Sonntag, 16. Februar 2025

Sind die Grenzen der Mathematik zugleich die Grenzen der Vernunft?

 
aus derStandard.at,

Neue Erkenntnisse über die Grenzen des Wissens in der Mathematik
Das Problem zählte einst zu den wichtigsten der Mathematik, bevor es sich als unlösbar erwies. Zwei neue Beweise zeigen, dass die Schwierigkeiten sogar noch größer sind

Die eigene Beschränktheit zu erkennen ist eine der am meisten unterschätzten Fähigkeiten. Keine Wissenschaftsdisziplin hat darin größere Meisterschaft erlangt als die Mathematik.

An den Ästen zu sägen, auf denen man sitzt, und dabei nicht zu Boden zu gehen, ist keine Kleinigkeit. Nötig wurde das im 19. Jahrhundert, als der deutsche Mathematiker David Hilbert sich anschickte, die Mathematik ein für allemal über alle anderen Wissenschaften zu erheben. Die Mathematik galt, im Gegensatz zu so vielen anderen Bereichen des menschlichen Wirkens, als Gebiet, in dem echte Wahrheit möglich war.

Hilbert erkannte, dass eine Zeitenwende bevorstand, im Zuge derer diese Fähigkeit entweder weiterentwickelt werden musste oder zu erodieren drohte. Mit den Methoden seines deutschen Mathematiker-Kollegen Georg Cantor hatte einige Jahrzehnte zuvor die Idee des Unendlichen Einzug gehalten und damit neue Methoden ermöglicht, die für nie dagewesene Höhenflüge sorgten.

Hilbert selbst sprach von einem "Paradies". Doch manche hatten ein ungutes Gefühl bei der Idee, dass unendliche Mengen wirklich existierten. Ihre Zweifel wollte Hilbert zerstreuen. Im Vertrauen auf die Mächtigkeit der Mathematik forderte er, sie auf sich selbst anzuwenden und ein stabiles Fundament für den Griff nach den Sternen zu schaffen.

Kurt Gödel als Spielverderber

Im Jahr 1900 stellte Hilbert eine Liste von 23 Problemen vor, die er für die wichtigsten der Mathematik hielt. Auf Platz zwei reihte er die Forderung, mathematisch zu beweisen, dass die Mathematik keine Widersprüche enthielt. Später konkretisierte er diese Idee weiter. So sollte es seiner Ansicht nach möglich sein, alle mathematischen Aussagen in richtige und falsche zu unterteilen.

Gezeigt werden sollte all das ohne das Unendliche. Das würde, so die Hoffnung, die Zweifler zum Schweigen bringen und ein neues, goldenes Zeitalter der Mathematik einläuten. Allein, es gab einen Haken. Diesen entdeckte der Wiener Logiker Kurt Gödel – ein Genie, das Albert Einstein einmal auf eine Stufe mit Aristoteles stellte. Er bewies, dass es immer mathematische Aussagen geben konnte, von denen sich eben nicht entscheiden ließ, ob sie wahr oder falsch waren.

Heute kennt man zahlreiche solcher unentscheidbaren mathematischen Probleme, darunter gleich mehrere von David Hilberts Liste aus dem Jahr 1900. Darunter ist auch das zehnte Problem, das sich um sogenannte Diophantische Gleichungen dreht.

Kurt Gödel bei einer Ehrung in den USA im Jahr 1967.

Gleichungen aus Ägypten

Diophant war ein griechischer Mathematiker, der in Alexandria lehrte, als dort noch der legendäre Leuchtturm stand. Er beschäftigte sich hauptsächlich mit Algebra, also der heute in jeder Schule gelehrten Form der Mathematik, die mit Symbolen und Gleichungen hantiert. In der Antike wurde sonst eher Geometrie betrieben.

Seine Methoden waren über Jahrhunderte wegweisend. Das zeigt etwa die Tatsache, dass die vielleicht berühmteste Vermutung der Mathematik, Fermats letzter Satz, von ihrem Erfinder und Namensgeber Pierre de Fermat an den Rand einer Buchseite in einer Ausgabe des Hauptwerks von Diophant notiert wurde, der Arithmetik.

Die Gleichungen, die heute nach ihm benannt sind, sind tatsächlich recht einfach. Erlaubt sind Polynome wie x^2+y^2 und dazu Konstanten, die allerdings natürliche Zahlen sein müssen. Auch als Lösungen für x und y sollen nur natürliche Zahlen erlaubt sein. Auch Hilbert hielt diese Gleichungen für einfach genug, dass es möglich sein sollte, eine Methode zu finden, mit der für jede von ihnen eine Entscheidung getroffen werden konnte, ob sie eine Lösung besaß oder nicht.

Doch das Problem Nummer zehn ist unlösbar. Das zeigte der russische Mathematiker Juri Matijassewitsch im Jahr 1970. Wie weitreichend war diese Entdeckung? Es stellte sich heraus, dass die Schwierigkeiten verschwinden, wenn man nicht nur natürliche Zahlen, sondern etwa komplexe Zahlen als Lösungen erlaubt. Dann bewahrheitet sich Hilberts Vision, denn jede Gleichung hat eine Lösung – und die von Hilbert gestellte Frage erübrigt sich.

Eine Ausgabe der "Arithmetik" von Diophant aus dem Jahr 1621.

Suche nach der Grenze

Komplexe Zahlen, die neben den natürlichen auch alle reellen Zahlen beinhalten und dazu noch imaginäre Zahlen, sind viel reichhaltiger als natürliche Zahlen, die wir an unseren Fingern abzählen können, zwischen denen sich bekanntlich Lücken befinden. Dass ein Zahlensystem mit weniger Lücken für jede Gleichung immer einen geeigneten Lösungskandidaten anbieten können, leuchtet intuitiv vielleicht ein. Doch wie reich muss ein Zahlensystem sein, damit es das leisten kann?

Mit dieser Frage beschäftigt sich die Mathematik seit mehr als fünf Jahrzehnten. Nun gelang zwei verschiedenen mathematischen Forschungsgruppen ein bedeutender Fortschritt. Sie konnten zeigen, dass es riesige Zahlensysteme gibt, die größer sind als die natürlichen Zahlen, und in denen die Frage nach der Lösbarkeit von Diphantischen Gleichungen ebenfalls nicht entscheidbar ist.

Gleichungen = Computer

Doch wie stellt man fest, ob ein mathematisches Problem entscheidbar ist? Um das präzis beantworten zu können, braucht es ein genaues Modell für mathematisches Rechnen. Ein solches erfand der britische Mathematiker Alan Turing in den 1930er-Jahren. Er stellte sich eine Maschine vor, die einzelne Schritte ausführen kann, etwa eine Information aus einem Speicher lesen, damit etwas anstellen und sie wieder in dem Speicher ablegen.

Das klingt sehr rudimentär, genügt aber, um allgemeinste mathematische Berechnungen durchzuführen. Wer an einen Computer denkt, liegt richtig: Das imaginäre Gerät, das heute den Namen seines Erfinders trägt und Turingmaschine genannt wird, ist ein theoretischer Entwurf für einen Computer, zu einer Zeit, als reale Computer noch nicht existierten.

Turing hatte aber nicht vor, seine Rechenmaschine tatsächlich zu bauen. (Rechenmaschinen baute er später tatsächlich, sie waren aber hochspezialisiert und halfen, die Codes der Nazis zu knacken und so einen entscheidenden Beitrag zur Beendigung des Zweiten Weltkriegs zu leisten.) Er nutzte das Modell, um zu beweisen, dass es keine allgemeine mathematische Methode gibt, um für jede beliebige Turingmaschine, und damit für jede beliebige Berechnung, zu einem Ergebnis zu gelangen. Denn eine Turingmaschine kann auch in einer Endlosschleife landen.

Der Mathematiker Hector Pasten von der Päpstlichen Katholischen Universität in Santiago, Chile, nennt das Resultat gegenüber dem Quanta Magazine völlig unerwartet: "Diophantische Gleichungen über den natürlichen Zahlen reichen aus, um im Wesentlichen alles darzustellen, was man sich vorstellen kann."

Bitte anhalten

Das Problem heißt heute Halteproblem, und Turing zeigte, dass es nicht entscheidbar ist. Der Zweck dieses Exkurses wird angesichts einer weiteren Entdeckung der Vergangenheit deutlich, die eine Verbindung von Turingmaschinen zu Diophantischen Gleichungen herstellt. Dass die beiden miteinander zu tun haben, ist bei genauerer Betrachtung nicht völlig abwegig. Turingmaschinen sind dazu da, Berechnungen durchzuführen. Eine solche Berechnung kann das Ergebnis einer Gleichung liefern.

Doch die Verbindung zwischen den beiden geht weit darüber hinaus. Es ließ sich zeigen, dass es nicht nur Turingmaschinen gibt, die Ergebnisse Diophantischer Gleichungen berechnen. Es gibt umgekehrt zu jeder Diophantischen Gleichung eine Turingmaschine.

Der britische Mathematiker Alan Turing, der eine fiktive Rechenmaschine entwarf, um mathematische Grundlagenprobleme zu lösen.

Von Zahlen zu "Ringen"

Diese erstaunliche Parallele gilt aber nur, wenn ausschließlich natürliche Zahlen erlaubt sind. Bei anderen Zahlensystemen geht sie verloren. Damit verlieren Mathematikerinnen und Mathematiker erstmal auch die Fähigkeit zu zeigen, ob die Frage nach der Lösbarkeit Diophantischer Gleichungen entscheidbar ist.

Doch vielleicht ließ sich die nützliche Parallele zu Turingmaschinen bei Zahlensystemen, die den natürlichen Zahlen ähnlich genug sind, rekonstruieren. Um sich der Frage zu nähern, betrachteten die Fachleute Zahlensysteme, die als logische Erweiterung der natürlichen Zahlen betrachtet werden können. Ein Zahlensystem, in dem Addition und Multiplikation möglich sind und einige bekannte Rechenregeln gelten, wird Ring genannt. Die ganzen Zahlen etwa, die natürlichen Zahlen inklusive der negativen Zahlen und der Null, bilden beispielsweise einen solchen Ring.

Im Fall der ganzen Zahlen lässt sich die verlorengegangene Verbindung zwischen Diophantischen Gleichungen und Turingmaschinen tatsächlich mit einem Trick wiederherstellen. Durch geschicktes Addieren neuer Terme lässt sich erreichen, dass als Lösungen für eine Gleichung wieder nur natürliche Zahlen als Lösungen möglich sind. Damit gewinnt man die Verbindung zu Turingmaschinen zurück.

Der richtige Zusatz

Seit den 1980er-Jahren wird an den richtigen Termen getüftelt. Für zahlreiche verschiedene Ringe gelang es, die Verbindung zu Turingmaschinen wiederherzustellen und die Unentscheidbarkeit zu beweisen. Und tatsächlich konnte man Fall für Fall auf diese Weise lösen, bis nur noch Ringe übrig blieben, die das gefürchtete i der komplexen Zahlen enthielten.

Über dieser Frage brüteten während der vergangenen Jahre die Mathematiker Peter Koymans von der Universität Utrecht und Carlo Pagano von der Concordia University und näherten sich ihr zusehends an, um immer wieder auf Schwierigkeiten zu stoßen. Dem Quanta Magazine erzählen sie von Rückschlägen, dunklen Vorahnungen und schlaflosen Nächten.

Letztlich führte der Umweg über ein mathematisches Gebiet namens Elliptische Kurven, die schon beim Beweis des legendären Satzes von Fermat durch Andrew Wiles eine entscheidende Rolle gespielt hatten. Wichtig war dabei eine Zahl, die durch die Multiplikation von vier Primzahlen entsteht und die es erlaubte, sich weitere Unterstützung aus dem Gebiet der sogenannten additiven Kombinatorik zu holen. Mithilfe dieser Zutaten gelang es, den letzten Spezialfall zu lösen und zu zeigen, dass David Hilberts zehntes Problem tatsächlich für alle möglichen Ringe unlösbar ist. Das Ergebnis wurde kurz darauf von einer anderen Forschungsgruppe mit anderen Methoden bestätigt. Die beiden Teams wollen nun ihre Zugänge kombinieren, um daraus ein noch mächtigeres mathematisches Werkzeug zu schaffen.

Grenzerfahrung

So bleibt am Ende dieses gezwungenermaßen lückenhaften Abrisses der erstaunlichen aktuellen High-End-Forschungsarbeit von Koymans und Pagano, dass fast allen Dingen Grenzen gesetzt sind. "Es erinnert uns daran, dass manche Dinge einfach nicht machbar sind", sagt der Mathematiker Andrew Granville von der Universität Montral. "Es ist dabei völlig egal, wer oder was man ist."

Die Mathematik demonstriert mit ihrer begeisterten Suche nach diesen Grenzen, dass das Erkennen der eigenen Beschränktheit ein erfüllendes, befreiendes Gefühl sein kann.

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