
aus derStandard.at, 24. 3. 2025 Im Schlaf wird Erlebtes rekonstruiert und daraus gelernt. Der Prozess ist allerdings nicht linear, sondern eher chaotisch. zu Jochen Ebmeiers Realien
Auch der Volksmund weiß: Vor dem Schlafengehen lernt es sich am besten. Tatsächlich lässt sich dieser Effekt auch wissenschaftlich nachweisen. Er ist zwar kleiner, als man früher glaubte. Unbestritten ist aber, dass Schlaf essenziell für das Merken von Gelerntem ist. Im Schlaf werden Erlebnisse nochmals abgerufen. Während des Schlafes sind somit ähnliche – und teilweise dieselben – Nervenzellen aktiv wie beim ursprünglichen Ereignis. Das kann man bildlich über tomografische Kernspin-Aufnahmen nachweisen.
Langzeitgedächtnis aktivieren
Diese Reaktivierung der Nervenzellen ist also auch nötig für das langfristige Lernen. Nur dadurch können Inhalte vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis gelangen. Doch was genau während der diversen Schlaf- und Traumphasen passiert und wie sich die neuronalen Muster reorganisieren, um Erlebtes und Erlerntes über das Kurzzeitgedächtnis hinaus abspeichern zu können, ist bis heute nicht restlos geklärt. Eine neue, im Wissenschaftsjournal Neuron publizierte Studie bringt nun etwas Licht ins Dunkel. Erstmals wurden dazu bei Ratten nicht nur kurze Schlafphasen, sondern bis zu 20-stündige Ruhe- und Schlafzyklen nach einer Lernerfahrung untersucht.
Eine besondere Rolle bei diesem Prozess spielt jedenfalls der Hippocampus. Die ersten Anatomen haben in dieser Hirnregion ein Seepferdchen gesehen, daher der griechische Name. Bekannt ist diese Region vor allem für ihre vielfältigen Gedächtnisfunktionen. Der Hippocampus ist nämlich zuständig für die Überführung von Informationen aus dem Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis.
Aufgrund dieser prominenten Rolle wurde der Hippocampus zum Objekt zahlreicher Studien zur Erforschung von Krankheiten wie Alzheimer und des Alterns des Gehirns. Heraus kamen dabei auch Ergebnisse, die zum Schmunzeln anregen: etwa dass sich im Hippocampus ein sogenanntes Jennifer-Aniston-Neuron findet. Also eine dezidierte Nervenzelle, die bei mehreren Probanden – im konkreten Fall Epilepsiepatienten während einer OP – immer feuerte, wenn ihnen ein Bild von Jennifer Aniston oder anderen sehr berühmten Personen gezeigt wurde.
Ortszellen im Gehirn
Von Versuchen mit Labormäusen und -ratten hingegen weiß man, dass bestimmte Zellen immer dann aktiviert werden, wenn das Tier einen spezifischen Ort passiert. Das räumliche Lernen ist für Tiere überlebensnotwendig, damit sie sich etwa an Orte erinnern, wo Nahrungsquellen zu finden sind. Interessanterweise kann man diese Ortszellen auch bei Menschen nachweisen. So fand sich bei einer anderen Studie auch bei Londoner Taxifahrern ein vergrößerter Hippocampus. Das ist wenig verwunderlich, denn diese Hirnregion ist für die räumliche Orientierung zuständig.

In der nun publizierten Studie von Jozsef Csicsvari, der eine Forschungsgruppe am Institute for Science and Technology Austria (Ista) leitet, kamen die zwei Themen, Ortszellen und Lernen, zusammen. Der Neurowissenschafter ist seit Jahren fasziniert von der Frage, wie Schlaf unser Gedächtnis beeinflusst. Als er 1994 mit seinem Doktoratsstudium anfing, erschien die erste Studie, die zeigte, wie wichtig Schlaf für das Verankern von Erinnerungen ist.
Csicsvari und sein Team konnten in einer vorherigen Studie bereits zeigen, dass die Ortszellen von Orten, die Ratten mit einer Belohnung verbunden hatten, im Schlaf wieder aktiv wurden. In den bisherigen Studien wurden diese Reaktivierungsmuster aber meist nur über kurze Zeit – rund eine Stunde – und nicht während des Traumschlafs, des sogenannten Rapid-Eeye-Movement-(REM-)Schlafs, mitverfolgt. Nun wurde das Setup erweitert, indem die Aktivität der Nervenzellen über eine längere Zeit – bis zu 20 Stunden – aufgenommen wurde.
Unterschiede im Schlaf
Dabei fielen den Forschenden die doch deutlichen Unterschiede zwischen den Schlafphasen auf. So waren im REM-Schlaf die meisten der ursprünglich aktiven Ortszellen wieder aktiv. Die neuronalen Aktivitäten waren während dieser Erinnerung also sehr ähnlich wie während des tatsächlichen Erlebnisses, quasi wie wenn das Gehirn das Erlebte noch einmal eins zu eins durchspielen würde. Im Nicht-REM-Schlaf war das aber plötzlich nicht mehr der Fall. Rund ein Drittel der Ortszellen veränderte seine Aktivität, wurde schwächer oder war gar nicht mehr aktiv.
Das bisher recht klare Muster löste sich in einem Durcheinander auf – als ob der traumlose Schlaf entgegen dem Lerneffekt des Traumschlafs wirken würde. Wieso das so ist, bleibt eine offene Frage der Wissenschaft. Csicsvari spekuliert, dass es sich dabei um einen notwendigen Vorgang handle, um langfristiges Wissen aufzubauen und Platz für neue Erlebnisse und Lernvorgänge zu schaffen. Denn wenngleich das Gelernte im Gedächtnis offenbar schnell abgebildet werden kann, könnten diese Repräsentationen für die langfristige Speicherung nicht optimal und ressourceneffizient sein, vermutet Csicsvari.

"Um neue Erlebnisse abzuspeichern, muss das Gehirn die bisherigen Erinnerungen reorganisieren und in die alten Erinnerungen integrieren", erklärt der Forscher. Soll heißen, entweder das Gehirn schafft im Nicht-REM-Schlaf einfach Platz für Neues, oder die Informationen werden reorganisiert, und die Erinnerungen finden womöglich an einem anderen Ort Platz, wo sie zu einem späteren Zeitpunkt mit neuen, zusätzlichen Informationen ergänzt werden können.
Guter Schlaf ist wichtig
Jan Born, Neurowissenschafter an der Uni Tübingen, hat bereits viel dazu geforscht, wie im Schlaf Erinnerungen verarbeitet werden. Die Ergebnisse der Studie ordnet er auf STANDARD-Nachfrage so ein: "Diese Studie zeigt nun erstmals, dass die Reaktivierung der Nervenzellen nicht verschwindet, sondern dass sich die Aktivitätsmuster in Richtung der beim Abruf verwendeten Nervenzellensembles verändern. Das ist eine neue und äußerst wichtige Erkenntnis." Während des Non-REM-Schlafs beginnt die neuronale Aktivität offenbar also schon jener zu ähneln, die am Tag darauf beim Abrufen der Erinnerung oder des Erlernten benötigt wird.
Womöglich braucht es also eine Balance zwischen den zwei konkurrierenden Schlafphasen. Während in der einen das Erlebte quasi aus dem Gedächtnis noch einmal rekonstruiert und wiederholt wird, sorgt die andere durch die Reorganisation für die Weiterverarbeitung und das abstrahierte Lernen. Ausreichend belegt ist jedenfalls, dass es auf zellulärer Ebene zum Lernen auch ein regelmäßiges Verlernen braucht. Neurophysiologisch ist das erkennbar, wenn das Aktionspotenzial, der Stromfluss zwischen zwei Zellen, über die Zeit schwächer wird.
Für Csiscvari sind die noch bestehenden Wissenslücken ein zusätzlicher Ansporn. "Wir haben immer mehr die Werkzeuge, um das Abspeichern von Erinnerungen zu verstehen." Es sei begeisternd zu sehen, wie mittlerweile die Aktivität mehrerer einzelner Nervenzellen gleichzeitig gemessen werden könne. "So als könnten wir die Gedanken mitverfolgen", erklärt Csicsvari. Unbestritten ist jedenfalls, dass guter Schlaf wichtig für das Gedächtnis ist. Denn schon in früheren Studien zeigte sich: Je besser die Versuchstiere geschlafen hatten, desto besser konnten sie sich merken, wo am Vortag das Futter lag.
aus Die Presse, Wien, 25. 3. 2025 Nachts wird neu Gespeichertes im Gehirn umorganisiert. Der Prozess könnte die Erinnerung nach dem Schlaf „frisch“ halten
Das Ausgangsszenario ist ein plakatives: Seit einigen Jahren suchen Laborratten auf Versuchsfeldern nach Futter und prägen sich die Orte, an denen sie vermehrt fündig werden, ein. Überwacht werden sie dabei von einem Forschungsteam am Institute of Science and Technology Austria (Ista) in Klosterneuburg. In einer neuen Studie im Fachblatt Neuron zeigt man nun, dass sich der Speicherort des räumlich Gelernten in langen Schlafphasen im zuständigen Hirnareal räumlich verschiebt – die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sprechen von „Repräsentationsdrift“. Das dürfte Speicherplatz im Gehirn sparen.
Die Gruppe um Jozsef Csicsvari machte in den vergangenen Jahren Fortschritte im Verstehen der Abläufe, die sich beim Einprägen von Informationen auf der Ebene der Nervenzellen (Neurone) abspielen. Mit modernen Forschungsmethoden lassen sich Lernprozesse an sogenannten Platzzellen im Hippocampus von Mäusen und Ratten, also jenem Gehirnteil, der eine wichtige Rolle für das Gedächtnis spielt, analysieren.

Diese feuern dann eifrig, wenn sich das Tier an jenem Ort befindet, wo das Futter erfahrungsgemäß ist. Das Team zeigte bereits in früheren Studien, dass die Aktivierung spezieller Platzzellen-Kombinationen auch im Schlaf wiederholt wird und wie diese Art der nächtlichen Einprägung gezielt gestört werden kann.
In der aktuellen Studie verfolgten sie den Prozess der Reaktivierung der räumlichen Erinnerungen im Hippocampus von Ratten, die zuvor eine neue labyrinthartige Umgebung mit Futterplätzen „gelernt“ hatten, über bis zu 20 Stunden hinweg, als sich die Tiere nach der Lerneinheit erholten. So lange konnte dieser Prozess noch nie nachverfolgt werden.
Überraschenderweise beobachteten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, dass sich die Muster jener Neuronen, die immer wieder Aktivität zeigten, über die Zeit hinweg merklich veränderten. Die Experten nennen diese Neuorganisation „Repräsentationsdrift“.
Rätselraten um Funktion von „Drift“
So gab es eine Nervenzell-Gruppe, die beim Wiederholen des Gelernten immer aktiv wurde – die „stabile Untergruppe“. Andere, ursprünglich eigentlich mitbeteiligte Neuronen stellten ihre Aktivität mit der Zeit aber ein. Dafür begannen mit Fortdauer der Nachtruhe andernorts zuvor völlig unbeteiligte Zellen zu feuern, wenn die Erinnerung aktiviert wurde.
„Unsere Ergebnisse waren unerwartet. Wir konnten zeigen, dass sich die Aktivitätsmuster der Neuronen, die mit den Belohnungsorten verbunden sind, während des langen Schlafs neu organisieren“, sagt der kürzlich am Ista promovierte ehemalige Doktorand Lars Bollmann, einer der beiden Erstautoren der Studie. „Am überraschendsten war, dass wir zeigen konnten, dass das Muster der feuernden Neuronen in den frühen Schlafphasen zwar die neuronale Aktivität in der Lernphase widerspiegelte, sich dieses Muster jedoch später weiterentwickelte, um die neuronale Aktivität beim Aufwachen der Ratten und der Erinnerung an die Position der Belohnungen widerzuspiegeln.“
Es wird also im Schlaf fleißig neuronal umorganisiert – und das vor allem in jenen Schlafphasen abseits der für Träumen charakteristischen Augenbewegungen (Rapid-Eye-Movement- oder REM-Schlafphasen). Wurden dann nach dem Schlaf diese Erinnerungen angesteuert, passte das Nervenzell-Aktivitätsmuster eher jenem, das sich erst zu späterer Schlafstunde entwickelt hat. Man habe es hier mit einem Prozess zu tun, der die Erinnerung nach dem Schlaf gewissermaßen „frisch“ hält.
Umorganisation für langfristiges Erinnern?
Noch könne man nicht viel Gesichertes über die Funktion der Umorganisation sagen, so Csicsvari: „Es ist möglich, dass Gedächtnisrepräsentationen während des Lernens schnell gebildet werden müssen, aber dass solche Repräsentationen für die langfristige Speicherung nicht optimal sind. Daher kann im Schlaf ein Prozess stattfinden, der diese Repräsentationen optimiert, um die Gehirnressourcen für die Speicherung eines bestimmten Gedächtnisses zu reduzieren.“ Tatsächlich waren nach dem langen Schlaf weniger Neuronen dafür notwendig, sich an einen bestimmten Ort zu erinnern. Die Drift könnte aber auch dabei helfen, neue Erinnerungen in den bisherigen Erinnerungs- oder Erfahrungsschatz quasi an richtiger Stelle einzubetten, meinen die Forscherinnen und Forscher.
„Alle neuen Erinnerungen müssen einen Weg finden, in das vorhandene Wissen integriert zu werden. Häufige Wiederholungen der neuen Erinnerungen sowie eine teilweise Änderung der neuronalen Verdrahtung können daher dazu beitragen, ihre Integration in bestehende Gedächtnisrepräsentationen zu optimieren“, so Csicsvari. (APA/cog)
Nota. - Das wäre ja auch so ein Ansatzpunkt dafür, "wie ein Ich entsteht"; im empi-risch-psychologischen Sinn, nicht im transzendendalen. Nicht topisch, 'wo es sitzt', sondern prozessual: 'wann und wie'.
JE
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