aus spektrum.de, 21. 9. 2024 zu Philosophierungen,
Eines der für die abendländische Philosophie einflussreichsten Werke
beschäftigt sich gar nicht mit Philosophie. Es gehörte bis ins
19. Jahrhundert zu den meistge-lesenen Lehrbüchern überhaupt und wurde
schon vor weit über 2000 Jahren ge-schrieben. Vielleicht denken Sie nun,
dass ich auf irgendeine religiöse Schrift an-spiele, weil in antiker Zeit
kein Unterschied zwischen Philosophie und Theologie herrschte und im
Christentum die Philosophie lange Zeit als »Dienerin der Theo-logie«
galt. Doch weit gefehlt: Es handelt sich um ein Lehrbuch der Geometrie,
die »Elemente« (Stoicheia), die dem hellenistischen Mathematiker Euklid
von Alexan-dria um 300 v. Chr. zugeschrieben werden.
Warum der enorme Einfluss? Um das zu verstehen, muss man den Aufbau des
Werks betrachten. Die »Elemente« beginnen mit einer Reihe von
Definitionen, einer Aufzählung von fünf Postulaten (darunter etwa, dass
sich durch je zwei beliebige Punkte eine Gerade legen lässt) und fünf
Grundsätzen, die als selbst-verständlich gelten sollen, zum Beispiel:
Gleichem dasselbe weggenommen ergibt Gleiches. Im Anschluss werden
verschiedene geometrische Konstruktionen mit Zirkel und Lineal
vorgenommen und in einfachen Diagrammen wiedergegeben. Dazu wird jeweils
anhand der Postulate und Grundsätze hergeleitet, weshalb die
Konstruktionen – etwa die eines gleichseitigen Dreiecks auf Grundlage
einer ge-gebenen Strecke – auch tatsächlich korrekt sind.
Die verwendeten sprachlichen Mittel sind dabei auf das Äußerste
reduziert, und alle Beweise enden mit dem Satz »Was zu tun war« oder
»Was zu zeigen war«. Dabei baut jeder Beweis ausschließlich auf bereits
Bewiesenem sowie auf den Ausgangs-annahmen auf. So zeigt die zweite
Konstruktion, dass es möglich ist, eine Strecke von einem beliebigen
Punkt zu einem anderen zu übertragen – wofür die vorherige Konstruktion
des gleichseitigen Dreiecks benötigt wird.
Diese Vorgehensweise galt nun über Jahrtausende als Muster einer
stringenten wissenschaftlichen Methode: ein strenger, geordneter Aufbau,
der aus einem mini-malen Satz von Voraussetzungen mit zwingender
logischer Schlüssigkeit immer komplexere Wahrheiten herausholt. Es
wundert wenig, dass auch und gerade die Philosophie davon fasziniert
war. Die hohe Zeit dieser Begeisterung war das 17. Jahrhundert. So trägt
das kurz nach seinem Tod 1677 erschienene Hauptwerk des
niederländischen Philosophen Baruch de Spinoza die geometrische Methode
schon im Titel: »Ethica, Ordine Geometrico demonstrata« – Ethik, nach
geome-trischer Ordnung bewiesen. Auch er beginnt mit Definitionen und
Axiomen und zieht seine Argumentation dann in mathematischer
Schrittfolge hoch.
Spinoza kommt zu dem Schluss, dass Gott notwendigerweise existiert, aber kein übernatürliches persönliches Wesen ist, sondern mit der Natur identisch
Schon ein flüchtiger Blick in die beiden Werke zeigt jedoch, welche Schwierigkeit mit dem »geometrischen« Anspruch verbunden ist. Euklids Postulate besagen etwa: »Eine gerade Strecke ist beliebig verlängerbar« (Nr. 2) oder »Alle rechten Winkel sind unter sich gleich« (Nr. 4). Spinoza postuliert zu Beginn seiner »Ethica« bei-spielsweise: »Eine wahre Idee muss mit ihrem Gegenstand übereinstimmen« (VI) oder »Was als nicht existierend begriffen werden kann, dessen Wesen schließt die Existenz nicht ein« (VII). Es mag sein, dass für Europäer mit akademisch-philo-sophischem Bildungshintergrund diese beiden Postulate gegen Ende des 17. Jahr-hunderts so einleuchtend und selbstverständlich waren wie jene Euklids. Aber vom heutigen Standpunkt aus betrachtet kann man sie sicherlich zumindest diskutieren – und die im weiteren Verfahren erarbeiteten Ergebnisse Spinozas nicht minder. Schließlich kommt er unter anderem zu dem Schluss, dass Gott notwendigerweise existiert, aber kein übernatürliches persönliches Wesen ist, sondern mit der Natur identisch.
Man könnte den Eindruck gewinnen, dass die »geometrische Methode« vor
allem ein Stilmittel ist, ein Versuch, die eigenen Gedanken vielleicht
besser zu struktu-rieren, auf jeden Fall strukturierter erscheinen zu
lassen. Es gibt eine Reihe berühm-ter philosophischer Werke wie etwa der
»Tractatus« von Ludwig Wittgenstein (1918), der schon mit seinem Titel
auf Spinoza anspielt, oder der »Logische Aufbau der Welt« von Rudolf
Carnap (1926), die in der einen oder anderen Art und Weise den Anspruch
erheben, eine konsequente, mathematisch-logische Ordnung in ihrem
Vorgehen einzuhalten.
Die euklidische Geometrie ist jedoch selbst nicht ohne Schwächen,
insbesondere arbeitet sie mit schwammigen Definitionen von Gerade (»eine
Linie, die durch Punkte gleichmäßig gegeben ist«) und Ebene (»etwas,
was nur Länge und Breite hat«). Hinzu kommt der
wissenschaftsgeschichtlich sehr bedeutsame Ärger mit dem
Parallelenpostulat, den ich aber hier ausklammere, weil er irgendwann
einmal eine eigene Kolumne verdient hat...
Doch bei aller Kritisierbarkeit: Man muss neidlos feststellen, dass die Philosophie bei all ihren Versuchen nie ein Werk hervorgebracht hat, das sich in seiner Kon-sensfähigkeit mit den »Elementen« messen kann. Ich persönlich neige sogar dazu, das für unmöglich zu halten, weil philosophische Begriffe notwendigerweise in einer ganz anderen Liga spielen als geometrische – aber es gibt durchaus Philoso-phen, die bis heute darauf hoffen, dass jemand irgendwann eine Reihe von Propositionen untereinanderschreibt, die so zwingend dargelegt sind, dass man gar nicht anders kann, als sie zu akzeptieren.
Nota. - Dass geometrische Begriffe "in einer ganz anderen Liga spielen" als philo-sophische hätte schon ein paar erläuternde Zeilen verdient.
Auch scheint Warkus die "Konsensfähigkeit" einer Lehre für einen Hinweis auf deren Haltbareit zu halten. Oder macht die sie eher verdächtig? Was konsensfähig ist, hängt von vielen Bestimmungen der Zeit und des Ortes ab. Nicht aber, was einem unablässigen Prozess öffentlicher Kritik standhält - denn durch den werden die zufälligen Bestimmungen von Zeit und Ort ausgeschieden. Konsensfähig ist das zum gegebenen Moment in den meisten Fällen wohl nicht.
JE
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