Samstag, 28. September 2024

Euklid, Spinoza und die geometrische Methode


aus spektrum.de, 21. 9. 2024                                                        zu Philosophierungen,

Das Buch, das Philosophen wie kaum ein anderes prägte
Euklids »Elemente« hatten eine unvergleichliche Wirkung auf die abendländische Philosophie. Dabei behandeln sie nicht philosophische, sondern geometrische Fragen.

Eines der für die abendländische Philosophie einflussreichsten Werke beschäftigt sich gar nicht mit Philosophie. Es gehörte bis ins 19. Jahrhundert zu den meistge-lesenen Lehrbüchern überhaupt und wurde schon vor weit über 2000 Jahren ge-schrieben. Vielleicht denken Sie nun, dass ich auf irgendeine religiöse Schrift an-spiele, weil in antiker Zeit kein Unterschied zwischen Philosophie und Theologie herrschte und im Christentum die Philosophie lange Zeit als »Dienerin der Theo-logie« galt. Doch weit gefehlt: Es handelt sich um ein Lehrbuch der Geometrie, die »Elemente« (Stoicheia), die dem hellenistischen Mathematiker Euklid von Alexan-dria um 300 v. Chr. zugeschrieben werden.

Warum der enorme Einfluss? Um das zu verstehen, muss man den Aufbau des Werks betrachten. Die »Elemente« beginnen mit einer Reihe von Definitionen, einer Aufzählung von fünf Postulaten (darunter etwa, dass sich durch je zwei beliebige Punkte eine Gerade legen lässt) und fünf Grundsätzen, die als selbst-verständlich gelten sollen, zum Beispiel: Gleichem dasselbe weggenommen ergibt Gleiches. Im Anschluss werden verschiedene geometrische Konstruktionen mit Zirkel und Lineal vorgenommen und in einfachen Diagrammen wiedergegeben. Dazu wird jeweils anhand der Postulate und Grundsätze hergeleitet, weshalb die Konstruktionen – etwa die eines gleichseitigen Dreiecks auf Grundlage einer ge-gebenen Strecke – auch tatsächlich korrekt sind.

Die verwendeten sprachlichen Mittel sind dabei auf das Äußerste reduziert, und alle Beweise enden mit dem Satz »Was zu tun war« oder »Was zu zeigen war«. Dabei baut jeder Beweis ausschließlich auf bereits Bewiesenem sowie auf den Ausgangs-annahmen auf. So zeigt die zweite Konstruktion, dass es möglich ist, eine Strecke von einem beliebigen Punkt zu einem anderen zu übertragen – wofür die vorherige Konstruktion des gleichseitigen Dreiecks benötigt wird.

Diese Vorgehensweise galt nun über Jahrtausende als Muster einer stringenten wissenschaftlichen Methode: ein strenger, geordneter Aufbau, der aus einem mini-malen Satz von Voraussetzungen mit zwingender logischer Schlüssigkeit immer komplexere Wahrheiten herausholt. Es wundert wenig, dass auch und gerade die Philosophie davon fasziniert war. Die hohe Zeit dieser Begeisterung war das 17. Jahrhundert. So trägt das kurz nach seinem Tod 1677 erschienene Hauptwerk des niederländischen Philosophen Baruch de Spinoza die geometrische Methode schon im Titel: »Ethica, Ordine Geometrico demonstrata« – Ethik, nach geome-trischer Ordnung bewiesen. Auch er beginnt mit Definitionen und Axiomen und zieht seine Argumentation dann in mathematischer Schrittfolge hoch.

Spinoza kommt zu dem Schluss, dass Gott notwendigerweise existiert, aber kein übernatürliches persönliches Wesen ist, sondern mit der Natur identisch

Schon ein flüchtiger Blick in die beiden Werke zeigt jedoch, welche Schwierigkeit mit dem »geometrischen« Anspruch verbunden ist. Euklids Postulate besagen etwa: »Eine gerade Strecke ist beliebig verlängerbar« (Nr. 2) oder »Alle rechten Winkel sind unter sich gleich« (Nr. 4). Spinoza postuliert zu Beginn seiner »Ethica« bei-spielsweise: »Eine wahre Idee muss mit ihrem Gegenstand übereinstimmen« (VI) oder »Was als nicht existierend begriffen werden kann, dessen Wesen schließt die Existenz nicht ein« (VII). Es mag sein, dass für Europäer mit akademisch-philo-sophischem Bildungshintergrund diese beiden Postulate gegen Ende des 17. Jahr-hunderts so einleuchtend und selbstverständlich waren wie jene Euklids. Aber vom heutigen Standpunkt aus betrachtet kann man sie sicherlich zumindest diskutieren – und die im weiteren Verfahren erarbeiteten Ergebnisse Spinozas nicht minder. Schließlich kommt er unter anderem zu dem Schluss, dass Gott notwendigerweise existiert, aber kein übernatürliches persönliches Wesen ist, sondern mit der Natur identisch.

Ist die »geometrische Methode« ein Stilmittel?

Man könnte den Eindruck gewinnen, dass die »geometrische Methode« vor allem ein Stilmittel ist, ein Versuch, die eigenen Gedanken vielleicht besser zu struktu-rieren, auf jeden Fall strukturierter erscheinen zu lassen. Es gibt eine Reihe berühm-ter philosophischer Werke wie etwa der »Tractatus« von Ludwig Wittgenstein (1918), der schon mit seinem Titel auf Spinoza anspielt, oder der »Logische Aufbau der Welt« von Rudolf Carnap (1926), die in der einen oder anderen Art und Weise den Anspruch erheben, eine konsequente, mathematisch-logische Ordnung in ihrem Vorgehen einzuhalten. 


Die euklidische Geometrie ist jedoch selbst nicht ohne Schwächen, insbesondere arbeitet sie mit schwammigen Definitionen von Gerade (»eine Linie, die durch Punkte gleichmäßig gegeben ist«) und Ebene (»etwas, was nur Länge und Breite hat«). Hinzu kommt der wissenschaftsgeschichtlich sehr bedeutsame Ärger mit dem Parallelenpostulat, den ich aber hier ausklammere, weil er irgendwann einmal eine eigene Kolumne verdient hat...

Doch bei aller Kritisierbarkeit: Man muss neidlos feststellen, dass die Philosophie bei all ihren Versuchen nie ein Werk hervorgebracht hat, das sich in seiner Kon-sensfähigkeit mit den »Elementen« messen kann. Ich persönlich neige sogar dazu, das für unmöglich zu halten, weil philosophische Begriffe notwendigerweise in einer ganz anderen Liga spielen als geometrische – aber es gibt durchaus Philoso-phen, die bis heute darauf hoffen, dass jemand irgendwann eine Reihe von Propositionen untereinanderschreibt, die so zwingend dargelegt sind, dass man gar nicht anders kann, als sie zu akzeptieren. 

 

Nota. - Dass geometrische Begriffe "in einer ganz anderen Liga spielen" als philo-sophische hätte schon ein paar erläuternde Zeilen verdient. 

Auch scheint Warkus die "Konsensfähigkeit" einer Lehre für einen Hinweis auf deren Haltbareit zu halten. Oder macht die sie eher verdächtig? Was konsensfähig ist, hängt von vielen Bestimmungen der Zeit und des Ortes ab. Nicht aber, was einem unablässigen Prozess öffentlicher Kritik standhält - denn durch den werden die zufälligen Bestimmungen von Zeit und Ort ausgeschieden. Konsensfähig ist das zum gegebenen Moment in den meisten Fällen wohl nicht.
JE

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