aus welt.de, 11. 3, 2025 ...gekrümmter Mittelfinger: Widukind-Grabplatte in der Stiftskirche zu öffentliche Angelegenheiten
Um den alten Sachsen-Häuptling kommt man in Enger nicht herum. In diesem 20.000-Einwohner-Städtchen hinter den Hügeln des Teutoburger Waldes gibt es ein Widukind-Museum, das Widukind-Gymnasium, ein Widukind-Autohaus und eine Widukind-Tierarztpraxis. Hinzu kommen diverse Geschäfte und Einrichtungen mit der Namensvariante Wittekind: Apotheke, Reiterverein, Segelflugverein und so weiter und so fort. Geht man im Zentrum der Stadt am Widukind-Brunnen vorbei, gelangt man auf eine kleine Anhöhe zur Stiftskirche, in der sich das Epizentrum der Widukind-Verehrung befindet: ein wuchtiges, steinernes Grabmal. Obenauf liegt eine Sandsteinplatte, in die lebensgroß die Gestalt eines Mannes mit Krone, Zepter und einem eigenartig verbogenen Mittelfinger gehauen wurde.
Stiftskirche
Dieser Widukind ist aber mehr als nur eine lokale Größe. Dazu ein kurzer Ausflug in die Geschichte: Als der Frankenkönig und spätere Kaiser Karl der Große im letzten Drittel des 8. Jahrhunderts die Volksstämme rechts des Rheins zum Christentum bekehren wollte, stellten sich ihm die heidnischen Sachsen entgegen. Ihr Anführer: Widukind. Es folgte ein jahrelanger Krieg, der erst endete, als Widukind einsah, dass der Widerstand aussichtslos war.
Er kapitulierte und ließ sich im Jahr 785 obendrein taufen. Die Story vom bekehrten Heiden wurde für die nächsten Jahrhunderte zum Bezugspunkt und schließlich sogar zum Fundament eines deutschen Mythos. Adelsdynastien, die ihre Herrschaft legitimieren wollten, stellten die abstrusesten Ahnenreihen auf, um eine Abstammung von Widukind zu konstruieren. Im 19. Jahrhundert verehrte man ihn dann als urdeutschen Helden im Kampf gegen die Fremdherrschaft, später knüpften die Nationalsozialisten mit ihrem Germanenkult an die Überlieferungen vom Rebellen und Freiheitskämpfer an.

Vor Ort, in Enger, wurden solche national-epischen Überhöhungen immer schon begleitet von der bangen Frage, ob dieser Wunderknabe tatsächlich und leibhaftig in der Stiftskirche lag. Sicher konnte man nicht sein, denn das Grabmal war ja erst im 12. Jahrhundert errichtet worden. So sucht man bis heute nach Gewissheiten. Das Ergebnis der neuesten Untersuchungen liegt nun in dem Band „Die Gebeine eines Helden“ vor, der in diesen Tagen beim Verlag für Regionalgeschichte erscheint. Kleiner Spoiler vorab: Auch darin wird nicht geklärt, ob Widukinds Überreste in Enger liegen. Doch dieser Forschungsbericht kann stattdessen mit einer überraschenden These aufwarten, die die Grundfesten unseres Geschichtsbildes wackeln lässt.
„War Widukind schon vor seiner Taufe Christ?“ – so fragen die Herausgeber im Untertitel des Bandes. Das ist frech formuliert, die neu gewonnenen Fakten lassen allerdings wirklich Zweifel aufkommen, ob Karl der Große den Sachsen den christlichen Glauben gebracht hat. Sie werfen mithin die Frage auf, ob die fränkischen Geschichtsschreiber der Nachwelt eine Propagandalüge hinterlassen haben, die dazu diente, einen grausam geführten Eroberungskrieg als quasi göttliche Mission schönzureden.
Doch zunächst zurück nach Enger, wo die Argumentationskette ihren Ausgangspunkt nimmt. Schon im Mittelalter glaubte man, in der Stiftskirche die Gebeine des Widukind gefunden zu haben. Später stellte sich heraus, dass es sich bei dieser Sammlung von Knochen, die zunächst ins nahe Herford und im 19. Jahrhundert wieder zurück nach Enger gelangt war, um die Überreste einer Frau handelte. Dann, Anfang der 1970er-Jahre, kam bei archäologischen Grabungen in der Kirche eine Überraschung ans Licht, die den Engeranern wieder Hoffnung machte: Unter den Bodenplatten befanden sich drei Gräber mit gut erhaltenen Skeletten von zwei älteren Männern und einem circa 16-Jährigen. Das Skelett, das in der Mitte lag, konnte niemand anderes als der Sachsenherzog sein. Oder vielleicht doch nicht?

Seitdem wird mit Hochdruck versucht, den „Engeraner Knochenkrimi“, wie es in einem Heft des Widukind-Museums heißt, zu lösen. Zunächst machten sich in den 2000er-Jahren Forscher des Göttinger Instituts für Anthropologie über genetisches Material her, das sie aus den Knochen extrahieren konnten, die mittlerweile, sicher verpackt in Kunststofftüten und Aluminiumkisten, in einer neu geschaffenen Gruft unter der Stiftskirche liegen. Ergebnis: Die drei Bestatteten waren miteinander verwandt. Zwei von ihnen, ältere Männer, seien „mit großer Wahrscheinlichkeit“ Halbbrüder, so heißt es im Bericht.
Überdies sei davon auszugehen, dass einer der beiden der Vater jenes jungen Mannes war, dessen Skelett im dritten Grab lag. Außerdem entdeckten die Forscher an einem der Skelette eine Fraktur des rechten Mittelfingers. Könnte das nicht der gekrümmte Finger gewesen sein, der auf der Grabplatte zu erkennen ist? Beweise sehen anders aus.
Den nächsten Schritt unternahm nun der Physiker Ronny Friedrich vom Curt-Engelhorn-Zentrum für Archäometrie (CEZA) in Mannheim. Dieses Labor ist eine renommierte Forschungseinrichtung für Materialanalysen und Datierungen mittels der sogenannten C14-Methode. Friedrich präsentiert im jetzt vorliegenden Band folgendes Ergebnis: Für die beiden älteren bestatteten Männer komme als spätest anzunehmendes Sterbedatum die Zeitspanne von 792 bis 821 infrage. Bei dem Jugendlichen lasse sich hingegen zeigen, so schreibt Friedrich, dass er „spätestens bis zum Jahr 775 gestorben sein muss“.

Eine Jahreszahl, die es in sich hat: Eine Bestattung in einer Kirche zu einer Zeit, in der es nach der herrschenden Lehre in Westfalen noch kein Christentum und also auch keine Kirchen gab, weil doch Widukinds Taufe erst 785, also zehn Jahre später, stattfand. Wie soll das möglich sein? Ist es denkbar, dass die Gräber bereits vorhanden waren, bevor später eine Kirche um sie herum gebaut wurde? Unmöglich, sagen die Autoren des Buches. Dies sei anhand der archäologischen Befunde auszuschließen. Oder wurden die Toten zunächst an anderer Stelle bestattet – und erst nach dem Kirchbau dorthin gebracht? Dagegen sprechen Lage und Zustand der Skelette.
Für Vera Brieske, Archäologin und Geschäftsführerin der LWL-Altertumskommission für Westfalen, kommt die frühe Datierung der Bestattungen nicht ganz so überraschend. In der Hellweg-Region seien neben Waren immer schon Ideen ausgetauscht worden, schreibt sie. „Und das Christentum ist sicherlich nicht erst mit Karl dem Großen in die rechtsrheinischen Gebiete gelangt.“ Brieske listet gut zwei Dutzend Beispiele von archäologischen Funden mit Kreuzdarstellungen auf, die lange falsch datiert worden seien, „weil die Archäologie annahm, keine Belege für christliches Leben finden zu können“: Schmuckstücke in Kreuzform, Grab- und Bildsteine mit Kreuzsymbolik.

Besonders eindrucksvoll sei eine Glockengussgrube, die man vor wenigen Jahren in Dülmen gefunden hat, so Brieske. Holzkohlereste belegten, dass diese Werkstatt zwischen 665 und 775 in Betrieb genommen wurde. Auch die Größe einer der dort gefertigten Glocken lasse sich berechnen: Sie hatte einen Durchmesser von 90 Zentimetern und war bestimmt nicht für einen weiten Transport gedacht. „Es muss hier also mindestens eine Kirche existiert haben“, so Brieske. Kurzum: Die Darstellung der Sachsenkriege als Missionskriege, wie sie in den Reichsannalen beschrieben werden, dürfe getrost angezweifelt werden. Widukinds Taufe, wenn sie denn stattgefunden hat, wäre demnach vor allem eine Geste der Unterwerfung gewesen – und kein Ritual, mit dem der Übertritt zu einer Religion vollzogen werden musste.
„Die Archäologie mit ihren neuen Methoden dient hier als Korrektiv der Geschichtswissenschaften“, resümiert der Historiker Olav Heinemann, einer der Herausgeber des Forschungsbandes. Er trat sein Amt als Leiter des Engeraner Widukind-Museums im vorigen Jahr an – ein Haus, das man aus der Ferne betrachtet vielleicht für ein wenig aufregendes Heimatmuseum halten könnte. Tatsächlich aber werden hier spannende Kapitel deutscher Geschichte verhandelt. Das Gebäude selbst, direkt neben der Kirche gelegen, wurde von den Nationalsozialisten als Widukind-Gedenkstätte eingerichtet und wie ein Wallfahrtsort inszeniert. Die Schnitzereien an der Fassade und an der Eingangstür, die vordergründig den Bauernhäusern der Region nachempfunden sind, zeigten bis heute Blut-und-Boden-Symbolik in Reinform, sagt Heinemann – man müsse sie nur zu lesen verstehen. Auch dazu plant er eine Veröffentlichung.
Und natürlich soll weiterhin erforscht werden, ob man es in Enger mit dem echten Widukind zu tun hat. Der CEZA-Wissenschaftler Ronny Friedrich konnte mit seiner Datierung darauf zwar keine Antwort geben – aber, immerhin: „Es ist weiterhin nicht auszuschließen“, schreibt er. Noch in diesem Jahr, so kündigt Museumsleiter Heinemann an, werde es ein weiteres Forschungsprojekt geben. Der Inhalt sei allerdings noch geheim.
Man kann freilich spekulieren. Naheliegend wäre zum Beispiel, jene Frau unter die Lupe zu nehmen, die dafür sorgte, dass die Nachwelt Widukind mit der Stadt Enger in Verbindung brachte: Mathilde, Ur-Ur-Urenkelin Widukinds und Gattin des Königs Heinrich I. Sie war es, die Mitte des 10. Jahrhunderts in Enger ein Stift begründete – mit dem Hinweis, dass an dieser Stelle bereits Widukind eine Kirche gebaut habe. Mathilde starb im Jahr 968, in der Stiftskirche von Quedlinburg steht bis heute der Sarkophag, in dem sie beigesetzt wurde. Vielleicht lässt sich mit einer DNA-Analyse ihrer Knochen herausfinden, ob eines der Skelette aus der Kirche in Enger ihrem Ur-Ur-Uropa gehört.
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