Mittwoch, 18. September 2024

Bedeutungen sind hierarchisch geordnet.

 
aus spektrum.de, 14.09.2024                                                                                     zu Jochen Ebmeiers Realien

Springers Einwürfe
Wie Hirnzellen Sprache verstehen
Feinste Sonden erfassen die Aktivität einzelner Neurone, während Versuchspersonen Sätzen lauschen. Winzige Zellgruppen reagieren in Echtzeit differenziert auf unterschied-liche Bedeutungen. Unterschiede und Parallelen zu KI-Sprachmodellen drängen sich auf.

von Michael Springer

Das komplexeste Objekt im uns bekannten Universum ähnelt zwei Hand voll grau-en Haferbreis. Trotz seines unscheinbaren Äußeren leistet das menschliche Gehirn Unglaubliches; erst allmählich verstehen wir, wie es uns ermöglicht, die Welt zu erleben – und uns mit den Mitteln der Sprache einen Reim darauf zu machen.

Wo sitzt die Fähigkeit, mit Worten umzugehen? Eine erste grobe Antwort gaben Hirnverletzungen, die mit bestimmten Störungsbildern einhergehen. So konnte man gewisse Areale als Zentren der Sprachverarbeitung identifizieren. Einen großen Fortschritt brachten bildgebende Verfahren, die aus dem Blutfluss indirekt auf die lokale Nerventätigkeit schließen ließen.

Aber was geschieht auf der Ebene einzelner Neurone? Das lässt sich erst beant-worten, seit haarfeine Sonden mit jeweils hunderten Sensoren die elektrische Aktivität von Nervenzellen in der Hirnrinde abgreifen können.

Eine US-Forschungsgruppe um die Neurochirurgen Mohsen Jamali und Benjamin Grannan vom Massachusetts General Hospital in Boston platzierte solche »Neuro-pixel« im präfrontalen Kortex von Patienten, die auf einen neurochirurgischen Ein-griff vorbereitet wurden. Die Testpersonen lauschten Sätzen, während die nadelar-tigen Sonden das Aktionspotenzial einzelner Neurone aufzeichneten.

Tatsächlich reagierten die Zellen sehr selektiv auf Bedeutungen – besser gesagt auf bestimmte Bedeutungsfelder. Ein Neuron, das signifikant auf »Salat« ansprach, feu-erte auch bei Begriffen wie »Karotten« oder »Kuchen«, weil sie alle zum semanti-schen Feld Nahrung gehören. Entsprechendes zeigte sich bei Aktionen (»ging«, »lief« und »warf«) oder Tieren. Sogar für abstraktere räumlich-zeitliche Relationen wie »über« oder »hinter« erwiesen sich einzelne Neurone als exklusiv zuständig.

Erstaunliche Differenzierung auf kleinster Ebene

Nicht nur das. Die Neurone sprachen auf echte Wörter deutlich stärker an als auf Nonsens-Laute (»blacket«, »florp«). Zudem spielte der Kontext eine Rolle: Das Wort »rose« kann im Englischen »stand auf« bedeuten oder die entsprechende Blume. Auch dafür waren die Nervenzellen sensibel.

Insgesamt bedeuten diese erstaunlichen Befunde: Im für Sprachverarbeitung zuständigen Teil des Frontallappens repräsentieren kleine Zellverbände je nach Kontext oder semantischer Verwandtschaft ganze Hierarchien von Wortbedeutun-gen – und dies in Echtzeit, während die betreffende Person einem Sprecher lauscht.

Drängt sich da nicht ein Vergleich mit den künstlichen Sprachsystemen auf, die als »Large Language Models« (LLMs) Furore machen? Dort müssen spezielle Algorith-men aufwändig darauf trainiert werden, nach gewissen Vorgaben plausible, das heißt wahrscheinliche Texte zu produzieren. Das Trainingsmaterial besteht aus gigantischen Datenbanken, die das Wissen der Menschheit zusammenfassen, soweit es digitalisiert und auf Englisch vorliegt.

Einem Kind, das sprechen lernt, wird hingegen nur ein winziger Bruchteil aus dem Fundus möglicher Sätze präsentiert. Aber sein Gehirn ist offenbar evolutionär prä-pariert, die Wort- und Satzbeispiele in komplexe Bedeutungshierarchien einzubau-en, die ihm eine unendliche Vielfalt sinnvoller Sprachäußerungen ermöglichen.

Trotzdem erkennt Mohsen Jamali Parallelen zwischen Neuronen und LLMs, wie er in einer anderen Veröffentlichung schreibt. Die Hoffnung: Wenn wir bei einem System genauer nachvollziehen können, wie es einer Eingabe Bedeutung zumisst, verstehen wir auch das emergente [!] Verhalten der jeweils anderen hochkomplexen Maschine besser.

 

Nota. - Bedeutungen sind, so, wie wir ihnen begegnen, hierarchisch verfasst: von oben nach unten. Organisiert sind sie im Modus von genetisch auf einander auf-bauenden resp. aus einander hevorgehenden Feldern und nicht aus linearen Assozi-ationsketten.

Doch jede Bedeutung ist offenbar individuell als Ganze gespeichert - die weitere Bedeutung ist nicht zusammengesetzt als eine Sammlung mannigfaltiger engerer Bedeutungen, sondern ist ihnen selber individuell 'überlegen' - bzw. liegt ihnen 'zugrunde'. Es finden weder Summation noch Individuation statt: Sie sind so, wie sie da sind.

Die Meldung kann man gar nicht wichtig genug nehmen, und ich werde sicher noch oft darauf zurückkommen.

Nachsatz. -  Der Philosoph würde sagen: Was in der Bedeutungshierarchie höher steht, ist lediglich minder bestimmt. Indem es weniger konkret ist, ist es weniger wirklich.
JE


Nota. Das obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog JE

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