Sonntag, 27. Juli 2025

Ist Mathematik eine Naturwissenschaft?

C. D. Friedrich                                             
aus spektrum.de, 25.07.2025                                                                          zu

Finitisten lehnen Unendlichkeiten und irrationale Zahlen ab
Eine Mathematik ohne Unendlichkeit – und ohne Pi
Es gibt Strömungen der Mathematik, die Unendlichkeiten ablehnen – und damit auch irrationale Zahlen wie Pi. Kann dieser Finitismus womöglich unsere Welt besser beschreiben?


von Manon Bischoff

Eine Frage beschäftigt die Menschheit seit Jahrtausenden: Gibt es Unendlichkeiten? Schon Aristoteles unterschied vor mehr als 2300 Jahren zwischen zwei Arten von Unendlichkeiten, einer potenziellen und einer echten. Erstere ergibt sich durch wiederholte Prozesse, zum Beispiel wenn man einfach ewig weiterzählt – es existieren also potenziell unendlich viele Zahlen. Echte Unendlichkeiten hingegen, so glaubte der antike Gelehrte, könne es nicht geben.

Und tatsächlich machten Mathematiker bis zum Ende des 19. Jahrhunderts einen großen Bogen um Unendlichkeiten. Zu unsicher waren sie, wie man mit diesen Größen verfahren sollte. Was ergibt unendlich plus eins? Oder unendlich mal unendlich? Doch Georg Cantor machte dem Zweifeln ein Ende. Mit der Mengenlehre begründete er erstmals eine mathematische Theorie, die es ermöglichte, mit dem Unermesslichen umzugehen. Seither sind Unendlichkeiten integraler Bestandteil der Mathematik. Bereits in der Schule lernt man die Menge der natürlichen oder der reellen Zahlen kennen, die jeweils unendlich groß sind, oder man begegnet irrationalen Zahlen wie Pi und der Wurzel aus zwei, die unendlich viele Nachkommastellen besitzen.

Und doch gibt es Menschen, so genannte Finitisten, die bis heute das Unendliche ablehnen. Da alles in unserem Universum – darunter auch die Ressourcen, um Dinge zu berechnen – begrenzt zu sein scheint, habe es keinen Sinn, mit Unendlichkeiten zu rechnen. Und tatsächlich haben einige Fachleute einen alternativen mathematischen Zweig aufgestellt, der sich nur auf endlich konstruierbare Größen stützt. Einige versuchen nun sogar, diese Ideen auf die Physik zu übertragen, in der Hoffnung, bessere Theorien zu finden, die unsere Welt beschreiben.

Mengenlehre und Unendlichkeiten

Die moderne Mathematik fußt auf der Mengenlehre, die sich, der Name sagt es schon, um Mengen dreht. Eine Menge kann man sich wie einen Sack vorstellen, in den man alles Mögliche hineinpacken kann: Zahlen, Funktionen oder auch andere Mengen. Indem man die Inhalte verschiedener Säcke miteinander vergleicht, also die Elemente, die sich darin befinden, lässt sich die Größe der Säcke bestimmen. Das heißt: Wenn ich wissen will, ob einer voller ist als der andere, nehme ich aus jedem jeweils gleichzeitig ein Objekt heraus – und schaue, welcher der Säcke als Erstes leer ist.

Das klingt wahrscheinlich nicht besonders erstaunlich – das Prinzip können schon Kleinkinder begreifen. Wie Cantor aber erkannte, lassen sich auf diese Weise auch unendlich große Mengen miteinander vergleichen. So kam er etwa zu dem Schluss, dass es verschieden große Unendlichkeiten gibt. Unendlich ist nicht immer gleich unendlich; manche Unendlichkeiten sind größer als andere.

    Natürliche Zahlen                                                 Gerade Zahlen
Bijektion
Bijektion | Zwei Mengen sind gleich groß, wenn es eine Eins-zu-eins-Abbildung (Bijektion) zwischen den Elementen der jeweiligen Mengen gibt.

Ernst Zermelo und Abraham Fraenkel nutzten die Mengenlehre, um der Mathematik zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Fundament zu verleihen. Bis dahin gab es zwar verschiedene Gebiete des Fachs – wie Geometrie, Analysis, Algebra oder Stochastik –, sie existieren jedoch größtenteils isoliert voneinander. Mathematiker träumten von einem möglichst einfachen Regelwerk, aus dem sich alles in der Mathematik aufbaut. Dieses fanden Fraenkel und Zermelo. Sie formulierten neun Grundregeln, so genannte Axiome, auf die sich inzwischen das gesamte Fach stützt.

Ein solches Axiom ist beispielsweise die Existenz der leeren Menge: Mathematiker nehmen an, dass es das Nichts gibt; einen leeren Sack. Das stellt eigentlich niemand in Frage. Ein anderes Axiom hingegen sorgt dafür, dass auch unendlich große Mengen existieren. Und hier rümpfen Finitisten die Nase. Sie wollen eine Mathematik aufbauen, die ohne dieses Axiom auskommt – eine endliche Mathematik.

Der Traum einer endlichen Mathematik

Finitisten lehnen Unendlichkeiten nicht nur wegen der endlichen Ressourcen ab, die uns in der realen Welt zur Verfügung stehen. Sie stören sich auch an kontraintuitiven Ergebnissen, die sich aus der Mengenlehre ableiten lassen, zum Beispiel das so genannte Banach-Tarski-Paradoxon: Demnach ist es möglich, eine Kugel zu zerlegen und anschließend wieder zu zwei Kugeln zusammenzusetzen, die jeweils so groß sind wie die ursprüngliche. Das heißt, aus mathematischer Sicht ist es kein Problem, eine Kugel zu verdoppeln.

 Drei grüne Kugeln sind nebeneinander angeordnet. Die linke Kugel zeigt ein zerbrochenes Muster auf der rechten Seite. In der Mitte des Bildes befindet sich ein grüner Pfeil, der nach rechts zeigt, um den Übergang zu symbolisieren. Die mittlere Kugel hat ein ähnliches zerbrochenes Muster auf der linken Seite. Die rechte Kugel ist vollständig und unbeschädigt, was eine Reparatur oder Transformation darstellt.
Banach-Tarski-Paradoxon | Eine Kugel mit Volumen V lässt sich in zwei Kugeln mit je einem Volumen von V zerlegen, also verdoppeln.  

Wenn die neun Axiome solche Ergebnisse zulassen, so die Argumentation der Finitisten, dann muss etwas mit den Axiomen falsch sein. Und da die meisten, so wie die Existenz der leeren Menge, völlig intuitiv sind und auf der Hand liegen, lehnen Finitisten jenes ab, das aus ihrer Sicht als Einziges dem gesunden Menschenverstand widerspricht – das Axiom zu unendlichen Mengen.

Insgesamt lässt sich die Auffassung von Finitisten folgendermaßen ausdrücken: »Ein mathematisches Objekt existiert nur dann, wenn es aus den natürlichen Zahlen mit einer endlichen Anzahl von Schritten konstruiert werden kann.« Unter anderem sind irrationale Zahlen kein Teil dieser endlichen Mathematik. Zwar kennt man für einige der Vertreter, wie Pi oder Wurzel zwei, klare Formeln, um sie zu berechnen. Aber diese bestehen aus unendlichen Summen – also Operationen, die unendlich oft durchgeführt werden.

Das bringt weit reichende Konsequenzen mit sich. Zum Beispiel gelten einige logische Grundlagen nicht mehr, wie der von Aristoteles vorgebrachte Satz vom ausgeschlossenen Dritten: Demnach ist eine mathematische Aussage stets entweder wahr oder falsch. Im Finitismus ist das allerdings nicht mehr zwingend der Fall, da eine Aussage zu einem gewissen Zeitpunkt unbestimmt sein kann, falls der Wert einer Zahl noch nicht feststeht. Das ist zum Beispiel der Fall bei Aussagen, die sich um Zahlen wie 0,999... drehen. Wenn man die volle Periode ausführt – also unendlich viele Neunen betrachtet, dann ist 0,999... = 1. Wenn es aber keine Unendlichkeit gibt, ist diese Aussage schlicht falsch.

Eine finitistische Welt?

Ohne den Satz vom ausgeschlossenen Dritten ergeben sich jede Menge Schwierigkeiten. Denn tatsächlich fußen viele mathematische Beweise auf eben diesem Prinzip. Kein Wunder, dass sich nur wenige Mathematikerinnen und Mathematiker dem Finitismus verschrieben haben – das Ablehnen von Unendlichkeiten macht das Fach nicht etwa einfacher, sondern deutlich komplizierter.

Und doch gibt es inzwischen sogar Physiker, die dieser Philosophie folgen, unter anderem Nicolas Gisin von der Université de Genève. Dieser hat die Hoffnung, dass eine endliche Welt der Zahlen unser Universum besser beschreiben könnte als die jetzige moderne Mathematik. Grundlage seiner Überlegungen ist, dass Raum und Zeit offenbar nur eine begrenzte Menge an Information enthalten können. Demnach hat es keinen Sinn, mit unendlich langen oder unendlich großen Zahlen zu rechnen – denn diese finden im Universum keinen Platz.

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Besonders weit sind die Bemühungen bislang noch nicht fortgeschritten. Trotzdem finde ich es einen spannenden Ansatz. Denn aktuell scheint die Physik gewissermaßen festzustecken: Die grundlegendsten Fragen über unser Universum (etwa, wie es entstanden ist oder was die Grundkräfte sind und wie sie zusammenhängen) sind bislang unbeantwortet. Eine andere Mathematik als Ausgangspunkt zu wählen, um solchen Problemen zu begegnen, ist aus meiner Sicht durchaus einen Versuch wert.

Außerdem ist es generell eine faszinierende Frage, wie weit man in der Mathematik kommen kann, wenn man einige Grundannahmen verändert oder weglässt. Wer weiß, welche Überraschungen im endlichen Bereich der Mathematik lauern? Am Ende läuft es aber auf eine Glaubensfrage hinaus: Glaubt man an Unendlichkeiten oder nicht? Das muss jeder für sich selbst beantworten.

 

Nota. - Beim Denken kann man von allem Bestimmten absehen - das heißt abstra-hieren. Übrig bliebe nicht nichts, sondern ein Unbestimmtes; etwas Bestimmbares, etwas Mangelhaftes. Bestimmten Mangel kann ich mir denken, weil ich ihn mir vor-stellen kann. Mangel-überhaupt müsste ich mir aber schon erräsonieren.

Kann man ein Unbestimmtes denken? Man kann es definieren - und denken, man habe etwas gedacht. Na, vielleicht nicht wirklich; aber man kann damit operieren - umgehen, sagt der Zeitgenosse. Wenn die Operationen etwas Brauchbares ergeben - wenn man z.B. mit (-1) Brücken bauen kann, wie Törleß sagt -, dann ist alles in Ordnung, solange man es dabei belässt. 

"Es gibt" (-1) darf man dann nicht sagen - und nicht behaupten, man könne sich darunter etwas vorstellen. Rechnen kann man damit, und also kann man es denken. Dass man etwas denken kann, heißt nicht, dass "es" das "gibt". Riesen, Drachen und Zwerge kann ich mir vorstellen, aber die Erfahrung lehrt mich, dass sie nir-gends vorkommen als in meiner Phantasie; und das weiß ich positiv, solange es die Erfahrung nicht widerlegt. Sie mir als seiend zu denken, sehe ich keinen Grund: wozu denn?

Es gibt Äpfel und Birnen, die kann ich zählen, hier drei, da fünf: Die gibt es, aber die Drei gibt es nicht, ich muss mir immer etwas Seiendes hinzudenken. Äpfel und Birnen gibt es auch, ohne dass ich sie zähle.

Zahlen gibt es, ohne dass ich etwas zähle, nur beim Rechnen. In der Mathematik. Ist Mathematik eine Naturwissenschaft?

Die Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften stammt von Wilhelm Dilthey. Während der Mensch im ersten Fall 'die Natur außer ihm' un-tersucht, betrachtet er in den "Geistes"-Wissenschaften 'sich selbst und seine Werke'. Gilt es bei jenen, die Dinge aus ihren Ursachen zu erklären, suchen diese, die Taten den Menschen aus ihren Motiven zu verstehen. Die Methode hier ist rationale Rekonstruktion, dort intuitive Einfühlung.

Das ist früh als unbefriedigend empfunden worden. Plausibel und für die Konver-sation tauglich ist es wohl, aber sobald man sich den wissenschaftlichen Grenzfällen nähert – für die die Unterscheidung ja taugen soll, nicht aber für die unstrittigen Fälle! -, lässt sie sich nicht konsequent durchführen. Generell schon darum nicht, weil nach Kant (von dem auch Dilthey ausging) auch in den Naturwissenschaften das menschliche Apriori – die 'Kategorien' und die 'transzendentalen Anschau-ungsformen' Raum und Zeit – immer schon mit enthalten ist. 

Und im Besondern wird es deutlich bei der immanenten Methodenreflexion der Naturwissenschaften: Beschäftigt sich Wissenschaftslogik mit der Natur außer uns oder mit uns selbst und unsern Werken?! Gänzlich verwirrend wird es beim Prüf-stein der Naturwissenschaftlichkeit selber: der Mathematik. Seit Kant gilt, dass in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen wer-den könne, als darin Mathematik anzutreffen ist –  und da bisse sich die Katze in den Schwanz. Denn seit Descartes hieß es, der Mensch könne die Natur erkennen, weil sein Verstand nach denselben Gesetzen vorgehe, die im Innern der Natur walten: der Mathematik. Bei Descartes ist das plausibel, denn beide wurden vom selben Schöpfer ersonnen. 

Ein moderner Naturwissenschaftler könnte, ebensowenig wie Kant, nicht mit Gott argumentieren. Doch als ich 1966 an der Freien Universität mein Studium begann, gab es dort neben den philosophischen und juristischen eine mathematisch-natur-wissenschaftliche Fakultät. Dass die Naturwissenschaften sich heute nobel aller me-taphysischen Erörterungen enthalten, ändert aber nichts daran, dass die vorakade-misch-naive Volksmeinung doch dahin geht, dass irgendwie die Mathematik die Grundlage aller modernen Naturforschung sei, und alles, was sich errechnen lässt, wär von Natur.

Dass also die Erkenntnisse der Mathematik der Schlüssel zum Naturverständnis seien! 

Dann wäre die neue finitistische Richtung der Mathematik ganz gedankenloser Hochmut eines allzugesunden Menschenverstandes, der alles selber anschauen und mit den Händen befühlen muss, was er glauben soll. Glauben aber müsste man Descartes (s. o.), dann gibt es Unendlichkeit wirklich, weil Mathematik mit ihr rechnen kann, und gibt es das Nichts, weil jedes Koordinatenkreuz in seinem Mittelpunkt eine Null zum Ausgang nimmt.

Aber Rechnungen mit einer 0 sind nicht deshalb falsch, weil es ein Nichts nicht gibt. Mathematik und Welt sind einfach zwei paar Schuhe; so wie fühlen und denken.
JE 

 

 

 

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