
Die
reelle Medizin hat es vergleichsweise leicht. Sie hat einen sicheren
Maßstab am Modell des störungsfrei funktionierenden Organismus. Kein
Lebender sei zu hun-dert Prozent gesund? Vielleicht nicht. Aber man kann
exakt beschreiben, wie sein Organismus ungestört funktionieren würde.
Man wird eine Marge hinzurechnen, innerhalb derer Abwei-chungen
tolerabel sind, und man wird berücksichtigen, dass mehrere kleine
Beschwerden zusammen wie eine große Beschwerde wirken mögen; und so
weiter: Im Detail werden allüberall tausend Spezifizierungen angezeigt
sein, aber das beschädigt nicht den Maßstab, sondern immer nur die
Gewissheiten der Messenden.
Mit
der Seelen-Medizin ist es ganz was anderes. Auch der größte Irrsinn,
auch die abscheu-lichste Perversion stellt immer nur eine Variante einer
menschlichen Ver-haltensmöglichkeit dar - ins äußerste Extrem verzerrt
und vereinseitigt ohne aus-gleichende Gegenspieler; die aber doch in
geringer Dosis überhaupt nicht auffallen, sondern das Subjekt
individualisieren und vielleicht sogar liebenwert machen wür-de.
Abweichend und gestört erscheint es immer erst, wenn es die Umgebung stört. Oder wenn der Leidensdruck zu groß wird?
Der Leidensdruck entsteht letzten En-des wiederum aus der
Unverträglichkeit mit den Anforderungen der Umwelt, ohne die ein
menschlicher Organismus doch nicht überleben kann.
Nicht
nur die Gewissheiten der Messenden sind hier problematisch - sondern
das Bild von einem unbeeinträchtigten Organismus selbst ist nicht klar
zu bestimmen. Es wird immer, welche Doktrin, welche Taxonomie man auch zugrunde lege, ein Abwägen von zu viel Hiervon oder zu wenig Davon nötig werden. Der 'Schwere-grad' der 'Störung' wird sich nie messen und in Daten objektivieren, sondern immer nur subjektiv einschätzen
lassen. Die Erwartungen des Patienten (und seiner Fami-lie) an die
Psychiatrie sind menschlich verständlich, aber sachlich nicht
gerechtfer-tigt. Die können nur tun, was sie - können; der eine mehr, der andere weniger.
Doch das zu tun, muss ihnen möglich
gemacht werden. Große Kliniken mit ihren Verwaltungserfordernissen
neigen dazu, es einzuschränken. Die psychiatrische Wissenschaft muss
ihnen dabei nicht auch noch taxometrisch entgegenkommen, das ist wahr.
JE, 19. 1. 22.
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