Donnerstag, 24. Juli 2025

Genie haben heißt nicht, dass man damit leben kann...

 ... sagte Bertrand Russell.

 Ein Schwarz-Weiß-Foto zeigt das Gesicht eines Mannes. Der Mann blickt direkt in die Kamera und hat einen neutralen Gesichtsausdruck. Der Hintergrund ist unscharf, wodurch der Fokus auf dem Gesicht des Mannes liegt.   zu Jochen Ebmeiers Realien  zu Levana 
aus spektrum.de, 23.07.2025  Mit elf Jahren war William Sidis der jüngste Student Harvards. Das Bild zeigt ihn mit ungefähr 17 Jahren, damals wurde er zum jüngsten Dozenten der USA.

Kleine Geschichte eines Wunders unter Wunderkindern
Der Klügere gibt nach, heißt es. Und der Klügste? Hemmer und Meßner erzählen vom Schicksal eines Genies, den manche für den intelligentesten Menschen aller Zeiten halten.

Dass der Intellekt ihres kleinen Billy eine derart rasante Entwicklung durchmachte, war für die Eltern angeblich Ergebnis ihres besonderen Erziehungsstils. Sie folgten dabei den Erkenntnissen, die Vater Boris – ein angesehener Psychologe – bei seiner eigenen Forschung gewonnen hatte. Mutter Sarah war ebenfalls akademisch ausgebildet, sie zählte zu den ersten Frauen mit einem Medizinabschluss in den USA.

Das Wunderkind von Harvard

Eine ihrer Erziehungsgrundsätze lautete, William von Anfang an wie einen Erwachsenen zu behandeln. Ihre Botschaft: Theoretisch wären alle Kinder zu Leistungen in der Lage, wie ihr Sohn sie zeigte: »Was Billy passierte, kann auch eurem Johnny passieren«, schrieb Mutter Sarah.

Was Billy passierte, war relativ bald klar: Der Junge geriet unter immensen Erwartungsdruck. Der Nobelpreis oder eine kleine Revolution der Wissenschaft müsse schon drin sein, hoffte wohl auch Harvard.

Das Campus-Wohnheim tauschte er bald gegen ein privates Apartment, in dem er leichter den Späßen seiner Kommilitonen entging. Dem Abschluss mit 15 folgte die Arbeit am Doktorat. Doch daraus wurde nichts. William verließ die Ostküste, um in Texas am Rice Institute (der heutigen Rice University) in Houston eine Dozentenstelle samt Stipendium anzutreten. Mit 17 Jahren wurde Sidis damit einer der jüngsten Hochschullehrer der amerikanischen Geschichte. Doch die Vorgänge auf dem Campus wiederholten sich, wieder nahm man den Teenager nicht für voll und amüsierte sich auf seine Kosten. Schon nach acht Monaten kehrte er nach Boston zurück. Die Doktorarbeit blieb unvollendet.

1916 schrieb er sich für ein Jurastudium in der Harvard Law School ein. Doch auch sein juristisches Doktorat hat William nie beendet. Er warf vorher hin und kehrte den akademischen Institutionen für immer den Rücken.

Sidis vertauschte die akademischen Zirkel mit einer Welt, die in äußerster Unruhe war. Die Vereinigten Staaten standen kurz davor, in den Ersten Weltkrieg einzugreifen. Als überzeugter Pazifist beschloss Sidis, sich den zahlreichen linken Protesten im Land anzuschließen. Er stürzte sich in ein Gewimmel, das in den USA als »First Red Scare« bekannt ist. Die Sorge vor den »roten« Umtrieben mündete in eine sehr restriktive Gesetzgebung, die sich gegen Einwanderer und Protestierende richtete. Der Sedition Act von 1918 stellte etwa öffentliche Kritik an der US-Kriegsführung unter Strafe. Auf dieser Grundlage wurde Sidis später auch verurteilt, wie Amy Wallace in ihrer Biografie »The Prodigy« schreibt.Anlass dazu gab Sidis am 1. Mai 1919, als er bei einer Demo mit einer roten Fahne ganz vorne lief – und prompt festgenommen wurde. Der Prozess erregte großes Aufsehen: Ist das Wunderkind ein junger Idealist oder ein gefährlicher Radikaler? William wurde jedenfalls zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt, musste die Haftstrafe aber nie antreten. Die Hintergründe blieben im Dunkeln. Wurde Sidis stattdessen in der elterlichen Klinik festgehalten und gegen seinen Willen psychologisch behandelt?

Sicher ist jedenfalls, dass Sidis mit 23 Jahren das elterliche Zuhause verließ und nach New York zog. Es kam zu einem klaren Bruch in seiner Biografie: Ab jetzt suchte er Anonymität und Privatsphäre. Gleichzeitig blieb er aber extrem produktiv. Ein Buch veröffentlichte er noch unter seinem echten Namen, danach verwendete er bloß noch Pseudonyme. Und er schrieb sehr viel, darunter Kolumnen, Bücher, Artikel und Newsletter.

Das Wunderkind zieht sich zurück

Um sich seine privaten Forschungen leisten zu können, suchte er nach einfachen Bürotätigkeiten. Und sei es nur die einer menschlichen Addiermaschine für magere 23 Dollar die Woche, wie die »New York Herald Tribune« amüsiert feststellte. Flog er durch solche Artikel auf oder weil Kollegen ihn erkannten, wechselte er sofort den Arbeitgeber. Für die Öffentlichkeit und die Medien war Sidis nun endgültig das gescheiterte Wunderkind. Jahrzehnte nach seinem Tod stellte sich allerdings heraus, dass seine Bücher teilweise äußerst innovative Forschungsarbeiten darstellten, die jedoch nie in akademischen Kreisen wahrgenommen wurden. Viele seiner Schriften sind heute für immer verloren.

Einen Artikel über ihn, der 1937 im Magazin »New Yorker« erschien, brachte das Fass offenbar zum Überlaufen. Sidis zog wegen Verletzung der Privatsphäre und Verleumdung vor Gericht. Der Prozess gilt bis heute als wegweisend, auch wenn das Gericht Sidis' Argument nicht akzeptierte, auf Grund seines bewussten Rückzugs ins Private sei er keine »Person des öffentlichen Lebens« mehr. Die Verleumdungsklage gewann er allerdings.

William starb 46-jährig am 17. Juli 1944 an einer Hirnblutung. Und was schrieb die »New York Times«? »Sidis, als Knabe ein Wunderkind, gestorben«. Wieder blieb er für die Öffentlichkeit nur das tragische, gescheiterte Wunderkind.

Bis heute kursiert eine Zahl über Sidis, die ihn wahrlich zu einem Wunder unter allen Wunderkindern machen würde: Bei 300 – oder genauer »irgendwo zwischen 250 und 300« – habe sein IQ gelegen. Mithin wäre er der intelligenteste bekannte Mensch überhaupt gewesen; auch das eine Zuschreibung, die immer wieder zu lesen ist. Sidis war mit Sicherheit bemerkenswert begabt, der Wert selbst ist aber nahezu völlig aus der Luft gegriffen. Er stammt aus einer Veröffentlichung von 1942, in der sich der Psychologe Abraham Sperling auf familiäres Hörensagen berief. Einen standardisierten IQ-Test, der die Sache womöglich ein für alle Mal geklärt hätte, hat Sidis – soweit bekannt – nie gemacht. Vielleicht war er dafür einfach viel zu schlau.

 
Nota. - Zu schlau ist sicher nicht der treffende Ausdruck. Er wird wohl allen Ern-stes für unsern bürgerlichen Alltag zu klug gewesen sein, und das dürften seine Eltern denn doch nicht beabsichtigt haben.
JE 

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