Samstag, 22. März 2025

Psychiatrische Diagnosen.

Géricault, 1824                                                 zuJochen Ebmeiers Realien

Die reelle Medizin hat es vergleichsweise leicht. Sie hat einen sicheren Maßstab am Modell des störungsfrei funktionierenden Organismus. Kein Lebender sei zu hun-dert Prozent gesund? Vielleicht nicht. Aber man kann exakt beschreiben, wie sein Organismus ungestört funktionieren würde. Man wird eine Marge hinzurechnen, innerhalb derer Abwei-chungen tolerabel sind, und man wird berücksichtigen, dass mehrere kleine Beschwerden zusammen wie eine große Beschwerde wirken mögen; und so weiter: Im Detail werden allüberall tausend Spezifizierungen angezeigt sein, aber das beschädigt nicht den Maßstab, sondern immer nur die Gewissheiten der Messenden.

Mit der Seelen-Medizin ist es ganz was anderes. Auch der größte Irrsinn, auch die abscheu-lichste Perversion stellt immer nur eine Variante einer menschlichen Ver-haltensmöglichkeit dar - ins äußerste Extrem verzerrt und vereinseitigt ohne aus-gleichende Gegenspieler; die aber doch in geringer Dosis überhaupt nicht auffallen, sondern das Subjekt individualisieren und vielleicht sogar liebenwert machen wür-de. Abweichend und gestört erscheint es immer erst, wenn es die Umgebung stört. Oder wenn der Leidensdruck zu groß wird? Der Leidensdruck entsteht letzten En-des wiederum aus der Unverträglichkeit mit den Anforderungen der Umwelt, ohne die ein menschlicher Organismus doch nicht überleben kann. 
 
 
Nicht nur die Gewissheiten der Messenden sind hier problematisch - sondern das Bild von einem unbeeinträchtigten Organismus selbst ist nicht klar zu bestimmen. Es wird immer, welche Doktrin, welche Taxonomie man auch zugrunde lege, ein Abwägen von zu viel Hiervon oder zu wenig  Davon nötig werden. Der 'Schwere-grad' der 'Störung' wird sich nie messen und in Daten objektivieren, sondern immer nur subjektiv einschätzen lassen. Die Erwartungen des Patienten (und seiner Fami-lie) an die Psychiatrie sind menschlich verständlich, aber sachlich nicht gerechtfer-tigt. Die können nur tun, was sie - können; der eine mehr, der andere weniger. 
 
Doch das zu tun, muss ihnen möglich gemacht werden. Große Kliniken mit ihren Verwaltungserfordernissen neigen dazu, es einzuschränken. Die psychiatrische Wissenschaft muss ihnen dabei nicht auch noch taxometrisch entgegenkommen, das ist wahr.
JE, 19. 1. 22.

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