Montag, 30. Juni 2025

Michael Sowa zum Achtzigsten.


aus FAZ.NET,  30.06.2025           In bürgerlichen Kreisen gibt man sich erstaunlich gelassen.           zu Geschmackssachen

Michael Sowa in Frankfurt
Stilvoll in die Apokalypse
Keiner legt sich so elegant in die Kurve wie die Autobahnsau: Frankfurts Museum Caricatura richtet Michael Sowa eine große Werkschau zum achtzigsten Geburtstag aus.

Der Griff ist fest, mit dem die stämmige Frau das kleine Mädchen an diesem Sommerabend weiterzieht, weg von dem Mann mit dem wirren weißen Haar. Der hatte sich den beiden herausfordernd in den Weg gestellt und Geige gespielt, der Kasten liegt auf einer nahen Parkbank. Nun sind sie an ihm vorbei, er spielt immer noch, das linke Bein vorgestreckt, in Habitus und Kleidung noch ein Rest alter Virtuoseneleganz. Er war mal was, kein Zweifel, und wenn das die Passanten nicht erkennen, ist das nicht sein Pech. Oder erkennen sie es und eilen gerade deshalb weiter? Wer weiß, was die Frau dem Mädchen gerade erzählt, während sie so energisch an dessen Hand zerrt. Das Kind aber dreht den Kopf so weit zu dem Geiger in seinem Rücken hin, wie es anatomisch gerade noch geht. Jedes Wort der Frau, so scheint es, macht den Mann nur noch interessanter.

„Der Teufelsgeiger“ heißt das Bild, das nun im Rahmen einer großen Retrospektive zu sehen ist, die das Frankfurter Museum Caricatura dem Maler Michael Sowa zu dessen 80. Geburtstag am 1. Juli ausrichtet. 287 Exponate von mehr als 50 Leihgebern sind dort auf zwei Etagen versammelt, unten meist hängend, oben überwiegend in Vitrinen.

Michael Sowa
Michael Sowa  

Dabei ergeben sich Schwerpunkte, aber keine starre Einteilung der Arbeiten: Im Erdgeschoss bündelt ein offenes Kabinett Bilder, die für Filme wie „Die fabelhafte Welt der Amélie“ entstanden sind oder die legendäre Inszenierung der „Zauberflöte“ an der Frankfurter Oper. In einem Gang hängen Wahlplakate Sowas und politische Arbeiten für das Magazin „Titanic“; die Vitrinen im ersten Stock enthalten zum großen Teil Buchcover und Illus­trationen, die Sowa über die Jahre in großer Zahl schuf, etwa für die ambitionierte Haffmans-Ausgabe der Werke Karl Mays.

Dass ihr unterwegs die Luft ausging, wird man möglicherweise noch mehr um Sowas Titelbilder willen bedauern als wegen ihres Inhalts. Der Künstler, dessen Illus­trationen das Kulissenhafte von Mays Schilderungen lustvoll in seine Bilder überführte, war über das Ende seiner Arbeit an der Ausgabe erleichtert. Und malte, nach eigenen Angaben „zur Entspannung“, noch ein Bild, das offensichtlich von Arno Schmidts Vermutungen zu Mays anatomisch strukturierten Landschaften inspiriert worden ist.

Auch in den übrigen Illustrationen für Bücher etwa von Axel Hacke, Max Goldt und Elke Heidenreich, Hans Magnus Enzensberger, Felicitas Hoppe und vielen anderen Autoren erweist sich Sowa als sensibler Leser, mit Sinn für Komik und Tragik gleichermaßen, etwa im Titelbild zu „Die Radiotrinkerin“ von Max Goldt, das gerade nicht die Titelheldin zeigt, sondern einen ihrer Zuhörer vor einem alten, leinenbespannten Empfänger, die Bierflasche in der Hand und, wie es von außen scheint, herzzerreißend einsam. Ob der an uns vorbeischauende Radiozuhörer sich selbst ebenso sieht, steht dahin.

Michael Sowas „Ferkelrennen im Oderbruch, 1910“ zeigt landschaftliche und sportliche Sensationen.
Michael Sowas „Ferkelrennen im Oderbruch, 1910“ zeigt landschaftliche und sportliche Sensationen. 

Aus diesem reichen Bereich von Sowas Werk zeigt die Ausstellung naturgemäß nur einen Teil. Ein Höhepunkt dieser Abteilung ist ein noch nicht umgesetztes Projekt: die Bebilderung von Peter Hacks’ Geschichte „Pieter Welschkraut“, der sich Sowa in zahlreichen Entwürfen genähert hat. Achtmal ein Teich im Wald, Badende, beobachtet von einem Mann, jedes Mal anders und jedes Mal so, dass man sich über die Skrupel des Künstlers, sich zufriedenzugeben, nur wundern kann. Dass allerdings die variierte Wiederholung auch Sowas übrigem Werk nicht fremd ist, teilt sich in der Ausstellung sofort mit – sein Stillleben „Suppenschwein“ ist hier sowohl in einer alten Fassung wie in einer brandneuen, in diesem Jahr entstandenen und stolz einzeln präsentierten zu sehen.

Groß angelegte Ausstellungen wie diese leben davon, dass es dem Besucher überlassen bleibt, Verbindungen zwischen den einzelnen Werken zu entdecken und herzustellen. Hier sind es oft genug die wiederkehrenden Tierkörper, etwa die Schweine, die Sowa einst bei einem Freund in ländlicher Abgeschiedenheit bei Bremen studierte und seither auf seinen Bildern mit Sinn für deren Eleganz und Grazie darstellt.

Auf Postkarten ins kollektive Gedächtnis

Einige dieser Bilder sind, auch durch massenhaft verbreitete Postkarten des Künstlers, in unser kollektives Gedächtnis eingegangen, etwa die „Autobahnsau“, die sich so hinreißend energetisch und zugleich mit selbstverständlicher Leichtigkeit in die Straßenkurve legt, oder die von einer finster entschlossenen Menge aus dem trostlosen „Dödenstedt“ vertriebenen Schweine als Gegenstück der entrückt rasenden Sau.

Hydrablicke: Michael Sowas Stillleben mit FlamingoköpfenHydrablicke: Michael Sowas Stillleben mit Flamingoköpfen 

Vor allem aber zeigt die Ausstellung werkübergreifend, wie Sofa immer wieder zum – alltäglichen oder spektakulären – Ereignis auch die Reaktion der Dargestellten in den Blick nimmt. Warnt etwa ein Schild am Waldrand vor „Spinnen so groß wie Bratpfannen“, dann lenkt Sowa unsere Aufmerksamkeit auf die dreiköpfige Familie, die zwischen Unglauben, Abwehr und einer leisen Faszination changiert. Und auch unser Blick verliert sich aus der sicheren Betrachterposition im Wald: Wo sind sie nun, die Spinnen?

Beim „Ferkelrennen im Oderbruch, 1910“ frappiert die seltsame Abgebrühtheit der Zuschauer, während die Landschaft, vom zarten Himmel bis zur farbenprächtigen Blumenwiese, alles aufbietet, was man nur verlangen kann. Auf einem anderen Bild trifft das Wunder einer plüschigen neuen Straßenbahn auf zutiefst gleichgültige Benutzer, und ein schmelzendes Wohnzimmer hat genau die Bewohner, die der Bildtitel verheißt: „In bürgerlichen Kreisen bleibt man erstaunlich gelassen.“

Es sind Katastrophen mit Zuschauern, die Sowa in solchen Werken abbildet, der Kreis schließt sich zu seinen Wahlplakaten aus den Achtziger- und Neunzigerjahren, die sich auf andere Weise gegen ein „Weiter so“ wenden und fragen, wie man der Welt gegenüber nur so gleichgültig sein kann. So gesehen ist das Mädchen, das seine Neugier auf den verrufenen Teufelsgeiger nicht zügeln mag, das hinsieht, wo die zerrende Hand der Älteren das Gegenteil erzwingen will, ein Hoffnungsschimmer.

Michael Sowa: Fragile Idyllen. Caricatura Museum Frankfurt; bis 9. November. Der hervorragende Begleitband kostet 80 Euro.

 

Gibt es Zahlen wirklich, oder werden sie bloß gedacht?

Ein abstraktes, digitales Netzwerk aus leuchtenden gelben Linien und geometrischen Formen auf einem dunklen Hintergrund. Zwischen den Linien sind verschiedene mathematische Symbole und Buchstaben verstreut, die ein Gefühl von Komplexität und Technologie vermitteln. Die Anordnung erinnert an ein neuronales Netzwerk oder ein digitales Datenmuster, das die Verbindung und Interaktion von Informationen darstellt.  
aus spektrum.de, 29. 6. 2025                                                                               

Algebraische oder Transzendente Zahlen: 
Wie natürlich ist eine Zahl? 
Die Natürlichkeit einer Zahl wird auf verschiedenste Arten definiert. Doch eines ist klar: In der Mathematik überwiegen die nicht natürlichen Zahlen.

 

Sonntag, 29. Juni 2025

Und wieder eine Chance vertan.

Bundesminister der Finanzen Lars Klingbeil SPD und Bundesministerin für Arbeit und Soziales Bärbel Bas SPD 
aus Tagesspiegel, 29. 6. 2025                                    zu nicht ganz öffentlichen Angelegenheiten

Schwere Bürde für die Vorsitzenden: Die SPD steht verunsichert und ohne klaren Kurs da
Auf dem Parteitag wollte die SPD ihr historisches Wahldebakel aufarbeiten. Das ist nicht passiert. Die Vorsitzenden gehen angeschlagen aus dem Parteitag hervor.
  
Ein Kommentar von Christian Tretbar
 
Das soll sie also gewesen sein, die große Aufarbeitung eines historischen Wahlde-bakels. Doch außer einem miserablen Ergebnis für den Vorsitzenden Lars Klingbeil ist nicht so viel dabei herausgekommen, was die SPD wirklich aus der Aufarbeitung in die Zukunft geführt hätte. Im Gegenteil.

Da sind die beiden Vorsitzenden der SPD. Klingbeil wurde abgestraft. Genau weiß man nicht, wofür eigentlich alles. Weil er die bisherige Co-Vorsitzende Saskia Esken hat fallen lassen? Dabei wurde sie von kaum jemanden in der Partei unterstützt – auch von kaum einer Frau.

Oder weil er die Partei mit frischen Leuten ins Kabinett geführt hat und relativ viel SPD in den Koalitionsvertrag mit der Union verhandelt hat für relativ wenig SPD-Wahlergebnis?

Wohl eher, weil er zu sehr taktiert hat. Zu viele haben ihm die Stimme verweigert, weil sie aus dem Bundestag geflogen sind, obwohl es mit Boris Pistorius einen besseren Kanzlerkandidaten als Olaf Scholz gegeben hätte. Doch den wollte er nicht, auch um selbst schneller und einfach an die Macht zu kommen.

Und die Co-Vorsitzende? Bärbel Bas hat sich mit einer opportunistischen Rede ein Traumergebnis von 95 Prozent gesichert. Opportunistisch deshalb, weil sie das gemacht hat, was eine Parteitags-SPD gerne hört: viel vermeintliche soziale Wärme verströmen lassen.

Einfach Narrative aus „Kein Sozialabbau“ oder „der Kampf unten gegen oben“. Doch sie selbst war es doch, die gesagt hat, dass man an die „mafiösen Strukturen beim Bürgergeld“ ran muss. Auf dem Parteitag kein Wort mehr davon.

Was bietet die SPD der Mitte an?

Stattdessen wird immer wieder betont, dass die SPD wieder Partei der Arbeiter werden müsse, Partei der arbeitenden Mitte. Nur was heißt das eigentlich? Für welche Arbeiterinnen und Arbeiter? Wo sind die Politikangebote für diese Mitte?

Auch auf diesem Parteitag war davon nicht viel zu hören, zu sehen oder zu fühlen. Ja, die SPD muss die Brücken schlagen, vielleicht mehr als andere. Aber tatsächlich sendet sie meistens nur Botschaften an prekär Beschäftigte, oder an die, die gar keine Arbeit haben, vor allem auch an die, die eigentlich arbeiten könnten – es aber schlicht nicht wollen.

Es mag sein, dass man beim Bürgergeld durch schärfere Sanktionen, strengere Regeln, mehr Fokussierung darauf, Menschen wieder in Arbeit zu bringen, nicht viel Geld spart. Nur geht es gar nicht alleine ums Finanzielle. Es geht darum, Vertrauen in die sozialen Sicherungssysteme zurückzugewinnen. Arbeit muss sich lohnen. Richtig. Aber wer arbeitet, muss auch mehr haben, als der- oder diejenige ohne Arbeit. Das ist ebenfalls richtig. Und das ist auch ein sozialdemokratischer Grundsatz.

Viele Menschen haben sich auch durch eine sozialdemokratische Leistung, nämlich das Versprechen Aufstieg durch Bildung, etwas erwirtschaftet. Sie haben etwas zu verlieren. Sie verdienen nicht am unteren Ende, sondern in der Mitte.

Und ihre Sorgen sind vielleicht andere als der Mindestlohn. Da geht es um bezahlbaren Wohnraum, gute Schulen, funktionierende Gesundheitssysteme, Pflege. Doch diese Themen werden bei der SPD selten ins Zentrum gestellt, schon gar nicht auf Parteitagen. Da geht es um Verteilungskämpfe, Klassenkampf.

Wer füllt die Lücke im Parteiensystem?

Bas und Klingbeil gehen jetzt mit einem schwereren Rucksack aus dem Parteitag in die nächsten Debatten mit der Union, als sie reingegangen sind. Schon diese Woche wird es um das Bürgergeld und die Rente gehen. Da wird keine Parteitagsromantik helfen.

Und für Friedrich Merz ist dieser SPD-Parteitag auch ein Signal. Da ist eine Partei, die höchst verunsichert ist, die keinen klaren Kurs hat, deren Vorsitzender geschwächt ist und die Co-Vorsitzende sich gezwungen sehen könnte, noch mehr das Parteitagsherz zu bedienen, statt den Wünschen der arbeitenden Mitte wirklich mal nachzukommen.

Dabei gibt es genau dort eine echte Lücke im Parteiensystem. Alle, die nur Klassenkampf wollen, neigen ohnehin zur Linken. Alle, die den ökologischen Umbau ins Zentrum rücken, sind bei den Grünen. Die CDU könnte etwas für die arbeitende Mitte tun, macht es aber auch nicht. Es könnte eine Chance für die SPD sein. Die Sozialdemokratie müsste die Chance dafür aber ergreifen wollen. Nach diesem Parteitag muss man schwere Zweifel haben.

 

Nota. - Weder ist da "eine Lücke im Parteiensystem", noch ist irgendeine Sonder-gruppe der Gesellschaft vernachlässigt worden: Wer soll das sein: "die arbeitende Mitte"? Keiner wird zugeben, dass er nicht arbeitend sei. Und selbst einer, der nicht arbeitet, würde zugeben, dass er nicht "Mitte ist"; außer den sowieso üblichen Ver-dächtigen

Ja ja, "es fehlt" eine Partei der radikalen Mitte, aber nicht, um eine wahltaktische "Lücke" zu füllen, sondern um unser ganzes Parteiensystem um eine neue Achse zu drehen.
JE 

 

 

Trendige Philosophie.


aus spektrum.de, 28.06.2025                                                                      
zu  Philosophierungen  

Philosophie im Wandel: Krisen, social turn und KI
Die größten Philosophietrends der letzten sieben Jahre 
In der 200. Ausgabe seiner Kolumne zieht Philosoph Matthias Warkus Zwischenbilanz: Welche großen Trends prägten die wissenschaftliche Philosophie seit 2017 – und wie stellte das Weltgeschehen das Fach auf die Probe?

Liebe Leserin, lieber Leser, dass ich jemals eine Kolumne schreiben würde, geschweige denn über Philosophie, und das regelmäßig über mehr als sieben Jahre hinweg, hätte ich nie gedacht, und doch ist es geschehen: Dies ist die 200. Ausgabe von »Warkus’ Welt«. Schön, dass so viele von Ihnen mir über all die Jahre die Treue gehalten haben und noch halten!

Zu diesem Jubiläumsanlass möchte ich einen philosophischen Blick auf die Jahre seit 2017 werfen, und zwar in zweierlei Hinsicht: Erstens versuche ich zu skizzieren, was sich seitdem im wissenschaftlichen Betrieb getan hat; und zweitens, welche Ereignisse in der Welt außerhalb der Institute von besonderer philosophischer Relevanz sind.

Im Philosophiebetrieb scheint mir die wichtigste Entwicklung ein Trend, der nicht philosophiespezifisch ist, sondern in vielen Disziplinen beobachtbar: Lücken und blinde Flecken zu schließen, indem man systematisch über den jeweiligen Tellerrand schaut, Differenzierung und Diversität aufbaut. Dazu gehört es etwa, einen Blick auf die Philosophiegeschichte zu entwickeln, der diese nicht nur als eine Perlenschnur großer alter Männer des abendländischen Denkens sieht, die mit Sokrates beginnt. Philosophie gibt es schließlich auch außerhalb von Europa, und selbst in der europäischen Tradition wird vieles traditionell kaum berücksichtigt. Was etwa in den Jahrhunderten zwischen der mittelalterlichen Scholastik und Descartes (1596–1650) geschah, habe ich im Studium nie gelernt. Da die Philosophie eine besonders konservative Fachkultur hat, gibt es hier besonders viel nachzuholen.

Neben dem neuen globalen und interkulturellen Blick auf das eigene Fach und seine Voraussetzungen gibt es aber auch Trends, was die Inhalte betrifft. So etwa bei der Philosophie analytischen Stils, die in der Tradition von Gottlob Frege, Bertrand Russell, Ludwig Wittgenstein und vielen anderen besonderen methodischen Wert auf Logik, Sprachanalyse und ganz allgemein formale Überlegungen legt. Seit einiger Zeit öffnet sie sich zunehmend Themen und Vorgehensweisen, die soziale Phänomene (wie etwa Ungerechtigkeit oder Geschlecht) in den Mittelpunkt stellen. Hier und da ist schon die Rede von einer sozialen Wende, einem »social turn«, der analytischen Philosophie.

Metaphysische Abhängigkeit und Realismus

Das heißt freilich nicht, dass »abgehobene«, abstrakte spekulative Philosophie nicht mehr populär wäre. Über metaphysische Abhängigkeit (»Grounding«) oder neue Ausprägungen des Realismus beispielsweise wird nach wie vor enorm viel publiziert. Außerdem gibt es natürlich noch andere Philosophiestile außer dem analytischen. Insgesamt scheint die Auseinandersetzung mit Religion populärer zu werden – insbesondere dort, wo es nicht spezifisch um das Christentum geht. Und natürlich schaut die politische Philosophie und Sozialphilosophie in unseren bewegten historischen Zeiten seit spätestens 2016 zunehmend auf Phänomene wie Autoritarismus oder gesellschaftliche Unterdrückung.

Das bringt mich zum zweiten Thema: Welche welthistorischen Ereignisse waren seit Start meiner Kolumne philosophisch besonders relevant? Leider fallen mir zunächst zwei davon ein, auf deren philosophische Betrachtung ich gar nicht stolz bin, nämlich die Covid-19-Pandemie und die russische Invasion in der Ukraine. Zu beiden Gelegenheiten hat sich die Philosophie nicht mit Ruhm bekleckert. Zwischen 2020 und 2023 hat das öffentliche Ansehen des Fachs einen erheblichen Schaden erlitten: Dass Menschen, die auf das sorgfältige Durchdenken komplizierter und teilweise kontraintuitiver Theoriegebilde spezialisiert sind, nicht immer die besten Ansprechpartner für Tagespolitik in Krisenzeiten sein müssen, hat sich klar gezeigt. Andererseits: Wenn man etwa vergleicht, wie viele fragwürdige »Ad-hoc-Experten« mit IT-, BWL- oder sogar Medizinhintergrund gerade die Pandemie hervorgebracht hat, stellt die Philosophie vielleicht keine Ausnahme dar.

Ein in seiner zeitlichen und räumlichen Dimension alle anderen geschichtlichen Ereignisse übersteigender Vorgang, nämlich die Transformation des Planeten durch die menschengemachte Veränderung des Klimas und Verringerung der Biodiversität, ist an der Philosophie natürlich auch nicht vorbeigegangen. Gerade vor 2020 wurde, zum Beispiel unter dem Schlagwort »Anthropozän«, allgemein-theoretisch, politisch und ethisch enorm viel darüber nachgedacht. Wie in allen gesellschaftlichen Bereichen scheinen aber auch hier Seuche und Krieg die größeren, langfristigeren Probleme dann zumindest zeitweilig verdeckt zu haben.

KI – eine Herausforderung für die Philosophie

Nicht zuletzt stellen die Entwicklungen im Bereich der generativen KI auch die Philosophie vor Herausforderungen. Vielleicht weniger theoretisch, weil hypothetische künstliche Intelligenzen, die dem Menschen ebenbürtig sind, in der Philosophie schon seit Jahrzehnten thematisiert werden; sondern vor allem praktisch: Was bedeutet die massenhafte Nutzung von KI, die beliebige Träume zu realem Bildmaterial ummünzen kann, die aber bei der Beantwortung einfachster Faktenfragen gerne einmal ins Flunkern gerät, für unser in erster Linie medial vermitteltes geteiltes Wissen über die Welt?

Eine Herausforderung dieser Kolumne besonders in den letzten Jahren war es, auf Grund der sich geradezu jagenden geschichtlichen Einschnitte nicht ständig philosophische Betrachtungen über Tagesgeschehen und Politik anzustellen, sondern immer wieder auch einen Schritt zurückzutreten und allgemeine, gerne auch völlig zeitlose Fragen zu betrachten. Ich hoffe, dass Ihnen die Mischung bislang zugesagt hat, und freue mich auf die nächsten Jahre. 

 

Nota. - Philosophie wird hier verstanden als ein Nachdenken über Gott und die Welt, sobald es nur einen gewissen Abstand zum Stammtisch hat. Das hat gewiss Nutz und Zweck; mindestens den, die Leser ihrerseits in einen Abstand zu selbst-gefälligem Räsonnieren zu locken. 

Es ist aber nicht das, was auf diesen Seiten unter Philosophie verstanden wird. Hier geht es nicht um Gott und die Welt, sondern um die Möglichkeit von Wissen über-haupt.
JE  

 

Samstag, 28. Juni 2025

Die wirkliche Welt gibt es wirklich.

              zu öffentliche Angelegenheiten

Im Raumschiff Bonn konnte man sich allerlei vorstellen. Aber in Ali Babas Höhle mit den vierzig Räubern sollte doch nun Realitätssinn eingekehrt sein, hab' ich Recht?!

 

 

Der Causeur hat seine Bestimmung angenommen.

                  zu öffentliche Angelegenheiten,zu Geschmackssachen 

Beginn der Nachspielzeit: Robert Habeck wird Talkmaster am Berliner Ensemble.
aus Tagesspiegel, 28. 6. 2025 

 

 

Dein Gesicht ist ein offenes Buch.

Was Makaken bei der Futtersuche durch den Kopf geht, lässt sich an ihrer Mimik ablesen. 
aus FAZ.NET, 21.06.2025                                                                                                  zu Jochen Ebmeiers Realien

Versuche mit Tieren:
Gesichtsausdruck verrät Denkprozesse
Ob Mäuse oder Makaken beim Futtersuchen erfolgreich sein werden, lässt sich schon an ihrer Mimik erkennen. Das haben Frankfurter Forscher nachgewiesen. Von ihren Erkenntnissen könnte die Psychiatrie profitieren.

Am Mienenspiel von Tieren lässt sich zuverlässig erkennen, wie gut sie bestimmte Aufgaben lösen werden. Das haben Forscher des Frankfurter Ernst-Strüngmann-Instituts gezeigt. Die Wissenschaftler ließen Makaken und Mäuse in einer natur-nahen Virtual-Reality-Umgebung nach Futter suchen und zeichneten dabei deren Gesichtsausdrücke auf. Danach identifizierten sie mithilfe eines statistischen Mo-dells und weiterführenden Computersimulationen eine Reihe von Zuständen, die den Forschern zufolge präzise vorhersagen, wann die Tiere auf Reize reagieren und wie gut sie die Suchaufgabe lösen.

Jeder kognitive Zustand sei dabei mit bestimmten Gesichtsmerkmalen verbunden gewesen, die zudem über Artgrenzen hinweg übereingestimmt hätten. Ob sich die Ergebnisse auf Menschen übertragen ließen, müsse noch geklärt werden. Sollte das der Fall sein, ergäben sich Anwendungsmöglichkeiten zum Beispiel in der Psychia-trie.

So könnte es dann möglich sein, Denkprozesse von Menschen nachzuvollziehen, die nicht sprechen – etwa infolge von Demenz, Autismus oder dem Locked-in-Syndrom, einer nahezu vollständigen Lähmung des Körpers nach einem Hirnscha-den. Auch für die ADHS-Diagnostik könnten die Erkenntnisse nützlich sein, etwa um den Schweregrad der Störung zu bestimmen und bestimmte Subtypen zu iden-tifizieren.

  

Nota. - Man kann nicht nicht-kommunizieren. Ob man es als "zur Natur des Menschen gehörig" auffasst oder als bloßen historischen Sachverhalt - Mensch können nicht anders als in Gemeinschaft überleben. Ein jedes menschliche Indi-viduum begegnet 'sich selbst' erst und immer in der Verbindung mit anderen Men-schen, deren Da sein er als dem seinen vorausbestimmt annimmt. Was immer er unter ihnen und sie in seiner Gegenwart erleben, erscheint ihm für sich und ihnen für sie bedeutend. Er und sie können gar nicht anders, als ihr Tun und Lassen zu interpretieren.  

Das beginnt schon ohne Sprache, aber Sprache beginnt damit. Und seit es sie gibt, werden sie alles, was sie tun, als apriori sprachlich vorgeprägt auffassen. Sie können darum gar nicht anders, als in ihren Gesichtern zu lesen. Doch wie die Schriftspra-che ist auch die Körpersprache zuweilen schlecht und fehlerhaft verfasst. Mit Wör-tern kann man lügen, aber mit Mienen, Gesten und Tonfall kaum, ohne dass es je-der merkt. Das liegt daran, dass Wörter durch den allgemeinen Gebrauch an einan-der bereits abgeschliffen wurden, während physiognomischer Ausdruck immer erst individuell vom einen und dem andern auf einander bezogen werden... muss? soll? kann? Er ist nicht jedermanns Sache.

Wörter bleiben beim Lügen unverändert, nicht aber der leibliche Ausdruck: Der stolpert dabei. Weil jener nämlich von den Personen jedesmal neu improvisiert werden muss, während die Wörter in einer großen Schüssel für jedermann be-reitliegen. Sie sind allzeit willfährig.

 

The Love you save.

 

 

 

 

 

 

 

 

Billboard, 27. 6. 1970
# 1: The Jackson 5, The Love You Save.
# 4: The Beatles, The Long And Winding Road. 

Freitag, 27. Juni 2025

Wokeley postum.

                                              zu öffentliche Angelegenheiten

Der Absturz der Woken nach ihrer krachenden Niederlage zeigt sich täglich frisch auf Bluesky. Das ist ein so primitives infantiles Gegeifer und Geplärr, dass dagegen selbst die MAGAker wie Erwachsene (amerikanische allerdings) erscheinen. Trump kann sich zurücklehnen: Die machen treuherzig weiter so.

 

 

Kiebitze?

 Kiebitz                             zu öffentliche Angelegenheiten

Wer aufmerksam Zeitung liest und Tagesschau guckt, hat mitbekommen, dass in Europa Krieg geführt wird und dass sich Deutschland mit Wort und Tat auf die Seite einer der feindlichen Parteien gestellt hat. Da wäre es unklug, ins Kontrollgre-mium für die Geheimndienste ausgerechnet Politiker zu senden, die aus ihren Sym-pathien für die gegnerische Seite kein Hehl machen. 

Wenn die betreffenden beiden Parteien Kandidaten aufstellten, die glaubwürdig an der Seite der Ukraine stehen, hätten die übrigen Parteien keinen Anlass, an deren Loyalität zu zweifeln, und würden sie gewiss wählen. 


Aufstieg und hopefully Niedergang der Angestelltenzivilisation.

Kafka                                                  zu öffentliche Angelegenheiten

Die letzte Verteidigungslinie der Arbeitsgesellschaft war die Angestelltenzivilisation. Die war Mitte-schlechthin; rechts die Reaktion, links die Lunatic fringe. Wer in den Adenauerjahren von Revolution redete, wurde ausgelacht; höchstens. "Die Unter-scheidung von Links und Rechts ist überholt." Sollte heißen, die Angestelltenzivi-lisation hat die Klassengesellschaft obsolet gemacht, keine Revolution droht, nicht Orwells Farm der Tiere und auch nicht 1984. - Aber Huxleys Brave New World, Gleichmacherei und allgemeine Infantilisierung, brummelte das konservative Feu-illeton.

Wie konnte links dann doch zum herrschenden Zeitgeist werden - ausgerechnet bei der nachwachsenden Generation der Gebildeten? Das war doch nicht das Aufbe-gehren eines deklassierten Kleinbürgertums, das verzweifelt Anlehnung bei einer neu aufstrebenden Arbeiterbewegng gesucht hätte! Das war im Gegenteil der Kö-nigsweg zur Ausbildung eines ganz neuen Typus von Massenintelligenz, den der technische Fortschritt erforderte, den die überkommenen Hochschulen nicht aus-bilden konnten, aber die massenhaft in die eilig gegründeten Reformuniversitäten in den Provinzen strömte, wo sie sich gegen den verbleibenden "Muff von tausend Jahren" eine eigene Identität schaffen musste. Eine der wenigen verbliebenen Er-rungenschaften des Pariser Mai war die Faculté de Vincennes

Und in ihrer Masse ergossen sich ihre Ströme natürlich nicht in die Fertigung, son-dern in die allüberall sich in die Breite blähenden Verwaltungen. In dem Maße, wie sich ihr langer Marsch den obersten Rängen näherte, wurden die prätendierten Sie-ger im Volkskrieg umgänglicher und ließen sich auf manche einstweilige Zwischen-lösung ein.

Das war vor gut einem halben Jahrhundert. Inzwischen ist die Weltrevolution end-gültig abgesagt. Soweit sie politisch gemeint ist. Tatsächlich ist mit der stetigen Er-setzung menschlicher Arbeitskraft durch Künstliche Intelligenz & Co. das kapitali-stische Wertgesetz im Begriff, sich selbst aufzuheben. Was an seine Stelle treten wird, ist einstweilen nicht abzuse-hen, aber es wird über kurz oder lang abgesehen werden müssen. Denn eins ist klar: Man wird nicht zusehen können, wie er sich na-turwüchsig, wie Marx sagen würde, von selbst ergibt. Das hätte schon beim Über-gang von der Ackerbau- zur Industriezivilisation in eine Katastrpohe führen kön-nen, als die Destruktivkräfte der Menschen nicht ein Zehntel so weit entwickelt waren wie heute. 

Eine schreckliche, aber ebenso grandiose Perspektive, nicht wahr? Denn mit besag-ten Kräften muss man nicht nur, sondern kann man Pläne machen. Es wird, wie immer, darum gehen, die Kräfte und Mittel der Reproduktion so zu verteilen, dass einerseits die Produktivität weiter und übrigens ausgeglichener wachsen kann, und gleichzeitig die Gesellschaft im Gleichgewicht bleibt. Das stellt die frühere Gegen-überstellung von Links und Rechts und von konservativ und progressiv auf den Kopf. 

Die Arbeit, die immer weniger von Menschen, sondern von Maschinen besorgt wird, kann nicht weiter der Maßstab dafür sein, wie viel ein Mensch zu seinem Le-bensunterhalt bekommt - zwischen beiden besteht auf die Dauer kein sachliches Verhältnis mehr, das in irgendeiner Weise für irgendetwas bestimmend wirken könnte. Es wird zugleich einen stetigen dynamischen Überschuss an maschineller Arbeitskraft geben, der es gar nicht nötig macht, die Verteilung der Güter in ir-gendeiner Weise von verausgabter Arbeitkraft abhängen zu lassen. Wenn alle einen auskömmlichen Sockelbetrag zum Leben erhalten, können die, die noch immer ar-beiten wollen, sich ihre Arbeit nach ihrer Mühseligkeit entgelten lassen, aber das werden wenige sein. Die, die auch arbeiten, aber dabei ihre eigene Produktivität entfalten wollen, werden in Kauf nehmen, dass dafür weniger bekommen. Denn für ihr Grundeinkommen ist gesorgt.

Keiner kann einem solchen Modell im Ernst das gegenwärtige krisengeschüttelte, "naturwüchsige" kapitalistische System vorziehen. Das sagt ja auch keiner; alle sa-gen "schön wärs!" Es geht aber nicht! Es geht nicht, wenn die Verantwortlichen all ihren Scharfsinn darauf verwenden, dass und warum "es nicht geht", sondern dar-auf, Wege zu finden, wie es geht.

Und hab ichs nicht gesagt? Bei links und rechts sind auf einmal die Seiten verkehrt. Die Gewerkschaften, die außer den Interessen ihrer Mitglieder auch ihre Oganisa-tionen verteidigen, sind dagegen. Und wer sonst vor allen andern? Die Angestellten der wuchernden Verwaltungen - der öffentlichen zumal - lassen sich ganz mühelos erübrigen,* und die verbliebene Linke säße auf dem Trocknen.

Was bleibt von "der Linken"? Arbeiten an der Substanz? Da schnitten sie sich ins eigne Fleisch. Links ist, wo der Krakeel am größten ist. Es bleibt der Aufruhr als theatralische Inszenierung. Mehr ist in der mediatischen Gesellschaft dieser Tage anscheinend gar nicht mehr nötig. 'Rechts' sieht es ja nicht besser aus: Deren Ge-walttätigkeit ist zwar plumper, aber darum nicht weniger theatralisch, der NSU hat vor Morden nicht zurückgeschreckt. Aber was taugt ein Terror, der verborgen bleibt? Die waren nicht weniger narzisstisch als die Händekleber dieser Tage. Die Realität der Einen wie der Andern ist virtuell, nämlich rein medial. Wirk lich sind sie nur negativ, nämlich indem sie von den ernsten Dingen ablenken.

*) Da gehören auch die Beschäftigten der Bildungsindustrie zu. Erübrigt werden können sie nicht; doch unter den so veränderten Bedingungen vorteilhaft ersetzt. 
31. 10. 2023

 

 

Bin ich konservativ?

                                             zu öffentliche Angelegenheiten

Ein Konservativer in dem Sinne, dass ich meinte, die irdischen Güter der Welt seien durch die Geschichte gerecht verteilt worden, bin ich nicht. Ich bin ein Konservati-ver, soweit ich meine, dass moralisch-ästhetische Urteile, die in der Geschichte zur Geltung gekommen sind, nicht verworfen werden sollen, ehe man man nicht nur neue, sondern auch bessere und schönere an ihre Stelle zu setzen vermag; die Beto-nung liegt nach einem längeren Leben auf vermag.

Donnerstag, 26. Juni 2025

Brandenburgs Großer Kurfürst.

Wilhelm Camphausen (1818–1885): Der Große Kurfürst bei Fehrbellin (1878)aus welt.de,&Der Große Kurfürst bei Fehrbellin – Gemälde von Wilhelm Camphausen (1878)   zu öffentliche Angelegenheiten

Wie Brandenburg-Preußen sich an der schwedischen Armee rächte
Als der Große Kurfürst 1675 mit seiner Armee am Rhein stand, fielen die Schweden in Brandenburg ein. Ein kurzes Gefecht bei Fehrbellin zwang die Invasoren zum Rückzug. Die Nachwelt machte daraus eine große Schlacht – und einen Mythos.
 

In Staub mit allen Feinden Brandenburgs! – Mit diesen Worten lässt der Dichter Heinrich von Kleist sein 1809/10 verfasstes Drama „Prinz Friedrich von Homburg“ enden. Der Ruf, von allen Akteuren ausgebracht, wurde zu einem patriotischen Postulat. Denn als Kleist sein Werk schrieb, war Preußen nach der vernichtenden Niederlage von Jena und Auerstedt 1806 ein Satellitenstaat Napoleons I. Für die Befreiung von der Fremdherrschaft mobilisierte der Autor die Erinnerung an eine Schlacht, aus der die Hohenzollern mehrere Generationen zuvor als Sieger hervorgegangen waren, nur dass damals nicht die Franzosen, sondern die mit ihnen verbündeten Schweden die Gegner gewesen waren. Diese Schlacht von Fehrbellin am 28. Juni 1675 wurde damit zu einem Symbol für Preußens furiosen Aufstieg zu Großmacht, die es nun zu restituieren galt.

Das hatte allerdings mehr mit einem Mythos als mit der Realität zu tun. 1675 regierte der „Große Kurfürst“ Friedrich Wilhelm (1620–1688) mit Brandenburg einen mittelgroßen Staat, den der Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) ruiniert hatte. Damit dies nicht noch einmal geschehen würde, setzte der Kurfürst auf eine leistungsfähige Verwaltung und eine aktive Wirtschaftspolitik im Sinne des Merkantilismus. Die damit generierten Mittel sollten es ihm ermöglichen, ein stehendes Heer aufzubauen, mit dem zum einen ein absolutistisches Regime gegen die Stände installiert werden konnte, zum anderen Brandenburg nicht mehr als Spielball der Großmächte herhalten musste.

Gross.Kurfuerst empfaengt Refugies / Vogel Friedrich Wilhelm, Kurfuerst von Branden- burg (der Grosse Kurfuerst), 1620-1688. - 'Empfang der Refugies durch den Grossen Kurfuersten im Potsdamer Schlosse'. (Em- pfang der aus Frankreich geflohenen Hu- genotten nach dem Edikt von Potsdam vom 8. November 1685).- Holzstich nach Gemaelde, 1885, von Hugo Vogel (1855-1934), spaetere Kolorierung. Friedrich Wilhelm (1620–1688), Kurfürst von Brandenburg, empfängt französische Hugenotten 

Um das zu erreichen, legte Friedrich Wilhelm eine enorme Arbeitsleistung an den Tag. In den 1670er-Jahren zählte seine Armee rund 30.000 Mann. Die Infanterie verfügte über moderne Steinschlossgewehre, und die Artillerie führte Standardkaliber. Offiziere wurden auf einer Kadettenschule professionell ausgebildet, was die Moral der niederen Dienstgrade stärkte. Desertionen, in den Armeen des Barock an der Tagesordnung, hielten sich in Grenzen. Allerdings konnte der Kurfürst diese Truppe nur unterhalten, indem er Bündnisse mit Großmächten schloss, die den ehrgeizigen Hohenzoller mit Subsidien unterstützten.

So verhalf er 1658 mit seiner Stimme dem Habsburger Leopold I. zur Kaiserkrone, was dieser entgalt, indem er Polen zum Verzicht auf die Lehnshoheit über das Herzogtum Preußen drängte und die Hohenzollern damit in ihrem östlichsten Land souverän wurden. Als Ludwig XIV. von Frankreich 1672 mit seinem Einfall in die Niederlande den Holländischen Krieg (bis 1679) auslöste und Leopold schließlich den Reichskrieg gegen den Bourbonen erklärte, entsandte Friedrich Wilhelm seine Armee an den Rhein, wo sie unter kaiserlichem Kommando kämpfte.

Über welche Möglichkeiten die französische Politik verfügte, musste der Kurfürst bald erfahren. Denn Ludwig aktivierte den alten Partner Schweden, der umgehend mit einer Armee in Brandenburg einfiel, obwohl beide Länder im Jahr zuvor ein Schutzbündnis geschlossen hatten. Das skandinavische Königreich gehörte mit Frankreich zu den Siegern des Dreißigjährigen Krieges und Garanten des Westfä-lischen Friedens. Als Hegemonialmacht der Ostsee galt es zudem als führende Militärmacht des Kontinents.

Im Dezember 1674 marschierte eine Armee von rund 15.000 Mann von Schwedisch-Pommern in die Uckermark, während der Kurfürst mit dem Gros seiner Armee, rund 20.000 Mann, im Elsass stand. Ihm blieb zunächst nur, sowohl „Adel als Unadel“ aufzurufen, „alle Schweden, wo sie selbiger mächtig werden können, nieder(zu)machen und ihnen die Hälse (zu) brechen“.

1-F50-E1675-10 (129429) 'Der Große Kurfürst vor der Schlacht von Fehrbellin' Friedrich Wilhelm, Kurfürst von Branden- burg (der Große Kurfürst), 1620-1688. - 'Der Große Kurfürst vor der Schlacht von Fehrbellin' (28.Juni 1675). - Gemälde, 1884, von Ferdinand Keller (1842-1922). Öl auf Leinwand, 63 x 113 cm. E: 'The Great Elector at the Battle of Fehrbellin' Frederick William, Elector of Brandenbu- rg (the Great Elector), 1620-1688. - 'The Great Elector at the Battle of Fehrbellin' (28th June 1675). - Painting, 1884, by Ferdinand Keller (1842-1922). Oil on canvas, 63 x 113cm.„Der Große Kurfürst vor der Schlacht von Fehrbellin“ – Gemälde von Ferdinand Keller (1884) 

Sobald es die Witterung zuließ, eilte er 1675 in Gewaltmärschen nach Norden. Obwohl er nur 7000 Reiter und einige Kanonen bei sich hatte – die Infanterie hing einige Tag zurück –, konnte der Brandenburger bei Rathenow und Nauen überraschte schwedische Detachements schlagen. Daraufhin beschloss der schwedische Feldmarschall Wolmar Wrangel, ein Halbbruder des berühmten schwedischen Reichsmarschalls Carl Gustav Wrangel, sich zunächst zurückzuziehen.

Am Morgen des 28. Juni nahmen beide Heere bei Fehrbellin ihre Schlachtordnung ein. Friedrich Wilhelms Infanterie war noch nicht eingetroffen, sodass er mit seinen 6000 Reitern den 11.000 Schweden Wrangels deutlich unterlegen war. Aber er hatte Glück. Im Morgennebel übersah sein Gegner einen Sandhügel, von dem aus die brandenburgischen Kanonen die schwedische Linie unter Feuer nahm. Um seinen Fehler ungeschehen zu machen, schickte Wrangel seine Kavallerie vor, die aber von den Brandenburgern unter Prinz Friedrich II. von Hessen-Homburg gestoppt wurden.

Verglichen mit anderen Schlachten des 17. Jahrhunderts waren das überschaubare Zahlen. Dass viele Zeitgenossen zumal im Heiligen Römischen Reich dennoch von einem „Glorieuse Victorie“ sprachen, den Friedrich Wilhelm in eigenem Namen über die führende Militärmacht Europas errungen habe, sagt einiges über das Echo der Schlacht aus. Die politischen Folgen waren gleichwohl gering. Im Frieden von Saint-Germain musste Brandenburg 1679 fast alle Eroberungen in Mecklenburg und Pommern wieder aufgeben.

 

Nota. - Es war nicht der Fehrbelliner Sieg selbst, sondern dass er den europäischen Durchmarschmarsch des hegemonialen Kriegsherrn beendet hat, was Friedrich Wilhelm zu einem großen Kurfürsten machte.
JE 

 

 

 

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