zu öffentliche AngelegenheitenDie Tektonik eines bonapartistischen Herrschaftssystems beruht darauf, dass die sozialen Kräfte fragmentiert sind und sich gegenseitig in Schach halten. Da brau-chen sie einen - oder lassen ihn sich immerhin gefallen -, der aufs Gleichgewicht ein Auge hält. Wird irgendwo irgendwer übermächstig, nimmet er hier ein wenig weg und tut dort ein wenig dazu und alle maulen, sind's aber unterm Strich zufrieden. So wirkt der Oberste Schiedsrichter wie eine ausgleichende Kraft, die für den Be-stand des Ganzen bürgt.
Ludwig XIV. hat daraus die Absolute Monarchie modelliert. Sie war möglich in einer Epoche noch relativ statischer agrarisch-feudaler Gesellschaft, in der nur der Hof in Versailles eine wirklich treibende Rolle spielte - namentlich bei der Ausbil-dung eines Markts, solange die gewerbetreibende Bourgeoisie noch lokal zersplittert war.
Doch schon er hatte herausgefunden: Überschüssige Energien im Innern müssen für das Gleichgewicht unschädlich gemacht werden, indem der Herrscher ihnen Ausgang - débouché - nach außen öffnet: Den Untertanen kam seine Herrschaft vor wie ein Feldzug ohne Ziel und Ende, und als er endlich starb, wurde nach sei-nem Sarg gespuckt.
Doch schon Louis Le Grand hatte erkannt: Um eine Krieg dauerhaft zu führen, muss man die, die ihn materialiter führen sollen, für ihn ideell einnehmen. Beute machen war ein einträglicher Zweck zu einer Zeit, wo Kabinettskriege von Söld-nerheeren besorgt wurden. Aber Ludwig musste seine gesamte am Hof versam-melte Adelskaste verführen und für "die Nation" einspannen. Er erfand den My-thos von den 'natürlichen Grenzen', aber die könnten ja irgendwann realisiert sein, und sind daher nur ein schwaches Motiv - und selbst das nur für ein paar Ideologen unter den (wenigen) Gebildeten.
Die Nation ist in der sich ausbildenden bürgerlichen Gesellschaft nur ein Schlag-wort für den inneren Markt. Ist der einmal ausgebildet, strebt ihre immanente Dy-namik nach außen, auf den Weltmarkt. Der Bonapartismus ist, anders als das epo-chale Projekt der absoluten Monarchie, ein Konjunkturprogramm, das vielleicht gestern aktueller war als heute, aber im politischen Formenrepertoire der bürgerli-chen Herrschaft immer latent geblieben ist.
Und als in Frankreich die parlamentarische Vierte Republik den Kolonialkrieg in Algerien weder gewinnen noch beenden konnte, sprang de Gaulle ein und ermög-lichte der Fünften Republik mit einer tüchtigen Portion Bonapartismus, unter Preisgabe parlamentarischen Geplätschers immerhin das demokratisch-repräsen-tative Fundament zu erhalten.
Bonapartismus ist eine technische Formel. Als Kampfbegriff taugt er weder nach der einen noch nach der andern Seite. In einer entwickelten bürgerlichen Gesell-schaft bezeichnete er, wie eigentlich schon unter Louis-Napoleon, eine Übergangs-formel. Auf das endgültige Debakel der Weimarer Demokratie unter Brüning folg-ten die hilflosen bonapartistischen Basteleien unter, abwechselnd, v. Papen und v. Schleicher, aber die machten nur den Weg frei für die nationalsozialistische Macht-erschleichung - die doch als ein bonapartistischer Trick 17 gedacht war!
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Russland ist nach dem Zerfall der Sowjetunion keine entwickelte bürgerliche Ge-sellschaft. Aus dem Zerfall der längst regional feudalisierten Industrie- und Ver-kehrs-Bürokratie und ihrer Fusion mit den nicht minder regionalen Mafia-Familien agglomerierte unter Jelzin wie über Nacht das neue Sozialgebilde der Oligarchen, die plötzlich über Dollarmilliarden geboten, von denen bis heute nicht geklärt ist, woher sie kamen. Das wird sich nachträglich wohl auch mit nachrichtendienstli-chen Methoden nicht mehr eruieren lassen. Doch auf sowjetisch-legalen Wegen wird ursprünglich kaum eines dieser Vermögen akkumuliert worden sein, und eine Menge Beteiligter lebt schon gar nicht mehr und kann nicht reden.
In den wilden Osten, den ihm Jelzin hinterlassen hatte, musste Putin mit vielen Vertrauten aus seiner KGB-Karriere Ordnung schaffen. Der einzige, der wenn überhaupt über die erforderliche menschlich Logistik verfügte, war er, und sein Angriffspunkt waren besagte Oligarchen - bevor sie nämlich daran gehen würden, Russland unter sich aufzuteilen und aus der Weltgeschichte verschwinden zu las-sen.
Chodorkowski war der mächtigste von ihnen und hatte am wenigsten Freunde, zu-mal große Beute winkte, an dem wurde ein Exempel statuiert. Dass er zum Opfer wurde, macht ihn nicht nachträglich zu einem redlichen Mann. Und jedermann wusste: Putin kann, wenn er will. Welche gesellschaftliche Kraft hätte ihn hindern sollen?
Das war's: Eine Kraft gab es neben Putin in Russland nicht, seit er die andern Oli-garchen eingeschüchtert und eingekauft hatte. Was hätte sie auch zusammenbringen können? Sie waren Satrapen einer wie der andere, ihre dringendste Sorge war, dass einer von ihnen bei Hofe vorgezogen würde.
Und alle andern sind wie Spreu. Er hat für jede Interessen- und Neigungsgruppe Parteien geschneidert und auch die Überreste der KPdSU ins Boot geholt. Sie alle buhlen um den besten Platz an der Krippe. Der Staatsapparat ist so gesetzlos und willfährig wie in der Sowjetunion.
Der Haken ist: Daran war das zarische Regime untergegangen - dass alle nur noch zehrten und dümpelten. Wofür soll einer eine Verantwortung übernehmen und eine Leistung erbringen? Als eine energische Kraft auftrat, die etwas wollte, zerfiel alles zu Staub.
Im Jahr 2013 war Putins Popularität im Keller. Im Jahr darauf annektierte er die Krim. Er hatte sein Programm gefunden: Make Russia Great Again!
Es mag schon sein, dass das nicht sein Plan von Anbeginn war. Vielleicht war er ja wirklich irgendwann ein lupenreiner Demokrat, wie ein deutscher Politikrentner mit Nebeneinkünften versichert. Doch weil er sich an der Macht halten will, konnte er es in Russland nicht bleiben.
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Das Fatale für den Rest der Welt ist: Sollte er eines Tages die ganze Ukraine ge-schluckt haben, stünde er wieder vorm selben Problem. Er müsste weitermachen. Die Grenzen der Sowjetuion? Die Grenzen des Ostblocks? Eurasien von der Algar-ve bis zur Kamtschatka?
Dass das China nicht zulassen wird, kann mich nicht trösten.
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