aus spektrum.de, 13. 9. 2024 Das Auswahlaxiom hat die Mathematik-Gemeinschaft gespalten. zu Ebmeiers Realien
Backen ist leider so gar nicht meine Stärke. Wenn ich also nachmittags Besuch bekomme, flitze ich kurz vorher in eine Bäckerei und habe dann nur noch die Qual der Wahl. Angesichts der riesigen Auswahl an appetitlichen Kuchen und Torten fällt es mir meistens schwer, mich zu entscheiden. Meine Strategie besteht in der Regel darin, zu sagen: »Ach, packen Sie mir doch von jedem eins ein.«
Diese Entscheidungslosigkeit hat in der Vergangenheit heftige Debatten in der Mathematik ausgelöst. Zugegeben:
Es ist nicht meine mangelnde Entschlussfähigkeit beim Bäcker, die
Mathematiker ärgert (es sei denn, sie stehen hinter mir an der
Schlange). Nein, was Anfang des 20. Jahrhunderts die
Mathematik-Community wirklich gespalten hat – und es teilweise noch
heute tut –, ist das so genannte Auswahlaxiom. Dabei handelt es sich um
eine unbewiesene Grundwahrheit. Sie besagt, dass ich genau das
Geschilderte machen kann: von beliebig vielen verschiedenen Kuchen und
Torten genau ein Stück auswählen und mit nach Hause nehmen.
Das
klingt zunächst erst mal nicht allzu verrückt: Warum sollte das gegen
mathematische Prinzipien verstoßen? Wie sich herausstellt, sehen die
meisten Fachleute das Problem nicht im Auswahlaxiom an sich, sondern in
dem, was daraus folgt. Denn das Auswahlaxiom führt zu anscheinend
widersprüchlichen Ergebnissen: etwa, dass man eine Kugel auf »magische«
Weise verdoppeln kann oder dass es endliche Objekte gibt, die sich nicht
vermessen lassen. Deswegen geben einige Fachleute oft extra an, wenn
sie in einem Beweis das Auswahlaxiom genutzt haben – und es gibt sogar
Strömungen in der Mathematik, die versuchen, das Fach ohne Auswahlaxiom
neu aufzubauen. Allerdings ist eine Welt ohne Auswahlaxiom noch viel
seltsamer.
Grundlage der Mathematik
Um die Streitigkeiten zu verstehen, muss man zunächst wissen, was die Mathematik von den anderen Naturwissenschaften unterscheidet: ihr Fundament. Ende des 19. Jahrhunderts erkannten Mathematiker, dass sie sich auf eine gemeinsame Grundlage einigen müssten – ein paar Grundwahrheiten samt Regelwerk, so dass man daraus alle Erkenntnisse des Fachs ableiten kann: von 1 + 1 = 2 über komplizierte Integrale bis hin zu statistischen Aussagen. Wenn man sich auf ein gemeinsames Fundament festlegt, lässt sich anhand des Regelwerks jede Aussage und jeder Beweis eindeutig prüfen. Ein guter Ausgangspunkt für die Formulierung des Fundaments schien damals die Mengenlehre.
Die Fachleute mussten sich auf
einen Satz Grundwahrheiten einigen, die wahr sind, ohne dass man das je
beweisen könnte. Ein Beispiel für eine solche Grundwahrheit, ein so
genanntes Axiom, ist: Es gibt eine leere Menge. Es erfüllt alle
Ansprüche, die Axiome haben sollten; es ist kurz, es ist präzise, es
definiert ein eindeutiges Objekt, und es steht außer Frage, dass es wahr
ist. Also suchten Mathematikerinnen und Mathematiker nach weiteren
Axiomen, in der Hoffnung, ein möglichst simples, kurzes Regelwerk zu
finden, aus dem sich letztlich das gesamte Fach aufbaut.
Und
sie waren erfolgreich. Aus ihrer Bemühung entstand das so genannte
Zermelo-Fraenkel-Axiomensystem, bestehend aus acht Grundwahrheiten. All
diese Axiome besagen, dass es bestimmte Mengen gibt, beispielsweise die
leere Menge oder die Potenzmenge einer Menge. Und diese sind durch die
Axiome stets eindeutig festgelegt. Doch der Mathematiker Ernst Zermelo
merkte schnell, dass diese acht Grundwahrheiten nicht ausreichen. 1904
führte er daher auch noch das Auswahlaxiom ein. Damit begannen die
Streitigkeiten.
Man hat immer eine Wahl
Das Auswahlaxiom erlaubt es, aus einer Reihe von nichtleeren Mengen jeweils ein Element auszuwählen. So, wie ich beim Bäcker eine Kostprobe mehrerer Kuchen haben kann. Es scheint zunächst nur natürlich, dass das möglich ist. Allerdings begrenzt sich das Auswahlaxiom nicht auf endliche Fälle: Auch wenn es unendlich viele Kuchen gibt, erlaubt es das Auswahlaxiom, je ein Stück herauszugreifen. Das Axiom besagt, dass es eine Vorschrift gibt, die ich dem Bäcker mitteilen kann, so dass ich jeden Kuchen probieren kann. Eine solche Vorschrift wäre etwa: »Bitte geben Sie mir von jedem Kuchen das Randstück.« Damit hat die Person hinter der Bäckertheke eine eindeutige Anweisung, die sie befolgen kann. Wenn ich aber an kreisrunden Torten interessiert bin, ist das weniger einfach: Ich kann nur sagen, dass ich gerne ein Stück von jeder Torte hätte – aber ich kann nicht genau angeben, welches ich möchte, da die Tortenstücke ununterscheidbar sind.
Und genau das störte viele
Fachleute. Das Auswahlaxiom ist anders als die übrigen Axiome, die eine
eindeutig definierte Menge vorhersagen. Ihm zufolge existiert eine
»Auswahlfunktion« (eine Anweisung, die ich dem Bäcker mitteile), ohne
dass man weiß, wie diese aussehen könnte.
Gregory H. Moore, Mathematikhistoriker
Das Ergebnis entfachte eine weltweite Debatte, die fast schon philosophischer Natur war: Wann existiert ein mathematisches Objekt (wie die Auswahlfunktion oder das kleinste Element einer Menge)? Muss man stets angeben können, wie sich ein Objekt konstruieren lässt? Oder genügt es, die Existenz indirekt zu beweisen? »Von 1905 bis 1908 debattierten namhafte Mathematiker in England, Frankreich, Deutschland, Holland, Ungarn, Italien und den Vereinigten Staaten über die Gültigkeit von Zermelos Beweis. Niemals haben Mathematiker in der Neuzeit so öffentlich und so vehement über einen Beweis gestritten«, schreibt der Mathematikhistoriker Gregory Moore in seinem 1982 erschienenen Buch »Zermelo's Axiom of Choice«.
Und es kam noch schlimmer. Aus dem Auswahlaxiom folgt das so genannte Vitali-Theorem, wonach man eine Menge aus reellen Zahlen zwischen 0 und 1 bilden kann, die nicht messbar ist. Man kann dieser Menge also keine Länge zuordnen (während man das für die meisten Mengen problemlos kann, so hat das Intervall [0, 1] die Länge 1). Das Auswahlaxiom erlaubt es, die Zahlen in einzelne Teilmengen zu gruppieren und aus jeder ein Element zu wählen, wodurch die daraus entstehende Menge so zerklüftet ist, dass sie nicht mehr messbar ist.
Ein weiteres kontraintuitives Ergebnis ist die magische Verdopplung einer Kugel, besser bekannt als Banach-Tarski-Paradoxon. Mit Hilfe des Auswahlaxioms lässt sich eine Kugel mit Volumen V so in komplizierte Einzelteile zerlegen und wieder zusammensetzen, dass zwei Kugeln mit jeweiligen Volumen V entstehen. Solche und weitere Ergebnisse haben das Misstrauen in das Auswahlaxiom verstärkt.
Eine alternative Mathematik
Einige
Fachleute waren also entschieden, das Auswahlaxiom zu verwerfen und
stattdessen nur mit den acht Grundwahrheiten der
Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre zu arbeiten. Doch sie kamen nicht weit. Tatsächlich untersuchte Zermelo die Arbeiten von einigen der vehementesten Kritiker des Auswahlaxioms und konnte belegen, dass seine Kollegen – ohne es zu merken – immer wieder davon Gebrauch machten.
Ohne das Auswahlaxiom lässt sich beispielsweise nicht sicherstellen, dass jeder Vektorraum eine Basis hat. Dieses »Lemma von Zorn«
klingt abstrakt, aber es handelt sich um eine Eigenschaft, auf die
Physikerinnen und Mathematiker immer wieder zurückgreifen. Anschaulich
kann man sich das mit Hilfe eines Blatts Papier vorstellen (das aus
mathematischer Sicht nichts anderes als ein Vektorraum ist). Wenn man
auf dieses Blatt zwei Pfeile malt, wobei einer in waagerechte und einer
in senkrechte Richtung zeigt, dann kann man ausgehend von diesen Pfeilen
jeden Punkt auf dem Blatt erreichen. Man kann zum Beispiel 0,5-mal die
Länge des ersten Pfeils nehmen und mit 1,65-mal der Länge des zweiten
addieren, um bei einem bestimmten Punkt x zu landen. Das Lemma
von Zorn ermöglicht es folglich, in jedem Vektorraum ein
Koordinatensystem zu zeichnen, durch das sich jeder Punkt im Raum
eindeutig beschreiben lässt. Verzichtet man auf das Auswahlaxiom, gibt
es auch Vektorräume ohne ein solches Koordinatensystem – was gerade in
der Physik zu ernsten Problemen führen kann.
»Das Auswahlaxiom ist offensichtlich richtig, der Wohlordnungssatz ist offensichtlich falsch – und wer weiß schon, ob das Lemma von Zorn stimmt«
Jerry Bona, Mathematiker
Wie sich herausstellt, hängen der Wohlordnungssatz, das Lemma von Zorn und das Auswahlaxiom nicht nur zusammen, sondern sie sind äquivalent. Aus mathematischer Sicht stehen sie auf einer Stufe, sie sind gleich. Das erscheint überaus erstaunlich, wie es der Mathematiker Jerry Bona treffend formulierte: »Das Auswahlaxiom ist offensichtlich richtig, der Wohlordnungssatz ist offensichtlich falsch – und wer weiß schon, ob das Lemma von Zorn stimmt.«
Ist das Auswahlaxiom richtig oder falsch?
Damit stand die Fachwelt vor der Wahl: Entweder akzeptierte sie das Auswahlaxiom und nahm es mit dazu oder sie ließ es weg. Aber, so der Gedanke einiger Fachleute, vielleicht ließe sich zeigen, dass die Hinzunahme des Auswahlaxioms zu Widersprüchen führt. Angenommen, die acht Grundwahrheiten sind wirklich richtig und werden immer nur korrekte Ergebnisse hervorbringen. Dann könnte es sein, dass ein zusätzliches Axiom zu Problemen führt: In Kombination mit einem der acht Zermelo-Fraenkel-Axiome könnte eine widersprüchliche Aussage wie 1 = 2 entstehen. In diesem Fall wäre das Fundament der Mathematik fehlerhaft, und das gesamte Fach würde wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrechen.
Das Auswahlaxiom kann als wahr oder falsch angesehen werden – und Mathematiker haben die freie Wahl, sich für eine der beiden Möglichkeiten zu entscheiden
Doch
wie sich in den 1960er Jahren herausstellte, ist das nicht der Fall.
Fügt man den acht Grundwahrheiten das Auswahlaxiom hinzu, ergeben sich
daraus keine Widersprüche. Allerdings ist es umgekehrt genauso: Man kann
den acht Zermelo-Fraenkel-Axiomen die Negation des Auswahlaxioms
hinzufügen, ohne auf Probleme zu stoßen. Das heißt: Das Auswahlaxiom
kann als wahr oder falsch angesehen werden – und Mathematiker haben die
freie Wahl, sich für eine der beiden Möglichkeiten zu entscheiden.
Eine Welt ohne Auswahl
»Man
hört häufig, dass das Auswahlaxiom für bestimmte mathematische
Argumente nützlich, aber angesichts des Banach-Tarski-Paradoxons und
anderer kontraintuitiver Konsequenzen problematisch ist. Meiner Meinung
nach ergibt sich jedoch eine ausgewogenere Diskussion, wenn man auch die
kontraintuitiven Situationen hervorhebt, die auftreten können, wenn das
Auswahlaxiom versagt«, schreibt
der Mathematiker Joel David Hamkins von der University of Notre Dame in
Indiana in seinem Buch »Lectures on the Philosophy of Mathematics«.
Sieht
man das Auswahlaxiom als falsch an, ergeben sich mit Blick auf reelle
Zahlen paradoxe Ergebnisse. Angenommen, man möchte die reellen Zahlen in
verschiedene Grüppchen unterteilen; Zahl x kommt in den Eimer A, Zahl y
in Eimer B und so weiter. Jede Zahl kann in genau einem Eimer landen,
und die Eimer enthalten jeweils mindestens eine Zahl. Wenn man das
Auswahlaxiom ablehnt, dann lässt sich beweisen, dass die Anzahl der
Eimer die der reellen Zahlen übersteigt. Es gibt also unendlich viele
reelle Zahlen (und auch Eimer), aber die Unendlichkeit der Eimer ist
größer als die Unendlichkeit der reellen Zahlen – zumindest, falls das
Auswahlaxiom falsch ist.
»Das ist viel schlimmer als die nicht messbaren Mengen von Vitali« Joel David Hamkins, Mathematiker
Aus diesem Grund hat sich das Auswahlaxiom in der »Mainstream-Mathematik« durchgesetzt. Es gibt zwar eine kleine mathematische Community, die versucht, das Fach völlig ohne Auswahlaxiom neu aufzurollen, doch die meisten Mathematiker und Mathematikerinnen haben es inzwischen als wahr akzeptiert. Ein Glück, denn so bleibt es weiterhin möglich, eine Kostprobe von beliebig vielen Torten beim Bäcker zu bestellen – und ich muss nicht anfangen, backen zu lernen.
Nota. - Frau Bischoff zählt die Mathematik umstandslos unter die Naturwissen-schaften. Das ist entweder irreführend oder falsch. Es gibt keine Wissenschaften von der Natur - nämlich von dem, was in Raum und Zeit vorkommt - ohne Mathe-matik. Man kann sogar sagen - Kant hat es gesagt -, in den Naturwissenschaften sei nur soviel Wissenschaft, wie Mathematik in ihnen ist. Wäre aber die Mathematik selber Ingrediens der Natur, dann könnte sie nicht deren Messlatte sein. Die Natur mäße sich selbst an sich selbst - das hieße, sie mäße sich gar nicht. Oder genauer gesagt: Mäße sie sich selbst, so wäre es unerklärlich, wie wir davon wissen könnten. Messen kann man nur an einem Medium, das zwischen dem Messenden und dem Vermessenen steht - und der eine es in den andern hineinsteckt wie ein Fieberther-mometer.
Wäre das nicht der Fall, so könnte es unentscheidbare Probleme in der Mathematik nicht geben: Man müsste nur geduldig und genau genug... messen. Dann gäbe das Problem nicht: Man müsste nur in die Versuchsanordnung schauen: 'Ist da oder ist nicht da?'
Die Elementareinheit der Mathematik ist die Zahl; nämlich die 1: nur ihretwegen kann es weitere Zahlen geben - und muss es sie geben. Ohne Zahlen gäbe es weder Zeit noch Raum.
Aber Zahlen gibt es nur, weil einer zählen wollte. Und zählen will nur, wer messen will. Das Medium ist erfunden worden, um zwischen den Menschen und der Natur zu vermitteln. Nämlich immer dann und dort, wann und wo die Menschen "in der Natur", nämlich in Raum und Zeit, etwas zu besorgen haben.
Wo sie nicht in Raum und Zeit, sondern ausschließlich in der Vorstellung etwas zu besorgen haben, reicht ihnen die Logik. Die braucht keine Zahlen. Ob sie auf Mengen verzichten kann, ist eine andere Frage.
Und wenn an der einen oder andern Stelle das Medium Mängel aufweist, muss man die Löcher mit Ersatzteilen stopfen; etwa mit Vereinbarungen. Solange das ausreicht...
JE
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