
aus FAZ.NET, 10. 3. 2025 zu Geschmackssachen
Kunst der Kykladen:
Endlich wird die Geschichte der Sklavin erzählt.
Die
Geburt der Krokusblume: In Athen beleuchtet eine Ausstellung
kykladische Frauenbilder und fragt nach der Rolle von Weiblichkeit in
archaischen Gesellschaften.
"Fremder, wenn Du dies Grab sorgsam betrachtest, / weine für die Unglückliche, die in der Fremde begraben ist / wie es das Schicksal der Schwangeren aufzwang. / Aline, wohl aus Phönizien, vielleicht aus Askalon / allein wandernde, verlassene Landsfrau. / Weine für sie aus Mitleid, und eh Du Dich wendest / danke dem Mann der sie respektvoll begrub.
Die Grabstele aus dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert, gefunden auf Rheneia, Nachbarinsel und Nekropole von Delos, wird von einem einfachen, aber eleganten Relief gekrönt – es zeigt eine junge Frau, auf einem Hocker sitzend, das Kinn me-lancholisch in die Hand gestützt. Die zugehörige Inschrift erzählt in nur sieben Zeilen vom kurzen Leben einer Migrantin, wahrscheinlich einer Sklavin. Gewöhn-lich auf Mykonos zu sehen, ist sie zurzeit Gast im Athener Museum für kykladische Kunst.
Mit spektakulären Funden
Dort ist sie Teil einer bemerkenswerten Ausstellung, gewidmet den Kykladitisses, den Frauen der Kykladen, und ihren „unerzählten Geschichten“. Eine erstmalige Kooperation des Museums mit der Verwaltung für Altertümer der Inselgruppe bringt mehr als 180 Artefakte aus gut dreißig Sammlungen, darunter alle siebzehn archäologischen Museen des Archipels, zusammen. Dabei sind viele spektakuläre Funde, die noch nie außerhalb ihrer Eilande zu sehen waren.
So bietet die Ausstellung die Gelegenheit, bedeutende vorgeschichtliche Frauendarstellungen der Ägäis zusammen zu betrachten. Zu den bekannten und noch immer rätselhaften frühbronzezeitlichen „Marmoridolen“, die den Grundstock des Museums bilden, gesellt sich die noch ältere, neolithischen „Fat Lady of Saliagos“ (bei Antiparos). Aus der mykenischen Spätbronzezeit stammen die wunderbar stilisierte „Dame von Phylakopi“ (Melos) wie auch die anatomisch viel detaillierteren, mit ihren wortwörtlich hervorgehobenen Brüsten minoisch anmutenden Terrakotten von Agia Irini (Kea).

Sensationell ist die Anwesenheit der „Frauen im Heiligtum“, eines der berühmtesten Fresken von Akrotiri auf Thera (Santorin), dem „Pompeji der Ägäis“, welches um 1600 vor Christus von der „Minoischen Eruption“ zerstört wurde. Das in jahrzehntelanger Puzzlearbeit zusammengesetzte Wandbild wird mit weiblichen Initiationsriten in Verbindung gebracht. Es stellt mit unglaublicher Finesse drei fein gekleidete und reichen Schmuck tragende Frauen verschiedener Lebensalter dar, deren mittlere, am Fuß verletzt, auf einem Felsen sitzt. Dort, wo ihr Blut auf den Boden tropft, sprießt eine Krokusblume.
Nach dem bilderlosen Zeitalter der geometrischen Periode waren die Kykladen am Aufblühen der griechischen Kunst in der archaischen Zeit aktiv beteiligt. Das Fragment eines mit Reliefs verzierten Vorratsgefäßes aus Tinos (nach 700 vor Christus) zeigt Tanzende und ein Paar, wobei es sich wohl um Ariadne und Theseus handelt, was das Bild zu einer der frühesten identifizierbaren Szenen der griechischen Mythologie macht. Eine bemalte Tonfigur aus dem erst kürzlich ergrabenen Apolloheiligtum auf Despotiko (bei Antiparos) ist ein Beispiel für den früharchaischen „dädalischen“ Stil.

Ein weiterer Höhepunkt ist die vor 25 Jahren entdeckte und erst seit 2022 der Öffentlichkeit zugängliche überlebensgroße Kore aus der Nekropole von Thera (600 bis 575 vor Christus), eine der frühesten Monumentalskulpturen der griechischen Kunst, deren säulenartige Starre von der ungewöhnlichen Geste der rechten Hand auf der linken Brust gebrochen wird. Einen Kontrast bietet die zeitgleiche und auch aus Thera stammende, berückende und bunt bemalte Tonminiatur einer sich die Haare ausreißenden Trauernden.
Individuelle Frauenschicksale
Und so geht es weiter durch die klassische und hellenistische Zeit, vertreten unter anderem durch die dynamische Artemis Elaphebolos (die Hirschtragende) und die prächtige Aphrodite Anadyomene (die Entsteigende) aus Delos, aber auch durch ein erstaunliches Terrakottaprofil der Demeter aus Amorgos. Zudem bringen ausgewählte Grabbefunde und Inschriften dem Besucher individuelle Frauenschicksale näher. Erotische Darstellungen beleuchten einen weiteren Aspekt des antiken Frauenbilds. Römische Porträtbüsten, byzantinische und postbyzantinische Ikonen, neuzeitliche Drucke und vieles andere vervollständigen die ungewöhnlich vielfältige Ausstellung. Erwähnenswert sind auch handschriftliche Dokumente starker Frauen des 19. Jahrhunderts, besonders der Manto Mavrogenous, die von Paros aus den griechischen Freiheitskrieg mit ihren Schiffen unterstützte.
Entscheidend ist dabei die Struktur der Ausstellung, die nicht linear chronologisch verfährt, sondern Stücke aus verschiedenen Zeiten in zwölf thematischen Einheiten zusammenführt, sodass sich ganz neue Kontraste und Konstellationen ergeben: vorgeschichtliches Idol neben klassischer Statue, Hochkunst neben Alltag, Göttin neben Sterblicher, Namenlose neben Individuum. So gelingt es, anhand der Funde über Frauen nicht nur als Bilder, sondern als Teil der Gesellschaft in vielerlei Rollen zu erzählen: als Göttinnen, Priesterinnen, Beterinnen, Mütter, Partnerinnen, Händlerinnen, Kriegerinnen, Denkerinnen. Und auch als Bedrohung des patriarchalischen Status quo.
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