aus spektrum.de, 14.09.2024 zu Jochen Ebmeiers Realien
von Michael Springer
Das
komplexeste Objekt im uns bekannten Universum ähnelt zwei Hand voll
grau-en Haferbreis. Trotz seines unscheinbaren Äußeren leistet das
menschliche Gehirn Unglaubliches; erst allmählich verstehen wir, wie es
uns ermöglicht, die Welt zu erleben – und uns mit den Mitteln der
Sprache einen Reim darauf zu machen.
Wo
sitzt die Fähigkeit, mit Worten umzugehen? Eine erste grobe Antwort
gaben Hirnverletzungen, die mit bestimmten Störungsbildern einhergehen.
So konnte man gewisse Areale als Zentren der Sprachverarbeitung
identifizieren. Einen großen Fortschritt brachten bildgebende Verfahren,
die aus dem Blutfluss indirekt auf die lokale Nerventätigkeit schließen
ließen.
Aber
was geschieht auf der Ebene einzelner Neurone? Das lässt sich erst
beant-worten, seit haarfeine Sonden mit jeweils hunderten Sensoren die
elektrische Aktivität von Nervenzellen in der Hirnrinde abgreifen
können.
Eine
US-Forschungsgruppe um die Neurochirurgen Mohsen Jamali und Benjamin
Grannan vom Massachusetts General Hospital in Boston platzierte solche
»Neuro-pixel« im präfrontalen Kortex von Patienten, die auf einen
neurochirurgischen Ein-griff vorbereitet wurden. Die Testpersonen
lauschten Sätzen, während die nadelar-tigen Sonden das Aktionspotenzial einzelner Neurone aufzeichneten.
Tatsächlich
reagierten die Zellen sehr selektiv auf Bedeutungen – besser gesagt auf
bestimmte Bedeutungsfelder. Ein Neuron, das signifikant auf »Salat«
ansprach, feu-erte auch bei Begriffen wie »Karotten« oder »Kuchen«, weil
sie alle zum semanti-schen Feld Nahrung gehören. Entsprechendes zeigte
sich bei Aktionen (»ging«, »lief« und »warf«) oder Tieren. Sogar für
abstraktere räumlich-zeitliche Relationen wie »über« oder »hinter«
erwiesen sich einzelne Neurone als exklusiv zuständig.
Erstaunliche Differenzierung auf kleinster Ebene
Nicht
nur das. Die Neurone sprachen auf echte Wörter deutlich stärker an als
auf Nonsens-Laute (»blacket«, »florp«). Zudem spielte der Kontext eine
Rolle: Das Wort »rose« kann im Englischen »stand auf« bedeuten oder die
entsprechende Blume. Auch dafür waren die Nervenzellen sensibel.
Insgesamt
bedeuten diese erstaunlichen Befunde: Im für Sprachverarbeitung
zuständigen Teil des Frontallappens repräsentieren kleine Zellverbände
je nach Kontext oder semantischer Verwandtschaft ganze Hierarchien von
Wortbedeutun-gen – und dies in Echtzeit, während die betreffende Person
einem Sprecher lauscht.
Drängt sich da nicht ein Vergleich mit den künstlichen Sprachsystemen auf, die als »Large Language Models« (LLMs) Furore machen? Dort müssen spezielle Algorith-men aufwändig darauf trainiert werden, nach gewissen Vorgaben plausible, das heißt wahrscheinliche Texte zu produzieren. Das Trainingsmaterial besteht aus gigantischen Datenbanken, die das Wissen der Menschheit zusammenfassen, soweit es digitalisiert und auf Englisch vorliegt.
Einem Kind, das sprechen lernt, wird hingegen nur ein winziger Bruchteil aus dem Fundus möglicher Sätze präsentiert. Aber sein Gehirn ist offenbar evolutionär prä-pariert, die Wort- und Satzbeispiele in komplexe Bedeutungshierarchien einzubau-en, die ihm eine unendliche Vielfalt sinnvoller Sprachäußerungen ermöglichen.
Trotzdem erkennt Mohsen Jamali Parallelen zwischen Neuronen und LLMs, wie er in einer anderen Veröffentlichung schreibt. Die Hoffnung: Wenn wir bei einem System genauer nachvollziehen können, wie es einer Eingabe Bedeutung zumisst, verstehen wir auch das emergente [!] Verhalten der jeweils anderen hochkomplexen Maschine besser.
Nota. - Bedeutungen sind, so, wie wir ihnen begegnen, hierarchisch verfasst: von oben nach unten. Organisiert sind sie im Modus von genetisch auf einander auf-bauenden resp. aus einander hevorgehenden Feldern und nicht aus linearen Assozi-ationsketten.
Doch jede Bedeutung ist offenbar individuell als Ganze gespeichert - die weitere Bedeutung ist nicht zusammengesetzt als eine Sammlung mannigfaltiger engerer Bedeutungen, sondern ist ihnen selber individuell 'überlegen' - bzw. liegt ihnen 'zugrunde'. Es finden weder Summation noch Individuation statt: Sie sind so, wie sie da sind.
Die Meldung kann man gar nicht wichtig genug nehmen, und ich werde sicher noch oft darauf zurückkommen.
Nachsatz. - Der Philosoph würde sagen: Was in der Bedeutungshierarchie höher steht, ist lediglich minder bestimmt. Indem es weniger konkret ist, ist es weniger wirklich.
JE
Nota. Das
obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie
der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht
wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog JE
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