Donnerstag, 19. September 2024

Das Ganze und die Einzelheit.

J. Reynolds, Self    
aus spektrum.de, 19. 9. 2024                                                   zu Jochen Ebmeiers Realien zu Geschmackssachen

Zeichentalent 
Künstler sehen die Welt mit anderen Augen
Künstlerisch begabte Menschen können die Welt erstaunlich naturgetreu abbilden. Offenbar helfen ihnen dabei besondere kognitive Fähigkeiten.

Um die Welt wirklichkeitsgetreu zu Papier zu bringen, bedarf es besonderer Fähig-keiten: Man muss sowohl die Details als auch das Gesamtbild im Kopf haben. Bei-des gelingt Künstlerinnen und Künstlern besonders gut, wie eine Forschungsgrup-pe in der Zeitschrift »Psychology of Aesthetics, Creativity, and the Arts« berichtet. Der Studie zufolge hängt die Güte von Zeichnungen tatsächlich mit beiden Arten der Wahrnehmung zusammen: dem Blick für die Feinheiten und fürs große Ganze.

Für die Versuchsreihe hatte das Team um die Psychologin Jennifer Drake von der City University of New York 40 Studierende einer privaten Kunsthochschule in New York sowie rund 40 Studierende anderer Disziplinen angeworben. Alle ab-solvierten zunächst mehrere kognitive Tests, die ihre Fähigkeiten erfassten, visuelle Informationen zum einen »lokal« (detailfokussiert) und zum anderen »global« (das Gesamtbild und seine Struktur betreffend) zu verarbeiten. Dazu sollten sie unter anderem einfache Formen in einem komplexen Muster entdecken und das Gesamt-bild hinter unscharfen Formen oder verstreuten Einzelteilen erkennen. Dann folg-ten die Kunstaufgaben: ein Stillleben und ein Gesicht realitätsgetreu zu zeichnen sowie komplexe Strichzeichnungen möglichst genau nachzumalen.

Die Künstlerinnen und Künstler waren den übrigen Studierenden nicht nur im Zeichnen überlegen, sondern auch darin, komplexe visuelle Informationen in Einzelteile zu zerlegen und Fragmente zu einem Ganzen zu verbinden. Für beide Gruppen galt: Je besser sie in den kognitiven Tests abschnitten, desto genauer ihre Zeichnungen. Außerdem kam es darauf an, was sie zuerst zeichneten: Wer mit der Gesamtstruktur begann, hatte am Ende ein genaueres Bild. Zwar tendierten beide Gruppen zu dieser Strategie, die Kunstgruppe jedoch ganz besonders.

Gestützt auf vorherige Studien glauben die Forschenden, dass Künstler ausgespro-chen flexibel zwischen lokaler und globaler Informationsverarbeitung wechseln, was sich zum Beispiel in den Augenbewegungen zeige. Demnach unterscheiden sich Kunstschaffende von Amateuren nicht auf der Ebene der sensorischen Wahr-nehmung, sondern in ihrer Aufmerksamkeitssteuerung. Ein gutes visuelles Gedächtnis aber könnte ebenfalls zum Zeichentalent beitragen. Laut einer Sonderausgabe zum Thema Kunst in »Memory & Cognition« 2024 gelingt es Künstlern zum Beispiel besser, Fotos von einem Badezimmer aus der Erinnerung nachzumalen, ohne dass sie vorher von der Aufgabe wussten.

Unklar ist freilich, was Ursache und was Wirkung ist. Machen die kognitiven Fähigkeiten das künstlerische Talent aus? Das muss nicht so sein. Denkbar wäre ebenso, dass die künstlerische Arbeit über die fortwährende Praxis schlicht die Aufmerksamkeit schult und das Gedächtnis trainiert – oder dass beides gemeinsam zu den beobachteten Unterschieden beiträgt. 

 

Nota. - Wahrnehmen heißt Bilden: Nicht die Augen melden ein Bild als Gehirn, sondern das Gehirn setzt die Reize, die die Sinnenszellen ihm senden, zu einem Bild zusammen. Wie in einem Puzzle? Aber das setzt ein Schema voraus, in das ein Wahrnehmer die Einzelteile einfügt (und einen Bildner, der aus verstreuten Sinnes-reizen ein passendes Einzelteil her stellt; usw.).

Mit andern Worten, die Künstler haben nicht mit andern Augen gesehen, sondern ihr Gehirn hat andere Bilder entworfen - ausgehend vom selben Sinnesmaterial; aber hinzugebend... was? Denn es stand ihm frei, sich an das Vor bild der Natur zu halten, oder selber eines zu erfinden.

Und dieses noch: Die elementare Unterscheidung des Ganzen von den Teilen geschieht durch die Auffassung einer Gestalt als zusammengsetzt aus Figur und Grund; sodass das Gehirn die Einzelheiten wahlweise auf diese oder jenen ver teilen kann. Die Bereitschaft (?) zur Gestaltwahrnehmung ist allerdings individuell ver-schieden ausgeprägt. Dass "jeder ein Künstler" wäre, ist wohl übertrieben.
JE

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