
Von Mentalitätsgeschichte war noch keine Rede, als Diltheys Brieffreund Paul Gf. Yorck seine Fragmente Bewußtseinsstellung und Geschichte zu Papier brachte, selbst der Ausdruck Geisteswissenschaft war noch brandneu. Zu Popularität haben sie es nie gebracht, sie wurden erst 1956 postum bei Niemeyer in Nürnberg veröf-fentlicht. Doch durch Diltheys Vermittlung sind sie über Norbert Elias, Bernhard Groethuysen und Alexandre Koyré schulbildend geworden.
Der kulturanthopologische Ansatz von Lévy-Strauss hat ganz andere Quellen, aber er kam viel später, und was er der 'geistesgeschichtlichen' Richtung verdankt, sollten die Cultural anthroplogists selber erwägen. Denn sie sind nicht die Monopolherren dieses Terrains und nicht einmal seine Entdecker.
Feldforschung ist etwas anderes als Quellenstudium. Doch schon Gf. Yorck war aufgefallen, dass sich der Unterschied zwischen orientalisch-antiker und modern westlicher Bildung nicht auf bestimmte items - und seien es noch so viele - be-schränkt, sondern modal die gesamte Welt- und Lebensauffassung betrifft, was er mit "Bewusstseinsstellung" umschreibt. Okular nennt er die Verständnisweise der alten Griechen und Inder, die etwas zu verstehen meinten, sobald sie es in ein Bild fassen konnten, während der vernünftige Westler seit Descartes alles verräumlichen müsste, um, wie man heute treffend formuliert, damit "umgehen" zu können. (Die dazwischenliegenden Jahrhunderte römischer Klerikalität nennt er fein pointiert das "christlich-antike Amalgam".)
Die Frage ist nicht ("ontologisch"), ob das eine richtige Unterscheidung ist, und gar, ob die eine oder die andere Weltsicht ontologisch "richiger" ist. Sondern das Ge-wahrwerden des Unterschiedes selbst macht augenfällig, dass ein solches Urteil gar nicht möglich ist, weil jeder Urteilende notwendig in der einen oder andern 'Bewusst-seinsstellung' selbst befangen ist. Das ist das wissenslogische Kernproblem aller vergleichenden Kulturwissenschaft und gehört zum täglich Brot des Quellenstudi-ums wie der Feldforschung. Und es ist nicht eine Weltsicht so gut wie die andere Weltsicht. Nämlich nicht in der Welt, der der Wissenschaft-ler angehört, und darum kann er sich nicht nach Gusto für die eine oder die andere "ent-scheiden".
Privat für sich allein mag ers versuchen, aber er riskiert wie Gauguin ein graues Wunder. Dem Rezensenten jedoch scheint es zu genügen, wenn wir unser moder-nes Bild von der Welt, das vom „menschlichen Subjekt gebildet wird, indem es sie von seinem Standort
aus beobachtet“, mit einem Kessel Buntes garnierten. Als ich in der FAZ
seinen Bericht aufschlug, hoffte ich, auf genau solches Material zu
sto-ßen. Das ist er mir schuldig geblieben, und so müsste ich Descolas
dickleibiges Buch selber lesen. Doch das hat er mir auch nicht
schmackhaft gemacht.
Kommentar zur Rezension "Formen der Sichtbarkeit", JE, 7. 4. 22
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