aus spektrum.de, 28.06.2025 zu Philosophierungen
Liebe Leserin, lieber Leser, dass ich jemals eine Kolumne schreiben würde, geschweige denn über Philosophie, und das regelmäßig über mehr als sieben Jahre hinweg, hätte ich nie gedacht, und doch ist es geschehen: Dies ist die 200. Ausgabe von »Warkus’ Welt«. Schön, dass so viele von Ihnen mir über all die Jahre die Treue gehalten haben und noch halten!
Zu diesem Jubiläumsanlass möchte ich einen philosophischen Blick auf die Jahre seit 2017 werfen, und zwar in zweierlei Hinsicht: Erstens versuche ich zu skizzieren, was sich seitdem im wissenschaftlichen Betrieb getan hat; und zweitens, welche Ereignisse in der Welt außerhalb der Institute von besonderer philosophischer Relevanz sind.
Im Philosophiebetrieb scheint mir die wichtigste Entwicklung ein Trend, der nicht philosophiespezifisch ist, sondern in vielen Disziplinen beobachtbar: Lücken und blinde Flecken zu schließen, indem man systematisch über den jeweiligen Tellerrand schaut, Differenzierung und Diversität aufbaut. Dazu gehört es etwa, einen Blick auf die Philosophiegeschichte zu entwickeln, der diese nicht nur als eine Perlenschnur großer alter Männer des abendländischen Denkens sieht, die mit Sokrates beginnt. Philosophie gibt es schließlich auch außerhalb von Europa, und selbst in der europäischen Tradition wird vieles traditionell kaum berücksichtigt. Was etwa in den Jahrhunderten zwischen der mittelalterlichen Scholastik und Descartes (1596–1650) geschah, habe ich im Studium nie gelernt. Da die Philosophie eine besonders konservative Fachkultur hat, gibt es hier besonders viel nachzuholen.
Neben dem neuen globalen und interkulturellen Blick auf das eigene Fach und seine Voraussetzungen gibt es aber auch Trends, was die Inhalte betrifft. So etwa bei der Philosophie analytischen Stils, die in der Tradition von Gottlob Frege, Bertrand Russell, Ludwig Wittgenstein und vielen anderen besonderen methodischen Wert auf Logik, Sprachanalyse und ganz allgemein formale Überlegungen legt. Seit einiger Zeit öffnet sie sich zunehmend Themen und Vorgehensweisen, die soziale Phänomene (wie etwa Ungerechtigkeit oder Geschlecht) in den Mittelpunkt stellen. Hier und da ist schon die Rede von einer sozialen Wende, einem »social turn«, der analytischen Philosophie.
Das heißt freilich nicht, dass »abgehobene«, abstrakte spekulative Philosophie nicht mehr populär wäre. Über metaphysische Abhängigkeit (»Grounding«) oder neue Ausprägungen des Realismus beispielsweise wird nach wie vor enorm viel publiziert. Außerdem gibt es natürlich noch andere Philosophiestile außer dem analytischen. Insgesamt scheint die Auseinandersetzung mit Religion populärer zu werden – insbesondere dort, wo es nicht spezifisch um das Christentum geht. Und natürlich schaut die politische Philosophie und Sozialphilosophie in unseren bewegten historischen Zeiten seit spätestens 2016 zunehmend auf Phänomene wie Autoritarismus oder gesellschaftliche Unterdrückung.
Das bringt mich zum zweiten Thema: Welche welthistorischen Ereignisse waren seit Start meiner Kolumne philosophisch besonders relevant? Leider fallen mir zunächst zwei davon ein, auf deren philosophische Betrachtung ich gar nicht stolz bin, nämlich die Covid-19-Pandemie und die russische Invasion in der Ukraine. Zu beiden Gelegenheiten hat sich die Philosophie nicht mit Ruhm bekleckert. Zwischen 2020 und 2023 hat das öffentliche Ansehen des Fachs einen erheblichen Schaden erlitten: Dass Menschen, die auf das sorgfältige Durchdenken komplizierter und teilweise kontraintuitiver Theoriegebilde spezialisiert sind, nicht immer die besten Ansprechpartner für Tagespolitik in Krisenzeiten sein müssen, hat sich klar gezeigt. Andererseits: Wenn man etwa vergleicht, wie viele fragwürdige »Ad-hoc-Experten« mit IT-, BWL- oder sogar Medizinhintergrund gerade die Pandemie hervorgebracht hat, stellt die Philosophie vielleicht keine Ausnahme dar.
Ein in seiner zeitlichen und räumlichen Dimension alle anderen geschichtlichen Ereignisse übersteigender Vorgang, nämlich die Transformation des Planeten durch die menschengemachte Veränderung des Klimas und Verringerung der Biodiversität, ist an der Philosophie natürlich auch nicht vorbeigegangen. Gerade vor 2020 wurde, zum Beispiel unter dem Schlagwort »Anthropozän«, allgemein-theoretisch, politisch und ethisch enorm viel darüber nachgedacht. Wie in allen gesellschaftlichen Bereichen scheinen aber auch hier Seuche und Krieg die größeren, langfristigeren Probleme dann zumindest zeitweilig verdeckt zu haben.
Nicht zuletzt stellen die Entwicklungen im Bereich der generativen KI auch die Philosophie vor Herausforderungen. Vielleicht weniger theoretisch, weil hypothetische künstliche Intelligenzen, die dem Menschen ebenbürtig sind, in der Philosophie schon seit Jahrzehnten thematisiert werden; sondern vor allem praktisch: Was bedeutet die massenhafte Nutzung von KI, die beliebige Träume zu realem Bildmaterial ummünzen kann, die aber bei der Beantwortung einfachster Faktenfragen gerne einmal ins Flunkern gerät, für unser in erster Linie medial vermitteltes geteiltes Wissen über die Welt?
Eine Herausforderung dieser Kolumne besonders in den letzten Jahren war es, auf Grund der sich geradezu jagenden geschichtlichen Einschnitte nicht ständig philosophische Betrachtungen über Tagesgeschehen und Politik anzustellen, sondern immer wieder auch einen Schritt zurückzutreten und allgemeine, gerne auch völlig zeitlose Fragen zu betrachten. Ich hoffe, dass Ihnen die Mischung bislang zugesagt hat, und freue mich auf die nächsten Jahre.
Nota. - Philosophie wird hier verstanden als ein Nachdenken über Gott und die Welt, sobald es nur einen gewissen Abstand zum Stammtisch hat. Das hat gewiss Nutz und Zweck; mindestens den, die Leser ihrerseits in einen Abstand zu selbst-gefälligem Räsonnieren zu locken.
Es ist aber nicht das, was auf diesen Seiten unter Philosophie verstanden wird. Hier geht es nicht um Gott und die Welt, sondern um die Möglichkeit von Wissen über-haupt.
JE
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