Jakob van Hoddis, Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut aus Geschmackssachen
Die
Geschöpfe der "bürgerlichen" Kultur sind Geschöpfe der Kleinbourgeoisie:
Jene stellt nicht 'das Kapital' dar, sondern stellt sich dar
unter der Herrschaft des Kapitals: sich als "den Menschen" - und dessen
Existenz, subsumiert unter das Kapital, ist "Zerrissenheit" - nämlich
das Hin und Her der kleinen Bürger, irgend-wie dazu gehörend, aber eben
nicht genug; mit-zehrend, aber unbefriedigt... So ist die "bürgerliche"
Kultur immer auch ein bisschen anti-bürgerlich, die Bohème ist die
Straußenfeder am Hut des Philisters.
Alles,
was Nietzsche über die Wagnerei sagt, ist nur Diagnose dieser
Kleinbürger-lichkeit der "bürgerlichen" Kultur. Was Wunder also, daß die
bürgerliche Epochen keinen gültigen Stil gefunden hat - notamment in der
Architektur: Es ist im Wesen eine second-hand-Kultur - eine Stellvertreterkultur nicht der Subjekte der kapitali-stischen Herrschaft, sondern nur ihrer Kostgänger. Die ideologische Kostgängerei ist in den hochentwickelten industriellen Gesellschaften ein besonderer, ein emi-nenter Industriezweig, nicht
etwa faux-frais, sondern ein wirtschaftlicher Faktor ersten Ranges: Das
Mehrprodukt wird zu erheblichem Maß als Revenü zirkuliert und schafft
dem Kapital eine massenhafte Klientel: Sie ist die wahre,
mittlerweile einzig solide Basis der demokratischen Herrschaftsform: Es
handelt sich, wer hätte das gedacht, um die Bürokratie "unter
jeglicher Gestalt". Ihr Rekrutierungsfeld ist die Masse der längst
expropriierten Kleinbourgeoisie, ihre fine fleur sind: die Leh-rer.
Dies ist die Masse, die die bürgerliche Kultur trägt, die
sie massenhaft sekretiert, sie wird derart zur demokratisch
herrschenden Macht: Die "bürgerliche", nämlich klein-bürgerliche Kultur
ist eo ipso Massenkultur. Das immer auch vorhandene Avantgar-de-Element - die Trennung von plat de résistance und Avantgarde ist eine Kreation der "bürgerlichen" Kultur! - ist immer Elite, esoterisch, überheblich, sie erlaubt sich anti-Bürgerlichkeit, zu Zeiten selbst Revolutionarität, sie darf, sie soll! Sie wird da-für bezahlt - freilich knapp, sonst erschlafft der Elan.
Ja, es ist wahr, es ist die Kleinbourgeoisie, die in der bürgerlichen Gesellschaft der Quell, der fruchtbare Boden aller kulturellen Schöpfung ist - der Ideen wie der Wer-ke; vor
allem indessen der kulturellen Massenproduktion - und die ist eben der
letz-te Dreck, von R. Wagner bis E. Blech, vom Antisemitismus bis zu
gesunden und gewaltarmen Alternativen, es ist samt und sonders décadence, wie Nietzsche sagt.
Nietzsche kommt selbstverständlich auch da her, aber bevor er auch da hin kom-men konnte, musste er in die Krallen der Frau Dr. Foerster fallen.
aus e. Notizheft, 10. 3. 1986
Nota. - Von der kulturellen Massenproduktion habe ich inzwischen eine mildere Meinung,
fast ein bisschen auch von R. Wagner. Ansonsten hat sich in den seither
vergangenen dreißig Jahre nichts ereignet, war mein Urteil über die bürgerliche
Klasse im Wortsinn zu verbessern geeignet wäre. Es ist eigentlich alles
nur noch schlimmer geworden. Was ich dagegen über die Kleinbourgeoisie
schrieb, klingt ja fast schon enthusiastisch; aber sie ist längst schon
im großen Sumpf der Angestell-tenzivilisation versunken, was früher
Avantgarde war, ist jetzt nur noch Gezier.
Worauf
ich im Nachhinein besonders den Finger legen will: Das lebende Zeugnis
dafür, dass die bürgerliche Kultur nicht bürgerlich, sondern
kleinbürgerlich ist, ist - war! - die Schlüsselrolle der Avantgarde. Die
gibt es nun allerdings auch nicht mehr.
JE, 23. 8. 16
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