
aus spektrum.de, 12. 4. 2024 zu Jochen Ebmeiers Realien
... Eine
der beeindruckendsten Vorhersagen der allgemeinen Relativitätstheorie
konnte genau 100 Jahre nach Albert Einsteins Veröffentlichung bestätigt
werden: die winzigen Schwingungen der Raumzeit, die als
Gravitationswellen bekannt sind. Als dieses bahnbrechende Ergebnis
bekannt gegeben wurde, war de Rham bereits Professorin am Imperial
College und sollte mit ihren Kollegen eigentlich ein
Vorstellungsgespräch führen. Aber sie alle fieberten der erwarteten
Ankündigung so freudig entgegen, dass sie die Sitzung abbrachen, erzählt
sie in ihrem Buch: »Aufgeregt stürzten wir in den Gemeinschaftsraum, um
den Durchbruch mit unseren Studenten und Postdocs zu feiern. Das war
der Beginn einer neuen Ära!«
Allgemeine Relativitätstheorie | Mit seiner allgemeinen
Relativitätstheorie beschrieb Albert Einstein die Schwerkraft als Folge
einer gekrümmten Raumzeit.
Die
Entdeckung der Gravitationswellen zeigt, dass die Schwerkraft der
elektromagnetischen Kraft ähnelt. Bewegt man zum Beispiel eine
elektrische Ladung durch den Raum, dann strahlt sie Wellen ab, etwa
Licht. Bei Massen ist das genauso – nur dass sie Gravitationswellen
aussenden. Die Objekte bringen durch ihre Bewegung die Raumzeit zum
Schwingen. Weil die Schwingungen winzig sind, sind für ihren Nachweis
hochempfindliche Messinstrumente nötig, die erst Mitte der 2010er Jahre
zur Verfügung standen.
Mit
diesen Gravitationswellendetektoren haben Physikerinnen und Physiker
ein völlig neues Instrument zur Hand, um den Kosmos zu erkunden. Denn
auch wenn die allgemeine Relativitätstheorie bisher allen
experimentellen Tests standhielt, wirft sie einige Fragen auf. Will man
zum Beispiel den Anfang des Universums oder das Innere Schwarzer Löcher
beschreiben, stößt man auf unendliche Werte, die keine physikalische
Entsprechung haben. »Aber genau diese Fälle interessieren uns«, sagt de
Rham. »Um zu begreifen, wo wir herkommen und wie das Universum überhaupt
entstehen konnte, müssen wir diese Situationen verstehen.«
Eine Faszination für den Kosmos
Als de Rham im Alter von zehn Jahren nachts von Zürich nach Antananarivo flog, blickte sie in den Sternenhimmel. Wieder ein Umzug, wieder eine neue Schule, wieder neue Freundschaften, die sie schließen musste. »Als ich fast alle Dinge und Menschen zurückließ, die ich während der vergangenen Jahre gekannt hatte, begleitete uns der Mond auf der Reise«, schreibt de Rham in ihrem Buch. Der Mond und mit ihm der ganze Himmel wären ihre Gefährten geblieben. »Egal wo ich war, ich wusste immer, dass ich auf sie zählen konnte wie auf eine Familie.« Und so fasste sie einen Entschluss: Sie würde fortan alles dafür geben, um dem Himmel nahe zu kommen und ihn in seinem Wesen zu verstehen.
Ab diesem
Zeitpunkt richtete de Rham ihr Leben nach dem Ziel aus, Astronautin zu
werden. Als Zehnjährige waren ihre Möglichkeiten begrenzt. Deswegen
begann sie damit, Tauchunterricht zu nehmen, um sich an das Gefühl der
Schwerelosigkeit zu gewöhnen. Sobald sie alt genug war und Geld
verdiente, machte sie einen Flugschein. Als ihre Sehkraft anfing
nachzulassen, trainierte sie jeden Tag die Muskeln ihrer Augen, um der
Kurzsichtigkeit entgegenzuwirken. Und schließlich entwickelte sie ein
eigenes Computerprogramm, um sich auf die anspruchsvollen Tests
vorzubereiten, die bei einer Eignungsprüfung Astronauten erwarten.
Flugschein | Während ihres Postdocs in Kanada machte Claudia de Rham ihren Flugschein, um dem Himmel möglichst nah zu kommen.
Auch
ihr Astronomiestudium passte zu ihrer Leidenschaft. Sie bekam in den
ersten Semestern die Gelegenheit zu einem Praktikum beim Jet Propulsion
Laboratory der NASA in Kalifornien. »Es klang wie ein Traum«, erinnert
sich de Rham, während sie in ihrem Büro am Imperial College London
sitzt. Die engen, blauen Gänge des Gebäudes erinnern zwar an eine
Turnhalle, doch ihr Arbeitsbereich ist geschmackvoll. Eine grüne Pflanze
in der Ecke, ein gelber Sessel mit dazu passendem Tisch, selbst gemalte
Bilder ihrer Töchter und etliche Bücher. Eine Wand ist vollständig von
einer Tafel bedeckt, die viele physikalische Gleichungen zieren. »Am JPL
sollte ich Messungen des Magnetfelds auf dem Mars auswerten. Das waren
völlig neue Informationen über unseren Nachbarplaneten«, sagt de Rham.
Doch die Aufgabe erwies sich als nicht allzu spektakulär. »Letztlich war
es einfach nur Datenverarbeitung. Ich wollte aber etwas Grundlegenderes
tun – ich wollte wirklich die Funktionsweise des Universums verstehen.«
Das war der Zeitpunkt, an dem sie beschloss, die Astronomie sausen zu lassen und sich stattdessen der theoretischen Physik zu widmen. So könnte sie an den fundamentalen Theorien mitwirken, die unsere Welt beschreiben sollen.
Und schnell wurde klar, dass sie
die richtige Entscheidung getroffen hatte. Denn im Jahr 1998
veröffentlichte das Team um den Kosmologen Adam Riess ein Ergebnis, das
allen bisherigen Erwartungen widersprach und das die etablierten
physikalischen Theorien bis heute nicht richtig erklären können.
Das Problem mit der kosmologischen Konstante
Als
de Rham ihr Studium begann, wussten Physikerinnen und Physiker bereits,
dass sich das Universum ausdehnt. Denn die Distanz zu allen weit
entfernten Galaxien – egal, in welche Richtung des Nachthimmels man
blickt – nimmt mit der Zeit zu. Das ist ein Trend, der seit dem Urknall
anhält, als Raum und Zeit und alle darin enthaltene Materie
unvorstellbar dicht zusammengequetscht waren und sich plötzlich
schlagartig ausdehnten. Die Gravitationskraft wirkt dieser Expansion
allerdings entgegen. Deshalb gingen Fachleute davon aus, dass das All
mit der Zeit immer langsamer auseinanderstreben würde.
Genau das wollten Riess und seine Kollegen nachweisen, als sie weit entfernte Sternenexplosionen beobachteten. Doch sie fanden das Gegenteil vor: Das All dehnt sich immer schneller aus. Es gibt also keine Verlangsamung, sondern eine Beschleunigung! Das brachte die Fachwelt in Erklärungsnot – und führte zur größten Unstimmigkeit in der Geschichte der Wissenschaft.
»Um die beschleunigte Expansion zu erklären,
braucht man eine neue Art von Energie«, erklärt de Rham den Schülerinnen
während ihres Vortrags. Diese lässt sich ganz harmlos als
»kosmologische Konstante« Λ in die Gleichungen der allgemeinen
Relativitätstheorie einfügen. Das hatte bereits Albert Einstein erkannt;
doch dann entfernte er die Konstante wieder und betitelte sie angeblich
als größte Eselei seines Lebens. Wie sich im Jahr 1998 zeigte,
anscheinend zu Unrecht.
Dieses
Λ symbolisiert eine seltsame Energie, die gewissermaßen negativen Druck
ausübt und mit zunehmendem Raum anwächst. »Wenn wir eine Kiste voll
Dunkler Energie haben und ihre Größe verdoppeln, nimmt die Gesamtenergie
in der Kiste zu«, sagt de Rham zu den aufmerksamen Schülerinnen.
Schnell schien eine Erklärung für diese mysteriöse Kraft parat, die
alles auseinandertreibt. Denn tatsächlich sagt ein völlig anderer Zweig
der Physik eine Energie voraus, die Raum und Zeit immer und überall
ausfüllt.
Kosmische Ausdehnung | Nach heutigem Wissensstand gab es kurz nach dem
Urknall eine Phase der Inflation, in der sich das Universum unheimlich
schnell ausdehnte. Doch auch jetzt dehnt sich der Kosmos noch immer
beschleunigt aus. Woran das liegt, ist unklar.
Dabei
handelt es sich um den zweiten großen Grundpfeiler der modernen Physik,
die Quantentheorie. Auch diese erschütterte zu Beginn des
20. Jahrhunderts unser Weltbild. Einerseits festigt die Quantenphysik
die Sichtweise, dass alles in unserer Welt aus winzigen
Elementarteilchen besteht; andererseits entsprechen diese nicht bloß
punktförmigen Objekten, sondern besitzen auch wellenartige
Eigenschaften. So lässt sich beispielsweise einem Elektron keine
eindeutige Position zuordnen; man kann nur Wahrscheinlichkeiten für
dessen Aufenthaltsort angeben.
Die Quantentheorie eröffnet auch
einen neuen Blick auf das Nichts. Demnach gibt es keinen völlig leeren
Raum. Immerzu zündet ein regelrechtes Feuerwerk aus kurzlebigen Teilchen
und Antiteilchen, die aus dem Nichts entstehen und sich sogleich wieder
vernichten. Das Vakuum ist daher nicht leer – und besitzt laut
Quantentheorie somit keine Energie von null, sondern es hat im Mittel
einen größeren Wert. »Die Vakuumenergie füllt auch noch die innerste
Schicht des Universums; sie wirkt genau wie eine kosmologische
Konstante«, erklärt de Rham.
Die Größe von Λ*, die Kosmologen aus ihren
Beobachtungen ableiten, und jene, welche die Quantentheorie vorhersagt,
passen nicht zusammen. Und zwar so gar nicht. Um genau zu sein, ist der
von der Quantentheorie vorhergesagte Wert um 120 Größenordnungen zu
riesig. Das heißt, man müsste ihn durch eine Eins gefolgt von 120 Nullen
teilen, um in etwa auf den von der Kosmologie vorhergesagten Betrag zu
kommen. Eine so hohe Vakuumenergie würde laut Albert Einsteins Theorie
das Universum so stark krümmen, dass wir kaum bis zum Mond blicken
könnten.
Eine so große Diskrepanz gab es in der Wissenschaft noch nie – und das, obwohl die allgemeine Relativitätstheorie und die Quantentheorie die am besten getesteten Theorien sind!
Daher ist
klar: Eine neue Theorie muss her, um das Problem der kosmologischen
Konstante zu lösen. Eine solche könnte de Rham gefunden haben. Doch
nicht jeder ist davon begeistert.
Ein harter Kampf
Für
de Rham ist es nicht ungewöhnlich, eine Außenseiterin zu sein. Auf
Madagaskar fiel sie zwar durch ihre helle Hautfarbe auf, fühlte sich
aber nicht ausgeschlossen. Schwieriger war es für sie in den Hörsälen in
Lausanne. Sie hatte angenommen, dort eine von vielen zu sein, sich in
das Gesamtbild einzufügen. »Ich war aber nur eine von sehr wenigen
Frauen, damit hatte ich nicht gerechnet«, erzählt sie, als wir in ihrem
Büro sitzen. Auf Madagaskar sei das anders gewesen, ebenso wie in
Südamerika oder Asien. »Dort sind Naturwissenschaften nichts typisch
Männliches.«
Oft habe keine böswillige Absicht dahintergesteckt,
sagt de Rham. Dennoch behandelten ihre Kommilitonen sie anders. Es seien
die subtilen Kleinigkeiten gewesen, die ihr das Gefühl gaben, fehl am
Platz zu sein. Oft wurde sie belächelt oder in andere Räume geschickt,
weil man dachte, sie habe sich verlaufen. Manchmal ging es weiter: Sie
wurde nicht ernst genommen oder musste sich abfällige Witze von
Professoren anhören. Doch sie kämpfte sich durch ihr Studium. Die
gleiche Beharrlichkeit legte sie an den Tag, als es um ihren
eigentlichen Lebenstraum ging.
Kindheit in Peru | Claudia de Rham (links) ist es gewohnt,
herauszustechen. In ihrer Kindheit in Peru oder in Madagaskar fiel sie
durch ihr Äußeres immer auf.
Im
Jahr 2008, inzwischen hatte sie einen Doktortitel und arbeitete in
Kanada, war es endlich so weit: Die ESA startete die lange ersehnte
Auswahlrunde für Astronautinnen und Astronauten. Und es schien, als
hätten sich die vielen Vorbereitungen für de Rham ausgezahlt. Die
Physikerin setzte sich gegen knapp 20 000 Personen durch und landete mit
41 anderen in der engsten Auswahl. Sie ließ etliche medizinische
Untersuchungen über sich ergehen, die alle reibungslos verliefen. Nur
die Resultate des Tuberkulose-Tests fehlten noch, um weiterzukommen.
Als
de Rham nach den medizinischen Check-ups gerade in das Flugzeug stieg,
das sie aus Europa zu ihrem Wohnort in Kanada bringen sollte, erreichte
sie eine Nachricht auf ihrem Handy: Sie war positiv auf latente
Tuberkulose getestet worden. Sie würde niemals Astronautin werden.
Eine schwere Schwerkraft
»Statt
diesen Lebensabschnitt als das Ende meines Abenteuers mit der
Gravitation zu betrachten, sah ich in ihm die Gelegenheit eines
Neuanfangs«, schreibt de Rham in ihrem Buch. Und so stürzte sie sich
noch tiefer in ihre Forschung – in der Hoffnung, dem Universum durch ein
besseres Verständnis möglichst nah zu kommen.
Dafür untersuchte
sie, wie sich die Schwerkraft auf der Quantenebene verhält. »Warum leben
wir in drei Raumdimensionen?«, fragt mich die Physikerin. Und antwortet
gleich selbst: »Viele gehen davon aus, dass es einen Mechanismus auf
kleinster Ebene gibt, der das erklärt.« Diesen suchte de Rham in
Schwerkraftmodellen mit höheren Raumdimensionen. Denn eventuell ist die
Anzahl der uns vertrauten Dimensionen nicht alles, was es gibt. »Die
zusätzlichen Raumdimensionen könnten winzig klein aufgerollt oder aber
extrem groß sein – in beiden Fällen würden wir sie nicht wahrnehmen.«
Solche
Möglichkeiten erforschte sie bereits während ihrer Doktorarbeit sowie
in den darauf folgenden Jahren als wissenschaftliche Mitarbeiterin. »Der
Trick besteht darin, anzunehmen, dass die Schwerkraft eine
eingeschränkte Reichweite hat«, sagt sie. So lasse sich besser mit den
überschüssigen Dimensionen arbeiten. In der allgemeinen
Relativitätstheorie von Albert Einstein gibt es keine solche
Begrenzung – egal, wie weit Massen voneinander entfernt sind, sie ziehen
einander an.
Um das in einer alternativen Version der
Schwerkraft zu ändern, muss man die Eigenschaften der Gravitationswellen
modifizieren. Diese dürfen sich dann nicht mehr, wie in Einsteins
Formulierung, mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten, sondern langsamer.
Diese Veränderung bringt extreme Folgen mit sich.
Gravitationswellen | Bewegen sich Massen innerhalb der Raumzeit,
erzeugt das Gravitationswellen, die mit hochempfindlichen Detektoren
gemessen werden können.
Was
das genau bedeutet, verrät ein Blick auf die Schwerkraft aus Sicht der
Quantenphysik. Fachleute gehen davon aus, dass Gravitationswellen –
ähnlich wie Licht – auf kleinster Skala aus winzigen Häppchen bestehen.
Demnach gibt es also ein Gravitations-Quantenteilchen, ein so genanntes
Graviton. In der einsteinschen Version der Schwerkraft mit
lichtschnellen Gravitationswellen ist das Graviton masselos. Sollten
sich Gravitationswellen aber langsamer ausbreiten, besäße das Graviton
eine Masse. Deshalb bezeichnen Fachleute die Modelle mit begrenzter
Schwerkraft als »massive Gravitation«. Und erstaunlicherweise könnten
diese Theorien das Problem der kosmologischen Konstante lösen.
Eine geisterhafte Theorie
In
massiven Gravitationstheorien hat die Schwerkraft keine unbegrenzte
Reichweite. Deshalb würde die riesige von der Quantenphysik
vorhergesagte Vakuumenergie den Raum nicht so stark krümmen, wie es
Einsteins Formulierung vorhersagt. Die starke Vakuumenergie könnte in
der massiven Gravitationstheorie also tatsächlich mit den kosmologischen
Beobachtungen zusammenpassen und somit die beschleunigte Ausdehnung des
Universums erklären.
Allerdings erkannten Forschende in den 1970er Jahren, dass die massive Gravitation erhebliche Probleme mit sich bringt: Sie enthält Geister. Dabei handelt es sich nicht um übernatürliche Erscheinungen, sondern um Zustände mit negativer Energie. Für Fachleute sind solche Zustände nicht weniger beängstigend. Sie dürften ebenso wenig existieren wie die Geister in Gruselgeschichten.
»Sobald
wir in unserem Bild vom Universum Geistern Zutritt gewähren, kann ein
gesundes, normales Teilchen sich dadurch Energie verschaffen, dass es
sich einfach die erforderliche Menge aus dem unerschöpflichen Vorrat an
Geistern mit negativer Energie borgt«, erklärt de Rham in ihrem Buch.
Ein Atom könnte sich beispielsweise in beliebig angeregte Zustände
bringen, wenn die Elektronen dank der Geister in immer höhere Schalen
hüpfen – was in der Realität niemals vorkommt. Das Auftreten dieser
Geister verurteilte die massive Gravitation zum Scheitern.
Massive Gravitation | Die allgemeine Relativitätstheorie sagt zwei
verschiedene Schwingungsmoden der Raumzeit voraus (oben). Die blauen
Kreis- und Ellipsenflächen zeigen die Verformungen der Raumzeit, wenn
sich die Gravitationswelle aus dem Bild herausbewegt. In der massiven
Gravitationstheorie gibt es drei weitere Schwingungsmoden (unten). Die
Pfeile geben dabei die Ausbreitungsrichtung der Gravitationswelle an.
Das
war der Wissensstand, den de Rham hatte, als sie an erweiterten
Gravitationsmodellen forschte. Wie jeder ernst zu nehmende
Wissenschaftler zog sie daher die massive Schwerkraft nicht in Betracht.
Sie nutzte zwar Modelle mit massiven Gravitonen, aber nur, um die
überschüssigen Raumdimensionen zu untersuchen – und nicht, um damit
unsere Welt zu beschreiben.
Damals arbeitete sie eng mit dem Physiker Gregory Gabadadze von der New York University zusammen. »Er ist ein wahnsinnig inspirierender Mensch«, sagt de Rham, die sich noch heute mit ihm wissenschaftlich austauscht. Und auch der Physiker georgischer Herkunft schätzt de Rham: »Claudia war eine der besten Mitarbeiterinnen, die ich je hatte. Es war eine große Freude und ein Privileg, mit Claudia zu arbeiten«, lobt Gabadadze. Während der fruchtbaren Zusammenarbeit stieß de Rham im Jahr 2010 auf ein Ergebnis, mit dem niemand gerechnet hatte.
In einem ihrer Modelle konnte
das Graviton eine Masse besitzen, ohne dabei die lästigen Geister
heraufzubeschwören. Und es kam noch besser: De Rham erkannte, dass sich
diese Version der Schwerkraft nicht auf hohe Raumzeitdimensionen
beschränkte. Stattdessen schien es möglich, die massive Gravitation auch
ohne Geister in den gewohnten vier Raumzeitdimensionen zu formulieren.
Große Skepsis gegen die Geisterjäger
Zunächst
zweifelte de Rham an ihrem Ergebnis. Ständig hatte man ihr als Frau in
einer männerdominierten Welt das Gefühl gegeben, nicht ganz
dazuzugehören, ein Sonderling zu sein. Oft hatte man sie unterschätzt,
ihr nichts zugetraut. Diese Gedanken hatte sie inzwischen verinnerlicht.
Sie prüfte ihr Ergebnis; sie diskutierte mit Gabadadze und ihrem Mann,
dem Physiker Andrew Tolley, der wichtige Ideen einbrachte. Alles schien
korrekt zu sein. Die massive Gravitation war offenbar doch nicht dem
Untergang geweiht.
»Ich war überrascht, dass dies von anderen
vorher übersehen worden war«, erinnert sich Gabadadze. Hatten die
Fachleute in der Vergangenheit allesamt Fehler gemacht? Nein, sie hatten
nur ein Schlupfloch übersehen, sagt de Rham. Zwar treten in der
massiven Gravitation von de Rham, Tolley und Gabadadze auch Geister auf,
aber sie sind an andere Ereignisse gekoppelt. Und wie sich
herausstellt, lassen sich die Modelle so gestalten, dass die Geister
niemals wirklich in Erscheinung treten. Man legt sie gewissermaßen in
Ketten. Diese Möglichkeit hatten alle zuvor übersehen. Und selbst de
Rham hatte nicht damit gerechnet; sie war durch Zufall zur
Geisterjägerin geworden.
Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits Rückschläge gewohnt. Sie hatte schon einen Lebenstraum fallen gelassen. Daher blieb de Rham wie immer beharrlich und arbeitete weiter an ihrem spekulativen Modell, an das niemand glaubte. Sie ging auf die Kritikpunkte ihrer Kollegen ein, entwickelte die Details weiter, räumte Hindernisse aus dem Weg.
»Das war eine anstrengende Zeit«, resümiert de Rham. Und auch die Arbeit mit Gabadadze sei fordernd gewesen. »Er ist ein toller Kollege, aber es ist kein Spaziergang«, erklärt sie mir und lächelt dabei. »Wenn wir gut vorankamen, wurde nicht gesagt: ›Super, dann lass uns jetzt Schluss machen.‹ Nein, dann knieten wir uns erst recht rein und arbeiteten unermüdlich weiter.« Gabadadze räumt ein, deswegen ein schlechtes Gewissen zu haben: »Als mich Claudia für unsere Zusammenarbeit in New York besuchte, arbeitete ich von frühmorgens bis spätabends mit ihr und ließ sie nicht in den Genuss der vielen kulturellen Angebote der Stadt kommen. Ich sollte sie wieder einladen!«
Es dauerte mehrere
Jahre, bis die letzten Zweifel an ihrem erstaunlichen Ergebnis
ausgeräumt waren. Inzwischen sind die Erkenntnisse von Tolley, Gabadadze
und de Rham anerkannt: Es gibt zumindest aus mathematischer Sicht
keinen Grund, warum das Graviton keine Masse besitzen sollte. Eine
massive Gravitation scheint in der Theorie ebenso realistisch wie
Einsteins allgemeine Relativitätstheorie.
Ein Test für die Theorie
Eine
gute physikalische Theorie sollte allerdings nicht nur mathematischen
Prinzipien genügen. Sie muss auch die Welt um uns herum korrekt
beschreiben.
Da sich die massive Gravitation von der allgemeinen Relativitätstheorie unterscheidet, sagt sie auch andere Phänomene voraus. Noch haben Kosmologinnen und Kosmologen aber nichts ausmachen können, was Einsteins Theorie widerspricht. Daher muss die massive Gravitation – gemessen an der bisherigen Präzision – mit der allgemeinen Relativitätstheorie übereinstimmen. Das schränkt die Masse ein, die ein Graviton höchstens haben darf.
Die Masse eines Gravitons hat
nämlich zur Folge, dass sich die Gravitationswellen nicht mit
Lichtgeschwindigkeit ausbreiten. Dabei beeinflusst die Masse die
verschiedenen Frequenzen einer Welle unterschiedlich. Hochfrequente
Gravitationswellen, wie sie gegen Ende eines Kollisionsereignisses
entstehen, sollten kaum etwas von einer kleinen Gravitonmasse spüren.
Niederfrequente Wellen, die sich am Anfang eines Ereignisses bilden,
dürften stärker verlangsamt werden.
Sobald
die Gravitationswellendetektoren die ersten Signale von kollidierenden
Schwarzen Löchern aufnahmen, wurden die Daten auf solche Spuren hin
untersucht: Gibt es eine unerwartete Verzögerung zwischen den hoch- und
den niederfrequenten Teilen der Gravitationswellen? Bis jetzt konnten
Fachleute keine Hinweise darauf ausmachen. Da die Messergebnisse aber
nicht perfekt sind, sondern Unsicherheiten haben, lassen sie dennoch
eine Gravitonmasse von höchstens 10–21 Elektronvolt zu – was etwa 1020-mal weniger ist als die Masse eines Neutrinos, des leichtesten bekannten Teilchens.
Wenn Neutronensterne zusammenstoßen, können die Detektoren auf der Erde sowohl elektromagnetische Signale als auch Gravitationswellen empfangen. Falls Gravitonen eine Masse besitzen, sollten sich die Gravitationswellen langsamer bewegen als das Licht; somit müssten die zwei Signale leicht versetzt ankommen. Doch auch in diesem Fall war bislang kein Unterschied messbar. Das schränkt die Masse des Gravitons weiter auf maximal 10–22 Elektronvolt ein.
Auch die
Struktur des Universums setzt dem Graviton Grenzen. Denn mit wachsender
Gravitonmasse nimmt die Reichweite der Schwerkraft ab. Beobachtungsdaten
legen jedoch nahe, dass sich selbst extrem weit voneinander entfernte
Galaxienhaufen gravitativ beeinflussen. Deshalb dürfte das Graviton
höchstens eine Masse von 10–29 Elektronvolt haben.
Und
letztlich lassen sich auch Präzisionsmessungen der gravitativen
Anziehung zwischen Erde und Mond nutzen, um die massive Gravitation
weiter einzukesseln. Auf diese Weise ergibt sich eine maximale Masse von
10–30 Elektronvolt – eine unvorstellbar winzige Größe, aber
dennoch nicht verschwindend. »Die experimentellen Daten schließen eine
massive Gravitation nicht aus«, stellt Gabadadze fest. Damit sind alle
Möglichkeiten offen: »Die Natur könnte diese Option gewählt haben – oder
auch nicht.«
Neugier und Offenheit
»Um das Problem der kosmologische Konstante zu lösen, brauchen wir bloß eine Masse von rund 10–32 Elektronvolt«
sagt de Rham. Das sei einerseits sehr gut, da diese Prognose zu den
bisher verfügbaren Daten passt. »Andererseits ist der Wert so winzig,
dass wir wohl niemals eindeutig nachweisen können, ob Gravitonen eine
Masse besitzen oder nicht.«
Inzwischen gibt es mehrere
Forschungsgruppen auf der ganzen Welt, die sich mit dieser Version der
Schwerkraft beschäftigen. Allerdings sei es hierbei deutlich
schwieriger, Ergebnisse abzuleiten, als in der allgemeinen
Relativitätstheorie – und diese ist für sich genommen schon alles andere
als einfach. »Es steckt noch jede Menge Arbeit vor uns«, sagt de Rham
lachend und blickt auf ihre vollgeschriebene Tafel.
Wissensvermittlung | Inzwischen ist es Claudia de Rham gewohnt, auf der
Bühne zu stehen. Sie hält regelmäßig Vorträge, in denen sie über ihre
Forschung spricht, wie auch hier bei einem Vortrag in Genf. Das Bild
zeigt einen stillgelegten Zug, auf dem sich ein Graffiti mit Einsteins
Gleichungen der allgemeinen Relativitätstheorie befindet.
Auf
die Frage, ob sie daran glaubt, dass die Schwerkraft wirklich massiv
sei, muss sie kurz nachdenken. »Um ehrlich zu sein, bin ich selbst nicht
völlig davon überzeugt«, gesteht sie. »Aber wir können auf diese Weise
sehr viel über die Gravitation an sich lernen – so eine Gelegenheit
sollte man nicht verstreichen lassen.« So funktioniere nun einmal die
Wissenschaft: Versuch und Scheitern gehören dazu. Wenn man fällt, steht
man eben wieder auf. Damit hat de Rham Erfahrung.
Deshalb sei es so wichtig, immer neugierig zu sein. Genau das rät sie auch den Mädchen an der Londoner Privatschule am Ende ihres Vortrags. Nachdem sie das Problem mit der kosmologischen Konstante erklärt hat, bietet sie ihnen keine mögliche Lösung – kein Wort zu ihrer eigenen Arbeit. Stattdessen beschwört sie ihre Zuhörerinnen: »Wir brauchen euch und eure Ideen, um das zu schaffen.«
Im Gespräch mit de Rham kommt immer mehr der
Eindruck auf, dass es nicht die massive Gravitation ist, der sie sich
verschrieben hat. Vielleicht ist es nicht einmal die Schwerkraft, auch
wenn sie das immer wieder sagt. Vielmehr scheint ihr daran gelegen, ihre
Begeisterung zu teilen, jungen Menschen zu zeigen, was für Wunder in
unserer Welt stecken – und sie zu motivieren, fest an sich selbst zu
glauben und sich nicht einschüchtern zu lassen.
Das
scheint ihr zu gelingen. Obwohl am Ende ihres Vortrags hungrige Mägen
knurren, hebt immer wieder eines der Mädchen die Hand und fragt
interessiert nach. Irgendwann müssen die Lehrer die Runde beenden, die
angedachte Zeit wurde weit überschritten. Und doch bleiben etwa
20 Mädchen im Saal stehen, anstatt sich zur Kantine zu bewegen, und
löchern de Rham mit weiteren Fragen rund um Physik. Und wer weiß:
Vielleicht werden einige von ihnen in Zukunft dazu beitragen, die
Schwerkraft weiter zu enträtseln.
*) der griechische Buchstabe Lambda
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