Samstag, 26. Juli 2025

Anschauen ist der erste Schritt des Bestimmens.

Illustration von Linien, die ein dreidimensionales Muster bilden          
aus scinexx.de, 15. 7. 2025                                Unser Gehirn übersetzt kurvige Oberflächen zunächst in Linien und Kanten. Dann interpretiert es daraus die ursprüngliche 3D-Form.                                                                   zu Jochen Ebmeiers Realien

Wie unser Gehirn von Schatten auf Formen schließt
Schattierte Wahrnehmung: Wie erkennt unser Gehirn, dass ein abgebildetes Objekt drei-dimensional ist? Welche Rolle spielen Beleuchtung und Schattie-rungen dafür? Wie wir diese Informationen nutzen und verarbeiten, haben nun Forschende erstmals herausgefunden. Demnach wertet unser Gehirn nicht die Licht-Physik hinter den Schatten aus, sondern wandelt sie in simple Linien um.

Wenn wir die Welt um uns herum anschauen, sehen wir in der Regel dreidimensi-onal: Unser Gehirn kann beispielsweise aus subtilen Verschiebungen zwischen den Bildern beider Augen auf die räumliche Tiefe schließen. Bei Objekten oder Ober-flächen spielen aber auch visuelle Effekte wie Schatten eine wichtige Rolle. Wie unsere zweidimensionale Netzhaut diese wichtigen Hell-Dunkel-Abstufungen in dreidimensionale Räumlichkeit übersetzt, ist jedoch bisher unklar.

„Wir wissen, dass die Schatten unserem Gehirn auf irgendeine Weise etwas über die Form des Objekts verraten“, erklären Celine Aubuchon von der Universität Gießen (JLU) und ihre Kollegen. „Aber welche neuronalen Bildmesswerte welche Informa-tionen über die zugrundeliegende 3D-Geometrie anzeigen, ist unklar.“ Denn die Perspektivunterschiede der beiden Augen helfen bei der Schattierung nicht.
Symbolbild von verschiedenen Origami-gefalteten geometrischen Figuren Die Testpersonen sollten Figuren mit unterschiedlicher Form, Beleuchtung und Schattierung vergleichen. Objekterkennung im Experiment 

Aber wie stellt unser Gehirn es stattdessen an? Das hat das Forschungsteam genauer untersucht. „Wir haben uns gefragt, wie Schattierungsmuster für ein Gehirn aussehen würden, das nach Linien sucht“, sagt Seniorautor Roland Fleming von der JLU. Um das herauszufinden, führten Aubuchon und ihre Kollegen verschiedene Experimente mit 30 Versuchspersonen sowie Computermodellen von neuronalen Netzen durch. Diesen präsentierten sie Bilder von verschieden stark beleuchteten Objekten, aus verschiedenen Blickwinkeln.

SchneekristallSymmetrie - Geheimnisvolle Formensprache der Natur

Die Testpersonen sollten dann angeben, wann das präsentierte Objekt mit einer Vorlage übereinstimmte. Dabei verglichen die Forschenden auch den Effekt von realen sowie „seltsamen“ Schatten. Diese künstlerischen Schattierungen brechen die Regeln der Physik, haben aber die gleichen Linienmuster wie echte schattierte Bilder.

Schatten werden in Linien umgewandelt

Es zeigte sich, dass Schattierungsmuster im Gehirn verschwommene Linien erzeugen, die den Kurven von Objekten folgen. Durch das Messen dieser Linien kann das Gehirn die 3D-Form konstruieren. Es muss dabei nicht wissen, wie Licht von Oberflächen reflektiert wird, um Schattierungen zu verstehen. Im Gegenteil: „Das Gehirn kümmert sich nicht darum, ob die Schattierung physikalisch korrekt ist“, sagt Fleming.

Dies bestätigen die Tests mit den Abbildungen der „seltsamen“, physikalisch unrealistischen Schattierungen. „Menschen erkennen die gleichen 3D-Formen aus diesen ‚seltsamen‘ Bildern, was uns zeigt, dass es die Linien sind, die zählen“, erklärt Koautor Steven Zucker von der Yale University. Gegenstände, die tatsächlich eine viel ähnlichere 3D-Form hatten, deren Linienfelder aufgrund anderer Schattierungen aber eine andere Orientierung aufwiesen, identifizierten die Teilnehmenden hingegen nicht als identisch.

Schlüsselrolle für die “Kantendetektoren”

Das Team schließt daraus: Schattierungsmuster werden wie alles Sichtbare in unserem Auge zunächst in zweidimensionale Bilder und Signalmuster übersetzt. „Wenn das Gehirn Signale vom Auge erhält, ist einer der ersten Schritte der visuellen Verarbeitung, das Bild durch eine Reihe von ‚Kanten-Detektoren‘ laufen zu lassen, die es wie auf einer Zaubertafel nachzeichnen. Unser Gehirn sucht also nach Linien“, erklärt Fleming. 

Diese „Kanten-Detektoren“ sind bestimmte Nervenzellen im visuellen Cortex, die die Orientierung eines Bildes erkennen können. Diese Neuronen und ihre Signale sind es offenbar auch, die aus Schatten die verschwommenen, zweidimensionalen Linien erzeugen, die den 3D-Kurven der dargestellten Objekte folgen. Indem das Gehirn diese Linien vermisst, kann es dann die 3D-Form rekonstruieren.

Demnach spielt die „Kantendetektion“ eine viel größere Rolle bei unserer visuellen Wahrnehmung als bisher angenommen. Das Hell-Dunkel des Lichteinfalls scheint hingegen weniger wichtig. „Wir behaupten nicht, dass der Lichteinfall bei der Form-aus-Schattierung-Erkennung gar keine Rolle spielt, sondern nur, dass Orientierungssignale eine überraschend dominante und systematische Rolle spielen“, betonen die Forschenden.

Einblick auch in die Kunst

Das könnte erklären, warum Zeichnungen auf Papier, Leinwand und Co so oft aus Linien und Konturen aufgebaut sind, um die Welt verständlich darzustellen. „Wir wissen nun, welche Informationen das Gehirn in Bildern betrachtet, um die 3D-Struktur der Welt zu verstehen“, sagt Aubuchon. „Vielleicht sind deshalb künstlerische Techniken wie Schattierung und Kreuzschraffur für uns so ansprechend.“

In Folgestudien wollen Aubuchon und ihre Kollegen nun untersuchen, ob neben den Schattierungs- Linien auch andere Linienmuster unsere Wahrnehmung von 3D-Objekten und der Welt beeinflussen. (Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS), 2025; doi: 10.1073/pnas.2503088122

Quelle: Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU)

 

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