Sonntag, 2. März 2025

Das Korn und die Spreu.

Millet, Un vanneu                                                                 aus Philosophierungen

Was er nicht ausspricht, aber durchklingen lässt: Wenn in den Ingenieursdisziplinen zu-sehends an die Stelle des diskursiven, definierte Begriffe durch geprüfte Metho-den regelgerecht verknüpfende Denken die Intuition tritt, gerät die Vernünftigkeit unserer Weltauffassung selbst in Gefahr. Der franzsösische ingénieur stammt vom lateinischen ingenium ab, der eingeborenen Inspiration. Wir würden auf ein neues Geniezeitalter zusteuern, wo begeisterte Führerpersönlichkeiten eine unkontrol-lierte Macht ausüben, die der gesunde Menschenverstand der breiten Massen nur mit offenem Maul anstaunen kann.

Gumbrecht zählt sich sicher selber zu den Inspirierten, da macht ihn die Vorstel-lung eines Großen Comeback der Geisteswissenschaften nicht bange. Aber dass die Intuitionen auch durch eine wetteifernde scientic community schwerer zu kontrol-lieren sind als die rationellen Diskurse, wird er nicht bestreiten. Da kommt mehr Farbe, aber auch mehr Unberechenbarkeit in die Bude: Riskant, wie er richtig sagt.


Es war aber ein Irrtum, die Herrschaft der Vernunft mit Berechenbarkeit gleichzu-setzen. Er hat ein Vierteljahrtausend geherrscht, doch wäre es Zeit, ihn zu korrigie-ren. Die technische Anwendbarkeit ihrer Produkte ist nur die eine Dimension der Vernunft. Sie hat die westlichen Gesellschaften lange genug beherrscht. Sie ist das, was während der langen Geschichte der Arbeitsgesellschaft im allgemeinen und der kapitalistischen Produktionsweise im besondren von der Vernunft im Vordergrund stand; und das vorherrschende Motiv des Denkens war - der Naturwissenschaften wie der Philosophie.


Das konnte kaum anders sein, solange die überwältigende Mehrheit der in der Welt Tätigen mit technischen Anwendungen beschäftigt war, mit der Ausführung vorge-gebener Projekte. Lat. proiectum bedeutet lexikalisch fast dasselbe wie gr. proble-ma, und wenn beide Begriffe sich durch
verschiedene Anwendung auseinander ent-wickelt haben, darf das im Rückblick nicht darüber täuschen, dass das Bild, das ur-sprünglich hinter beiden stand, das ist, was das deutsche Wort Vorstellung bezeich-net. Die Vorstellung ist das Gemeinte, das, worauf abgesehen wird, das, was dem Tätigen seinen Zweck vorgibt.

Der Begriff ist nur dessen marktgängige Verpackung, in der es weitergereicht und vorge-schrieben werden kann - dem, der es ausführen soll. Die Begriffe lassen sich zweckmäßig verknüpfen, sie lassen sich in Formeln tun und gegeneinader verrech-nen. Die Begriffe beherrschen die technische Zivilisation.  

Müssen sie nicht die Hypertechnik der digitalen Welt erst recht beherrschen?

Nein, eben nicht. Je mehr die ausführenden Tätigkeiten von den Maschinen übernommen werden, umso weniger Verpackung wird nötig. Der Algorithmus, dumm und dürftig, tritt an ihre Stelle. Das Vorstellen selbst, das bildhafte Ent-werfen von Absichten, das Einbilden tritt in seine Erstgeburtsrechte zurück.

Die Vernunft ist ursprünglich intuitiv, wörtlich: anschaulich, nämlich solange sie noch probiert. Der Begriff tritt nun in sein Zweitgeburtsrecht zurück: als Prüf-stein. Das Erfinden ist eins, aber ohne Prüfung ist es nicht einmal die Hälfte. Je freier das bildhafte Vorstellen wird, umso nötiger wird die Kritik durch die Begriffe. Je einfallsreicher die ingeniösen Ingenieure werden, umso wichtiger wird die Kritische Philosophie. Sie trennt das Korn von der Spreu.
 
 
 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Blog-Archiv

Quanten, Gravitation und die Weltformel.

  aus spektrum.de, 27. 1. 2025                                                                    u   Jochen Ebmeiers Realien   Quantengrav...