
aus spektrum.de, 27. 1. 2025 u Jochen Ebmeiers Realien
Geschichte der Quantengravitation
Seit einem Jahrhundert versuchen Fachleute, die Quantenphysik mit der Schwerkraft zu vereinen. Die Geschichte ist durchzogen von vielen Durchbrüchen, Wendungen und Streitigkeiten. Ein Überblick über die Entwicklungen der wichtigsten Ansätze.
Themenwoche: Die Jagd nach der Weltformel
Die Gravitation sticht als einzige der vier Grundkräfte heraus: Anders als der Elektromagnetismus und die Kernkräfte scheint sie nicht den seltsamen Regeln der Quantenphysik zu folgen. Viele Physiker sind davon überzeugt, dass eine Theorie der Quantengravitation für ein vollumfängliches Verständnis unserer Welt nötig ist. In dieser Themenwoche beleuchten wir einige Anwärter einer solchen Theorie – und erklären, wie man sie testen könnte.
Wissenschaftsgeschichte: Die 100 Jahre lange Suche nach einer Weltformel
Schleifenqantengravitation: Das Ende der Zeit
Teleparallele Gravitation: Eine neue Raumzeit für eine Weltformel
Nichtkommutative Geometrie: Eine quantenmechanische Struktur des Kosmos
Entropie: Schwarze Löcher als Schlüssel zur Weltformel
Experimente: Folgen Raum und Zeit den Gesetzen der Quantenphysik?
Gödelsche Unvollständigkeit: Ist die Frage nach einer Weltformel unentscheidbar?
»Es gab eine Zeit, in der in den Zeitungen stand, dass nur zwölf Männer die Relativitätstheorie verstanden haben«, sagte Richard Feynman 1965.
»Ich glaube nicht, dass es jemals eine solche Zeit gab. Nachdem die
Leute die Abhandlung (von Einstein) gelesen hatten, haben viele die
Relativitätstheorie auf die eine oder andere Weise verstanden –
sicherlich mehr als zwölf.« Was die zweite große Revolution der Physik
in den 1920er Jahren anging, hatte Feynman hingegen eine andere Meinung:
»Ich kann wohl mit Sicherheit sagen, dass niemand die Quantenmechanik
versteht.« Und diese Meinung vertreten viele Fachleute noch heute, 60 Jahre später.
Kurz
nach Einsteins bahnbrechenden Erkenntnissen entstand eine neue Theorie,
welche die Materie im Universum beschreibt. In dieser verschwimmen die
Grenzen zwischen Wellen und Teilchen; viele Größen wie die Energie von
Atomen scheinen nur noch häppchenweise (gequantelt) aufzutauchen. Und
das vielleicht seltsamste Phänomen: Die Quantentheorie ist von einer
grundlegenden Ungewissheit geplagt. Zahlreiche Größen lassen sich nicht
mehr mit vollständiger Sicherheit bestimmen – nicht einmal mathematisch.
Albert Einstein war bereits während der Veröffentlichung seiner
allgemeinen Relativitätstheorie im Jahr 1915 davon überzeugt, dass seine
Theorie der Schwerkraft nicht endgültig ist und in ein allgemeineres
Konzept eingebettet werden sollte. Ausschlag dafür gab unter anderem das
damalige Atommodell. Anfang des 20. Jahrhunderts gingen Fachleute davon
aus, dass Elektronen den Atomkern umkreisen. Das sorgt aus
elektrodynamischer Sicht für Probleme, denn Ladungen auf Kreisbahnen
geben Strahlung ab, wodurch sie Energie verlieren. Den Berechnungen
zufolge müsste ein Elektron innerhalb von nur 10-10 Sekunden
in den Atomkern stürzen. Ein ähnliches Problem gab es auch bei Einsteins
allgemeiner Relativitätstheorie: Demnach strahlt eine beschleunigte
Masse (selbst eine so kleine wie die des Elektrons) Gravitationswellen
aus, was ebenfalls einen Energieverlust bedingt. Allerdings ist dieser
für Elektronen so gering, dass die Teilchen erst nach etwa 1030 Jahren
mit dem Kern zusammenprallen würden – eine Zeitspanne, die (wie wir
heute wissen) die bisherige Lebensdauer unseres Universums weit
übertrifft.
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Dass Atome eine Lebenszeit von 1030 Jahren haben sollten, war mit den damaligen Modellen der Physik vereinbar. Schließlich würde man einen Kollaps höchstwahrscheinlich niemals bezeugen können. Deswegen widmeten sich die Physikerinnen und Physiker dringenderen Problemen, etwa der vollständigen Entwicklung der Quantenmechanik, die damals noch in den Kinderschuhen steckte, sowie einer Quantentheorie des Elektromagnetismus, die das Atommodell retten und erklären sollte, warum Elektronen nicht innerhalb kürzester Zeit in den Kern stürzen. »Es war ein Zeitalter des großen Umbruchs«, sagt der Wissenschaftshistoriker Alexander Blum vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, der zu der Geschichte der Quantengravitation forscht. »Es war damals keineswegs ausgemacht, dass es die Quantenphysik auf der einen und die allgemeine Relativitätstheorie auf der anderen Seite geben würde.«
Einige Fachleute gingen davon aus, dass eine Quantentheorie des Elektromagnetismus automatisch einen Weg eröffnen würde, auch die Schwerkraft zu quantisieren – schließlich ähneln sich die Formeln beider Theorien für schwache Felder. In beiden Fällen nimmt die Kraft zwischen zwei Objekten mit quadratischem Abstand ab. So schrieben Wolfgang Pauli und Werner Heisenberg 1929 in einer Veröffentlichung zur Quantendynamik der Wellenfelder: »Erwähnt sei noch, daß auch eine Quantelung des Gravitationsfeldes, die aus physikalischen Gründen notwendig zu sein scheint, mittels eines zu dem hier verwendeten völllg analogen Formalismus ohne neue Schwierigkeiten durchführbar sein dürfte.«
Selbst wenn sich das aus heutiger
Sicht als falsch erwiesen hat: Ganz Unrecht hatten die beiden
Theoretiker nicht. Tatsächlich fand sich schnell eine quantisierte
Version der Schwerkraft – allerdings nur für den Fall, dass die
Gravitation sehr schwach ist und die Raumzeitkrümmung keine Rolle
spielt. Darum dreht sich auch der erste Teil von Matvei Bronsteins Doktorarbeit:
Er reproduzierte dieses Ergebnis auf elegante Weise. Im zweiten Teil
seiner Arbeit untersuchte Bronstein, wie sich die Situation verändert,
wenn die Schwerkraft große Werte annimmt.
Angespornt
wurde er dabei von einem Fehler, den der renommierte sowjetische
Physiker Lew Landau gemacht hatte. Dieser hatte fälschlicherweise
behauptet, eine quantisierte Version der Elektrodynamik verhindere es,
dass man das elektromagnetische Feld an bestimmten Raumpunkten messen
könnte. Schnell bemerkten Fachleute den Fehler in Landaus Arbeit. Doch
Bronstein erkannte, dass sich Landaus Überlegungen auf die Schwerkraft
übertragen lassen. Und dort schien Landaus Argument seine Gültigkeit zu
behalten: Die einsteinsche Gravitation lässt sich nicht an präzisen
Raumpunkten vermessen, wenn man die Quantenphysik mit einbezieht.
Das
verdeutlichte Bronstein mit einem Gedankenexperiment: Was passiert,
wenn man einen winzigen Bereich der Raumzeit untersuchen möchte –
sprich, das Gravitationsfeld an einem Punkt im Raum bestimmen will?
Dafür kann man sich ein Mikroskop vorstellen, das immer weiter an einen
Ort heranzoomt. Je feiner man den Raum abgrenzt und je kleiner die
Distanz wird, die man auflösen möchte, desto größer wird laut
heisenbergscher Unschärferelation der Impuls im beobachteten Bereich.
Die Unschärferelation verknüpft beide Größen miteinander. Je präziser
man die eine kennt, desto ungenauer wird die andere. Diese Unsicherheit
wächst immer stärker an, wodurch der Impuls (und damit die Energie)
irgendwann so groß wird, dass, wie wir heute wissen, ein Schwarzes Loch
entstehen würde. Das verhindert jede Vermessung des Bereichs. Verbindet
man Quantentheorie und allgemeine Relativitätstheorie, ergibt sich eine
natürliche Barriere, die es verhindert, die Geometrie eines Punkts genau
aufzulösen. »Es ist kaum möglich, die Quantengravitationstheorie auf
diesen Bereich auszudehnen, ohne die klassischen Konzepte gründlich zu
überarbeiten«, schloss Bronstein daher in seiner Arbeit.
Man müsse sich deshalb von der riemannschen Geometrie, auf der die
allgemeine Relativitätstheorie aufbaut, und von dem bisherigen Bild der
Raumzeit verabschieden. Allgemeine Relativitätstheorie | Mit seiner allgemeinen
Relativitätstheorie beschrieb Albert Einstein die Schwerkraft als Folge
einer gekrümmten Raumzeit.
Dieses Fazit erscheint heute radikaler als zur damaligen Zeit. Die physikalische Welt hatte gerade mehrere Umstürze erlebt, was einen solchen Perspektivwechsel nicht so außergewöhnlich machte. Doch die Fachwelt, die mit anderen Fragestellungen beschäftigt war, widmete Bronsteins Ergebnissen nur wenig Aufmerksamkeit. »Bronstein war ein historischer Ausreißer«, sagt Blum. »Im Nachhinein wird er oft als Visionär bezeichnet, aber es gab damals noch nicht die theoretischen Grundlagen, um seine weit reichende Aussage zu untermauern. So gab es zu Bronsteins Zeiten das Konzept des Schwarzen Lochs noch gar nicht.« Sein Gedankenexperiment sei zwar nachvollziehbar, aber es fehlte ein solider Ansatz, der Quantenphysik und allgemeine Relativitätstheorie miteinander vereint, an dem das exemplarisch gezeigt wird. Leider blieb dem Physiker trotz seines jungen Alters kaum noch Zeit, seine weitere Arbeit fortzuführen: 1937 wurde Bronstein im Zuge der stalinistischen Säuberungen im Alter von 30 Jahren verhaftet und kurz darauf getötet.
Mit
diesem tragischen Ende lag auch das Gebiet der Quantengravitation gute
15 Jahre lang brach. Erst in den 1950er Jahren kam der Physiker John
Wheeler auf ähnliche Schlüsse wie Bronstein,
ohne von dessen Arbeiten gewusst zu haben. In dieser Zeit keimten drei
grundlegend verschiedene Ansätze für eine Theorie der Quantengravitation
auf, die in abgewandelter Form bis heute verfolgt werden. Mehrmals
schien es, als stünde eine ausgearbeitete Theorie kurz bevor – doch
jedes Mal gab es herbe Rückschläge, so dass bis heute eine
quantenphysikalische Theorie der Schwerkraft fehlt.
Erste Schritte in Richtung Quantengravitation
Bereits
in den 1930er Jahren hatten Bronstein und andere Kollegen den Fall
einer flachen Raumzeit, also schwacher Gravitation, untersucht und
quantisiert. Um auch die Raumzeitkrümmung in diesen Ansatz einzuführen,
fügten Fachleute zunächst kleine Schwankungen zur flachen Geometrie
hinzu. Ziel war es, diese Änderungen durch eine Quantentheorie
auszudrücken. Das ist ein beliebter Ansatz in der Physik, der als
Störungstheorie bezeichnet wird: Man beginnt mit dem denkbar einfachsten
Spezialfall, der sich meist noch exakt lösen lässt (in diesem Fall die
flache Raumzeit), und fügt dann nach und nach kleine Abweichungen hinzu,
um kompliziertere Fälle zu betrachten.
Schnell fiel auf, dass
sich die kleinen Störungen der flachen Raumzeit durch ein bestimmtes
Teilchen beschreiben lassen, das so genannte Graviton. In diesem Bild
ergibt sich die gekrümmte Raumzeit der allgemeinen Relativitätstheorie
durch eine flache Geometrie, die durch das Graviton verformt wird.
Ergebnisse dieses Wegs sollten sich in den 1980er Jahren schließlich mit
der Stringtheorie verbinden lassen.
Renormierung | Messgrößen wie die Ladung eines Teilchens entsprechen
nicht ihren tatsächlichen (»nackten«) Werten. Weil das Vakuum nicht leer
ist und aus vielen kurzzeitig erscheinenden
Teilchen-Antiteilchen-Paaren besteht, schirmen diese die Ladung eines
Elektrons ab. Je mehr man sich dem Teilchen nähert, desto größer
erscheint sie. Solche Effekte muss man berücksichtigen, wenn man die
Gleichungen der Quantenfeldtheorien auswertet.
Einen
anderen Ausgangspunkt für eine Quantengravitationstheorie bietet die so
genannte kanonische Quantisierung. In diesem Fall wird die Raumzeit
nicht in zwei Versionen (flach plus Störung) aufgeteilt, sondern soll
als Gesamtes quantisiert werden. Dafür braucht man die grundlegenden
Größen einer Theorie, etwa die Energiefunktion und einige
Beobachtungsgrößen, und drückt diese quantenmechanisch aus. Auf diese
Weise fließen die Unschärferelationen sowie die häppchenweise
auftretenden Werte, die charakteristisch für die Quantenphysik sind, in
die ursprünglich klassische Theorie ein. Ziel des kanonischen Ansatzes
ist es, eine Art Schrödingergleichung zu finden, welche die zeitliche
Entwicklung eines Systems beschreibt. Im Fall der Schwerkraft entspricht
das betrachtete System aber nicht irgendwelchen Teilchen, sondern der
Raumzeit. Dieser Ansatz führte in den 1980er Jahren schließlich zur
Schleifenquantengravitation.
Der dritte Ansatz beruht auf so genannten Pfadintegralen. Bei dieser Methode erhält man eine Quantentheorie, indem man alle verschiedenen Möglichkeiten, wie sich ein System verändern kann, addiert. Für eine Quantengravitationstheorie müsste man daher alle möglichen Formen der Raumzeit summieren, um daraus abzuleiten, wie sich das Universum entwickelt. Dieser Zugang führte später zu Ansätzen wie der kausalen dynamischen Triangulation.
Damit
hatten die Fachleute drei grundlegend verschiedene Wege, die sie für
eine Theorie der Quantengravitation verfolgen konnten. Mittels aller
drei Methoden lässt sich die Mechanik in die Quantenmechanik überführen.
Entsprechend waren die Fachleute Ende der 1950er Jahre hoffnungsvoll,
dass zumindest einer der Ansätze bei der Gravitation funktionieren
würde. Und tatsächlich sahen die Ergebnisse in den folgenden zehn Jahren
viel versprechend aus.
So
konnte Feynman die ersten Quanteneffekte aus dem störungstheoretischen
Ansatz ableiten. Zudem gelang es im Fall der kanonischen Quantisierung,
die Energiefunktion aus Einsteins ursprünglichen Feldgleichungen der
allgemeinen Relativitätstheorie herzuleiten. Es schien nicht mehr viel
für eine funktionierende Theorie der Quantengravitation zu fehlen.
Die Abwärtsspirale
Doch dann kamen die Rückschläge. Denn der störungstheoretische Ansatz führt bei allen Quantenfeldtheorien zu Problemen: In den mathematischen Termen tauchen unweigerlich Unendlichkeiten auf. Die Physiker Gerardus t'Hooft und Martinus Veltman untersuchten in den 1970er Jahren, wie sich diese Unendlichkeiten beheben lassen. Statt sich direkt der störungstheoretischen Gravitation zu widmen, begannen sie ihre Analyse an so genannten Yang-Mills-Theorien, zu denen unter anderem das Standardmodell der Teilchenphysik zählt. Es sollte eine Art Aufwärmübung sein.
Die beiden Forscher bewiesen, dass Yang-Mills-Theorien »renormierbar« sind.
Das heißt: Indem man einige als konstant angenommene Werte wie die
Elektronenmasse, Elektronenladung und die Wechselwirkungsstärke als
veränderlich ansieht, lassen sich die Unendlichkeiten beseitigen. Was
wie ein seltsamer Trick wirkt, lässt sich physikalisch rechtfertigen.
Wenn
man die Ladung eines Elektrons bestimmt, tut man das in der Regel aus
der Ferne. Nähert man sich dem Elektron an, spielen Quanteneffekte eine
Rolle. Laut der Quantentheorie ist der leere Raum nie wirklich leer,
ständig entstehen Teilchen-Antiteilchen-Paare, die sich sogleich wieder
vernichten. In der unmittelbaren Umgebung eines Elektrons schwirren
diese Paare herum und richten sich so aus, dass ihre Ladungen die des
Elektrons abschirmen. Je weiter man sich einem Elektron also nähert, als
desto größer stellt sich dessen wahre Ladung heraus. Demnach variiert
die wahrgenommene Ladung eines Teilchens mit der Distanz, aus der man es
betrachtet. Indem man das beachtet, verschwinden die Unendlichkeiten
der störungstheoretischen Yang-Mills-Theorie.
Störungstheoretischer Ansatz | Es gibt verschiedene Ansätze, um die
Gravitation zu quantisieren. Eine Möglichkeit besteht darin, von einer
flachen Raumzeit auszugehen und kleine Störungen hinzuzufügen. vgl. hier
Die Unendlichkeiten zeigen in diesen Fällen also nur an, dass etwas Wichtiges nicht bedacht wurde. Mit Hilfe der Renormierung konnten 't Hooft und Veltman viele Quantenfeldtheorien vor dem Untergang retten. Für dieses Ergebnis ihrer Aufwärmübung erhielten sie im Jahr 1999 den Nobelpreis für Physik.
Doch
als die beiden Physiker im Jahr 1974 die störungstheoretische
Gravitation mit ihrem Renormierungsformalismus untersuchten, stießen sie
auf eine unangenehme Überraschung. Die unendlich großen Terme scheinen
niemals zu versiegen. Wie sich herausstellt, müsste man unendlich viele
Variablen renormieren, damit die Theorie endlich bleibt. Damit war klar:
Die
allgemeine Relativitätstheorie ist aus störungstheoretischer Sicht
nicht renormierbar – die Unendlichkeiten bleiben immer bestehen. Das
versetzte dem Ansatz, bei dem kleine Störungen einer flachen Raumzeit
hinzugefügt werden, den Todesstoß. Die einzige Möglichkeit, diese
Methode zu retten, besteht darin, eine neue Theorie der Schwerkraft zu
finden.
Auch
der kanonische Zugang zur Quantengravitation mündete in den
1970er Jahren in eine Sackgasse. Bei diesem Ansatz versuchte man, anhand
der Energiefunktion eine Art Schrödingergleichung aufzustellen, mit der
sich die zeitliche Entwicklung des Universums berechnen lässt. Dazu
stellten sich die Fachleute einen extrem abstrakten Raum vor, dessen
Punkte jeweils einer möglichen Geometrie der Raumzeit entsprechen. Die
Energiefunktion sollte bestimmen, wie man sich durch diesen Raum bewegt,
also wie sich die Geometrien der Raumzeit nach und nach verändern.
Bei
den übrigen Grundkräften erwies sich der kanonische Ansatz als
erfolgreich. Allerdings nimmt die Energiefunktion für die allgemeine
Relativitätstheorie eine völlig andere Form an als in den anderen
Fällen. Durch die vielen Symmetrien der Raumzeit gibt es beispielsweise
etliche Wahlfreiheiten, gleichzeitig müssen die Formeln für eine
passende Theorie zahlreiche Bedingungen erfüllen. Als Fachleute diese
auswerteten, stellten sie mit Erschrecken fest, dass die Zeitvariable
aus den Formeln verschwindet. Demnach gibt es in der Theorie keine
Zeitentwicklung. Tatsächlich gilt das bereits für die klassische Theorie
der Schwerkraft, nicht für die quantisierte. Das löste Diskussionen
darüber aus, ob man sinnvolle Physik ohne eine zeitliche Größe machen
könnte.
Kanonischer Ansatz | Beim kanonischen Zugang zu einer
Quantengravitationstheorie wird der der so genannte Zustandsraum in
kleine Häppchen (hier: Würfel) aufgeteilt. Jeder Punkt im Zustandsraum
entspricht einer bestimmten Form, welche die Raumzeit annehmen kann.
Nur
beim dritten Ansatz der Quantengravitation, dem Feynman-Pfadintegral,
gab es zu jener Zeit Fortschritte, die Hoffnung aufkommen ließen.
Verantwortlich dafür war vor allem Stephen Hawking, der Quantenteilchen
in einer gekrümmten Raumzeit untersuchte. Dabei erkannte er, dass sich
die Summe über alle Raumzeitgeometrien sehr einfach berechnen lässt,
wenn man vier Raumkoordinaten statt einer Zeit- und drei Raumkoordinaten
betrachtet. Was zunächst viel versprechend wirkte, führte allerdings
auch in einer Sackgasse. Denn der Ansatz ließ sich nicht für Systeme mit
einer zeitlichen Koordinate verallgemeinern.
Damit steckte die Quantengravitation Ende der 1970er Jahre in einer Krise. Und es war keine naheliegende Lösung in Sicht.
Neue Hoffnung keimt auf
Mitte der 1980er Jahre schien sich das Blatt zu wenden. Nachdem der störungstheoretische Ansatz begraben wurde, erwachte eine alte Idee wieder zum Leben: die der Stringtheorie, eine Quantentheorie von eindimensionalen Fäden, die sich durch die Raumzeit bewegen. Fachleute hatten dieses Modell zwei Jahrzehnte zuvor genutzt, um zu beschreiben, wie Protonen und Neutronen im Atomkern miteinander wechselwirken. Diese Form der Stringtheorie wurde jedoch durch die Quantenfeldtheorie der starken Kernkraft abgelöst, die Quantenchromodynamik.
Den Forschenden war jedoch aufgefallen, dass die Fäden in der Stringtheorie nicht nur die Verbindung von Quarks modellieren, sondern manche Schwingungen der Objekte die Eigenschaften eines Gravitons aufweisen. So keimte die Hoffnung auf, dass auch die anderen Teilchen – Quarks, Gluonen, Elektronen und so weiter – aus den verschiedenen Vibrationen der Strings hervorgehen könnten. Und es schien, als ließe sich die Theorie renormieren. Das war die Geburtsstunde der Stringtheorie als Kandidat für eine Weltformel. Die Stringtheorie beschreibt eine kontinuierliche Raumzeit, in der sich die eindimensionalen Fäden bewegen, und kann einige Ergebnisse der störungstheoretischen Quantengravitation reproduzieren, die Feynman vorangetrieben hatte.
Tatsächlich geht die Stringtheorie weit über den störungstheoretischen Ansatz hinaus. Anstatt bloß eine Quantenversion der Schwerkraft zu bieten, könnte sie alle Grundkräfte miteinander vereinen. Dass sich die Gravitation vielleicht nur in Verbindung mit den anderen Kräften quantisieren lässt, ist nicht völlig abwegig: Die Quantenfeldtheorie der schwachen Kernkraft lässt sich beispielsweise nur in Kombination mit der Elektrodynamik entwickeln. So erhält man die elektroschwache Theorie.
Schnell tauchten aber erste Schwierigkeiten auf. Die Stringtheorie funktioniert beispielsweise nur mit einer zehn- oder höherdimensionalen Raumzeit. Da wir nur drei Raumdimensionen wahrnehmen, schlossen die Fachleute, dass die übrigen sechs ganz klein aufgewickelt sein müssten. Je nachdem, zu welcher Form sie komprimiert sind, ergeben sich andere Gesetzmäßigkeiten. Aufgabe ist es daher, jene Formen zu finden, die zu unserer beobachteten Welt passen. Die Theorie hat weitere Überraschungen parat: Sie sagt zu jedem der bekannten Elementarteilchen ein Partnerteilchen voraus, von denen bisher noch kein einziges beobachtet wurde. Dennoch stieg das Interesse an der Stringtheorie in den 1980er Jahren stark an, als klar wurde, dass sie offenbar eine störungstheoretische Formulierung erlaubt.
Pfadintegral-Quantisierung | Um die Theorie der Schwerkraft in eine
Quantentheorie zu verwandeln, kann man alle möglichen Geometrien der
Raumzeit durch ein so genanntes Pfadintegral summieren.
Zugleich erlebte auch der kanonische Ansatz einen Aufschwung, als der Physiker Abhay Ashtekar eine neue Möglichkeit fand,
um die Zeitentwicklung in der allgemeinen Relativitätstheorie zu
untersuchen. Anstatt einen abstrakten Raum mit allen möglichen
Geometrien einer Raumzeit zu untersuchen, wandte sich Ashtekar einer
anderen Größe zu, dem so genannten Zusammenhang. Dieser beschreibt, wie
sich ein Vektor (oft als Pfeil dargestellt) ändert, wenn man ihn entlang
einer gekrümmten Oberfläche bewegt. Über den Zusammenhang lässt sich
die Krümmung der Raumzeit ermitteln, die in der Mathematik üblicherweise
durch die so genannte Metrik beschrieben wird. Durch diesen Wechsel von
der Metrik zum Zusammenhang erkannte Ashtekar, dass die Energiefunktion
und der zu Grunde liegende Raum, durch den die verschiedenen Geometrien
des Universums codiert sind, einer Quantentheorie ähneln.
Den
endgültigen Durchbruch beim kanonischen Ansatz lieferte ebenfalls eine
ältere, bereits verworfene Theorie. Der Physiker und Nobelpreisträger
Kenneth Wilson hatte 1974 Schleifen eingeführt, um die Vorgänge der
starken Kernkraft jenseits der Störungstheorie zu beschreiben – also
dann, wenn die starke Kernkraft wirklich stark ist. Wie sich
herausstellte, führt das mathematische Konzept der Schleifen auf einer
flachen Raumzeit jedoch zu Problemen. Die Physiker Ted Jacobson und Lee Smolin erkannten 1988,
dass diese Schleifen für eine Theorie der Schwerkraft funktionieren,
die ohne eine zu Grunde liegende Raumzeit auskommt, sondern die Raumzeit
selbst beschreibt. Indem man den abstrakten Raum durch Schleifen
ausdrückt, lässt sich die Theorie quantisieren. Damit war die
Schleifenquantengravitationstheorie geboren.
Auf Basis dieser neuen Formulierung ließen sich 1992 erstmals konkrete Berechnungen durchführen. So leitete der Physiker Carlo Rovelli zusammen mit Ashtekar und Smolin
die Struktur der Raumzeit gemäß der Theorie her. Demnach besteht sie
aus einer Art Gewebe mit schaumartiger Struktur. Damit sagt die
Schleifenquantengravitation eine diskrete Raumzeit voraus. Wenige Jahre
später zeigten Forschende, dass gewisse geometrische Größen wie Flächen
oder Volumen nur häppchenweise vorkommen, also quantisiert sind.
Auch
im dritten Bereich, der Pfadintegral-Quantisierung, gab es in den
1990er Jahren Fortschritte. Der mathematische Physiker Edward Witten,
der im Bereich der Stringtheorie forscht, quantisierte eine dreidimensionale Version der allgemeinen Relativitätstheorie (mit nur zwei Raum- und einer Zeitdimension) mit Hilfe der Pfadintegrale.
Erste Vorhersagen
Zu jener Zeit lieferten die verschiedenen Ansätze der Quantengravitationen erste Ergebnisse. Wieder keimte die Hoffnung auf, eine vereinheitlichte Theorie könnte kurz bevorstehen. Doch wie in den Jahrzehnten zuvor gab es auch dieses Mal Rückschläge.
Mit fortschreitender
Computerleistung entwickelte sich aus dem Pfadintegral-Ansatz ein neues
Gebiet: das der kausalen dynamischen Triangulation. In diesem werden,
wie zuvor auch, alle möglichen Raumzeitgeometrien summiert. Allerdings
gehen die Fachleute dabei nicht von einer kontinuierlichen Struktur aus,
sondern von einer gekörnten. Die Raumzeit wird durch eine Art Gitter
aus winzigen Dreiecken angenähert, damit sie ein Computer
verarbeiten kann.
Doch die Zeit der gemeinsamen Feierlichkeiten währte nicht lange. Denn schon bald brach einer der größten Konflikte aus, den die Welt der Physik je gesehen hat.
Die friedlichen Zeiten sind vorbei
Seit ihren Anfängen in den 1980er Jahren wuchs das Feld der Stringtheorie in den USA sehr schnell an – viel rascher als die anderen Ansätze für Theorien der Quantengravitation. »Das liegt unter anderem an den Grundlagen der Stringtheorie, die von der Teilchen- und Hochenergiephysik kommen«, erklärt Blum. Durch das Manhattan-Projekt hatte die Politik ein großes Interesse an Forschung in diesen physikalischen Bereichen und förderte entsprechende Vorhaben. »In den 1970er Jahren war die Arbeit am Standardmodell der Teilchenphysik so gut wie abgeschlossen«, sagt Blum. Viele Fachleute suchten nach neuen Herausforderungen und wandten sich daher der Stringtheorie zu. So wuchs der Bereich zu einem »übermächtigen Apparat« an, führt Blum aus: »Die Community der allgemeinen Relativitätstheorie, aus der letztlich die Schleifenquantengravitation entstand, war zum Beispiel viel kleiner.«
Trotz ihrer Größe war die Stringtheorie nicht von Erfolgen gekrönt, sondern machte schwer wiegende Probleme: Die Vorhersagen deckten sich nicht mit den Messungen. Zum Beispiel sagte die Theorie eine »R-Symmetrie« voraus, die sich durch bestimmte Teilchenzerfälle äußern sollte. In Experimenten konnten diese allerdings nicht nachgewiesen werden. Also veränderten Stringtheoretiker ihre Modelle, damit sie wieder zu den Beobachtungen passten. Gleiches geschah, als die vorhergesagten Partnerteilchen ausblieben. Stets schien es eine Stellschraube zu geben, an der man drehen konnte, um die erwarteten Belege zu rechtfertigen. Einige Kritiker zweifelten daher zunehmend an der Wissenschaftlichkeit des Bereichs überhaupt.
Und auch die zehndimensionale Raumzeit, welche die Theorie vorhersagt, wuchs 2003 zu einem weitaus größeren Problem an als geahnt. Wie sich damals herausstellte, gibt es extrem viele verschiedene Möglichkeiten – etwa 10500, wie die überschüssigen Raumdimensionen aufgerollt sein könnten. Jede entspricht einer Beschreibung eines Universums. »Das Problem ist nicht unbedingt die schiere Anzahl«, sagte die Physikerin Sabine Hossenfelder zu Arte, »sondern dass bisher keine Lösung gefunden wurde, die unserem Universum entspricht.« Da sich bisher nicht bestimmen lässt, welche Variante mit unserer Welt übereinstimmt, sagen manche Stringtheoretiker, dass sie alle realisiert sein könnten – und wir in einem Multiversum leben.Trotz all dieser Rückschläge hatten zahlreiche Stringtheoretiker wissenschaftliche Lehrstühle an Universitäten inne, produzierten viel zitierte Veröffentlichungen, bekamen Forschungsgelder und gewannen Preise. Allerdings sind die Ressourcen in der Wissenschaft – insbesondere in der Grundlagenphysik – stark begrenzt. Kein Wunder also, dass schon bald ein Streit ausbrach.
»Das wird einfach immer unverschämter und lächerlicher«, beschrieb Peter Woit seine Gedanken,
die er im Jahr 2004 hatte, im Magazin »Nautilus«. Er startete damals
einen Blog, in dem er Kritik an der Stringtheorie übte. »Es gab diese
riesige öffentliche Werbung für die Theorie, all diese Aussagen, wie
wunderbar die Stringtheorie ist … Doch sie funktionierte nicht.« Sein
Hauptkritikpunkt war – und ist noch heute, dass die Theorie keine
überprüfbaren Vorhersagen macht.
»Die Diskussion versiegte in den 2010er Jahren schließlich«, sagt Blum. Viele Fachleute waren zuvor davon ausgegangen, dass der 2010 in Betrieb genommene Teilchenbeschleuniger LHC am europäischen Kernforschungszentrum CERN die von der Stringtheorie vorhergesagten Partnerteilchen nachweisen würde. Doch das stellte sich als Irrtum heraus. Bis heute gibt es keinen Hinweis auf eine Supersymmetrie. »Die Stringtheorie ist spektakulär. Viele Stringtheoretiker sind wunderbar. Aber die Erfolgsbilanz für qualitativ korrekte Aussagen über das Universum ist wirklich miserabel«, sagte der Physiker Nima Arkani-Hamed 2024 zu »Quanta Magazine«.
Leider
blieben auch andere Hinweise auf eine Physik jenseits des
Standardmodells aus. »Dadurch geriet die Grundlagenphysik allgemein
unter Druck«, sagt Blum, »nicht nur die Stringtheorie.« Plötzlich
spielten die internen Streitigkeiten von Quantengravitationstheoretikern
keine so große Rolle mehr, als sich außerdem Physiker aus anderen
Gebieten wie der Festkörperphysik über die Vergabe von Forschungsgeldern
beschwerten.
Nach der Krise ist vor der Krise
Was
hat sich seither im Bereich der Quantengravitation getan? »Noch immer
sind die Stringtheorie und die Schleifenquantengravitation die
wichtigsten Vertreter, wenn man die Größe der Community betrachtet«,
bilanziert Blum. Doch beide Gebiete scheinen seit mehreren Jahren zu
stagnieren. »Die vollmundigen Ankündigungen, wie es sie in den
1990er Jahren gab, bleiben inzwischen aus«, erklärt der
Wissenschaftshistoriker. Angesichts der Kritik, die es in der
Vergangenheit gegeben hatte, lehnen sich die Forschenden nicht mehr so
weit aus dem Fenster. »Auch der Wissenschaftsjournalismus ist in den
Bereich zurückhaltender geworden«, sagt Blum.
Rollentausch
Seit
den so genannten »String wars« haben sich die Gemüter beruhigt, wie
eine 2014 stattgefundene Konferenz in Puerto Rico verdeutlicht. Dort
wurden Carlo Rovelli, einer der berühmtesten Vertreter der
Schleifen-Quantengravitation, und der renommierte Stringtheoretiker
Raphael Bousso auf die Bühne geholt und gebeten, jeweils ein Plädoyer
für die Gegenseite zu halten. Herauskam eine freundliche und voller
Witze und Ironie geführte Debatte, bei der die beiden Physiker auf die
Schwächen der jeweiligen Theorien eingingen.
In
den vergangenen Jahren hat sich der Fokus vieler Stringtheoretiker
verschoben. Statt weiterhin nach einer Weltformel zu suchen, widmen sich
viele der Anwendung stringtheoretischer Konzepte auf andere Bereiche
wie die Kernphysik oder die Festkörperphysik. Die Grundlage dafür legte
eine Entdeckung, die der argentinische Physiker Juan Maldacena im Jahr
1997 machte. Er fand eine Verbindung zwischen einer fünfdimensionalen
Raumzeit mit Quantengravitation (einer einfachen Version der
Stringtheorie) und einer bestimmten Quantenfeldtheorie ohne Schwerkraft,
die sich auf deren vierdimensionalem Rand abspielt. Diese als
AdS-CFT-Korrespondenz bekannte Verbindung wird seither intensiv
erforscht und lässt sich etwa zur Beschreibung von Phasenübergängen
nutzen – für eine Quantengravitationstheorie eignet sie sich hingegen
bislang nicht.
Auch die Schleifenquantengravitation scheint festzustecken. Sie liefert keine Vorhersagen, die sich in naher Zukunft überprüfen ließen. Ebenso ist unklar, ob sich die Modelle der Raumzeit, die sich aus der Theorie ergeben, mit den von uns beobachteten Symmetrien decken.
Da die zwei bisherigen Favoriten nicht weiterkommen, wenden sich Fachleute nun vermehrt anderen Herangehensweisen zu. »Mit der Krise der spekulativen Ansätze bekommen bescheidenere Ideen Aufwind«, erklärt Blum. So sei beispielsweise die »asymptotische Sicherheit« ein wachsender Bereich, der ohne zusätzliche Teilchen oder Raumdimensionen auskommt. »Die Hauptschwierigkeit ist bei allen Theorien aber die mathematische Komplexität«, sagt Blum. »Man muss die atomistische Materie mit einer kontinuierlichen Raumzeittheorie verbinden.« Die Stringtheorie tut das, indem sie auf eindimensionale Fäden zurückgreift, die Schleifenquantengravitation hingegen durch eine gekörnte Raumzeit.Wieder andere, wie der Physiker John Oppenheim, verfolgen einen völlig abweichenden Gedanken. Oppenheim vertritt die unkonventionelle Ansicht, dass die Schwerkraft überhaupt nicht den Gesetzen der Quantenphysik folgt, sondern sich auch weiterhin durch eine klassische Theorie beschreiben lässt. »Im Prinzip folgt er damit dem allgemeinen Trend, einen minimalistischen Ansatz zu wählen«, stellt Blum fest, »nachdem jahrzehntelang ausladende Spekulationen die Nase vorne hatten.«
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