Ernährung auf dem Fleisch von Gazellen basierte: Bekannt sind steinerne Strukturen von sogenannten Wüstendrachen, also Fallen, in die wilde Tiere bei der Jagd getrieben wurden, um sie leichter zu fangen. Zudem wurde wildes Getreide gesammelt. "Viele glauben, dass der sesshafte Lebensstil aufgrund der Domestizierung und des Kultivierens von Nutzpflanzen aufkam", sagt der Archäologe. "Aber wir haben nun verstanden, dass das erst später erfolgte und nicht die Ursache war, sondern ein Resultat."
Die damalige Bevölkerungszahl lässt sich schwer schätzen. In Karahan Tepe steht jedenfalls ein erstaunlich großes Gemeinschaftsgebäude, in dem mehr als 150 Menschen Platz fänden. "Hundert Leute könnten gleichzeitig in diesen Siedlungen gelebt haben – ein großer Unterschied zum Paläolithikum, als bei Nomaden Gruppengrößen von 20 bis 25 Personen normal waren", merkt Karul an.
In einem der Gemeinschaftsgebäude stießen die Fachleute erst vor wenigen Jahren auf den "Phallusmann", mit zweieinhalb Metern eine der größten Statuen aus dieser Zeit. Der sitzend dargestellte Mann hält sein Glied mit beiden Händen, was man mit Leben und Fruchtbarkeit assoziiere, sagt Karul. Deutlich markiert sind die Rippen, die an fastende Asketen erinnern – oder an einen verwesenden Körper. Tote waren den Lebenden damals näher als heute, sie wurden etwa unter Wohnhäusern bestattet, die Schädel separat präsentiert. "Die Steinfigur bringt damit zwei Konzepte in einem Körper zusammen: den Tod und das Leben."

Erstaunlicherweise wurden auch die Gebäude irgendwann "beerdigt", das heißt: mit Erde aufgefüllt. Man könne sagen, die Menschen bewahrten so die Geschichte des Hauses. Vergangenheit scheint für die Gemeinschaft eine wichtige Rolle gespielt zu haben.
Auf einen Lieblingsfund möchte sich Necmi Karul nicht festlegen. Angesichts der Vielzahl detailreich gefertigter Darstellungen von Menschen, Leoparden, Füchsen und Geiern ist das verständlich. Und wer weiß, was im nächsten Jahr dazukommt und die bisherigen Artefakte in den Schatten stellt? Zumindest unter den Funden der jüngeren Vergangenheit hebt Karul die lebensgroße Wildschweinfigur aus Stein in Göbekli Tepe hervor, die mit roter, schwarzer und weißer Farbe bemalt wurde. Auf Säulen wurden ebenfalls Pigmente entdeckt. "Das bedeutet: Wenn man in das Gebäude hineinging, sah man nicht das, was wir heute sehen, sondern überall bemalte Statuen und Figuren auf den Pfeilern, höchstwahrscheinlich sogar mit organischem Material wie Pelz dekoriert."

Mit der Zeit machten die Bauwerke einen bemerkenswerten Wandel durch. Besondere Gemeinschaftsgebäude waren in Göbekli Tepe noch eingetieft, die Mauern und Treppen führten nach unten. Nach der Jungsteinzeit wurden solche Bauwerke eher an prominenten Stellen auf Anhöhen errichtet.
Eine weitere architektonische Veränderung: Die ersten Gebäude waren rund, bevor im Neolithikum erstmals rechteckige Häuser entstanden. "Damals wurde die Ecke erfunden", sagt Karul, "das hat uns erlaubt, tausende Jahre später Wolkenkratzer zu bauen."
Wenn die Hypothese der Tempelbauten fragwürdig ist, lässt sich dann überhaupt etwas über Glaubenskonzepte zur damaligen Zeit aussagen? Der Experte ist vorsichtig mit dem Begriff der Religion, wie wir sie uns heute vorstellen. Doch vermutlich habe es zumindest Glaubenssysteme mit starken Vorschriften gegeben und damit "die Wurzel der Religion".
Um so große Gemeinschaften zu organisieren, waren neue Sozialstrukturen nötig – und ausgeprägte Hierarchien, wie sie auch die Menschheit heute prägen. "Am Anfang der Sesshaftigkeit fühlten sich die Menschen noch als Teil der Tierwelt", lässt sich laut Karul anhand der archäologischen Darstellungen annehmen. Aber die neue Art des Zusammenlebens habe vieles verändert, nicht nur die Methoden, mit denen man die Umgebung genutzt und sich ernährt habe.

Bei diesem Thema wird der höfliche Archäologe deutlich: "Ein paar Hundert Jahre später stellten sich diese Menschen ins Zentrum des Universums. Deswegen nenne ich diese Zeit den 'Anfang vom Ende': Mit den großen Gemeinschaften kamen große Probleme wie Kriege und die Ausbeutung der Umwelt, die wir heute immer noch haben."
Wie es mit den Gesellschaften, deren Vorfahren die Megastrukturen bauten, weiterging, ist unklar. Durch Viehzucht und das Bewirtschaften von Feldern dürften sie sich verändert haben, aber der Experte bezweifelt, dass dies der einzige Grund war, die Stätte zu verlassen. Ein sozialer Kollaps ist nicht ausgeschlossen.
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