aus spektrum.de, 19.09.2024Warum schauen wir beim Nachdenken oft nach oben? Vielleicht, weil eine
für die Blicksteuerung wichtige Hirnregion auch bei
Entscheidungsprozessen mitmischt. zuJochen Ebmeiers Realien
Kognitionsforschung
Wenn das Stammhirn die Lösung erblickt Evolutionär
alte Hirnstrukturen steuern bei allen Wirbeltieren die Kopf- und
Augenbewe-gungen. Überraschenderweise wirken sie auch an »höheren«
Denkvorgängen mit.
Stammesgeschichtlich
alte Strukturen im Hirnstamm beteiligen sich offenbar an Entscheidungs-
und Denkvorgängen. Das ist verblüffend, weil üblicherweise die
Großhirnrinde als »Sitz des Denkens« gilt. Ein Team um den Neurobiologen
David J. Freedman von der University of Chicago berichtet darüber im
Fachjournal »Nature Neuroscience«.
Die
so genannten Colliculi superiores (die »oberen Hügelchen«) im Hirnstamm
ermöglichen es Wirbeltieren, sich im Raum zu orientieren, indem sie die
Augen- und Kopfbewegungen steuern. Das ist schon länger bekannt.
Freedman und sein Team haben jetzt festgestellt, dass diese Hirnbereiche
noch weitere Funktionen ausüben. Die Fachleute überwachten bei Makaken
(einer Gattung der Altweltaffen) dieneuronaleAktivitätin den
Colliculisuperiores sowie in einem Teil der Großhirn-rinde, dem
posterioren parietalen Kortex, während die Tiere entscheiden mussten, ob
ein wanderndes Punktmuster zu einem Set an definierten
Bewegungsrichtungen gehört. Die evolutionär alten Strukturen im
Hirnstamm zeigten sich dabei erstaun-licherweise aktiver als die
untersuchten Areale in der Großhirnrinde. Als die For-scher die Colliculi
superiores chemisch vorübergehend inaktivierten, konnten die Tiere die
Aufgaben kaum mehr lösen.
»Die Colliculi superiores sind wirklich
ein überraschender Ort für derartige kogni-tive Signale«, sagt Freedman.
Früher hatte man diesen evolutionär recht ursprüng-lichen Hirnbereich
nur mit einfacher visueller Orientierung und reflexhaften moto-rischen
Funktionen in Verbindung gebracht. Wenn es darum geht, visuelle
Infor-mation richtig einzuordnen, hatte sich dagegen die untersuchte
Großhirnrinden-region im posterioren parietalen Kortex, also im hinteren
Teil des Scheitellappens, hervorgetan. Die neuen Erkenntnisse sprechen
dafür, dass das Stammhirn hier ge-wissermaßen mitdenkt. Ob Fische,
Reptilien oder Säuger – sie alle müssen, um zu überleben, Objekte in
ihrem Sichtfeld schnell einschätzen können: Ist das da vorn ein
Hindernis, ein Raubtier oder eine leckere Beute? Die Colliculi
superiores er-möglichen nicht nur, Kopf und Augen und damit die
Aufmerksamkeit entspre-chend auszurichten, sondern mischen anscheinend
auch bei anspruchsvolleren visuellen Entscheidungsprozessen mit.
In
der monatelangen Trainingsphase hatte das Team um Freedman die Affen
immer wieder mit Fruchtsaft belohnt, sobald sie ein Muster per
Tastendruck der richtigen Bewegungskategorie zuordneten. Den Kopf zu
wenden, war den Tieren während der Messungen nicht möglich, und die
Reize wurden so präsentiert, dass die Äffchen sie starr fixieren
mussten. Kleinste Augenbewegungen standen laut dem Autorenteam nicht mit
der kognitiven Aufgabenlösung im Zusammenhang. Auf Grund ihres
Versuchsdesigns konnten die Forscher vielmehr jene Aktivität in den
Colliculi superiores herausfiltern, die offenbar allein mit dem
Kategorisieren zusammenhing. Als die Versuchsleiter die Hirnregion
chemisch lahmlegten, ließ auch das Vermögen der Makaken, die Bilder
richtig einzuordnen, dramatisch nach und erholte sich erst wieder, als
die betäubende Wirkung nachließ. »Selbst bei Auf-gaben, bei denen die
Tiere ihre Augen nicht bewegen und ihre Aufmerksamkeit nicht auf
verschiedene Orte richten müssen, ist der Colliculus superior an diesen
komplexeren kognitiven Verhaltensweisen beteiligt«, sagt Freedman.
Vielleicht
verleihe die Aktivierung der motorisch wichtigen Hirnreale uns beim
Problemlösen erst richtig »Schwung«, so die Spekulation. Tatsächlich
fällt auf, dass Menschen oft unwillkürlich Augenbewegungen und
Handgesten nutzen, wenn sie versuchen, sich an etwas zu erinnern oder
wenn sie sich zwischen Alternativen entscheiden wollen. Wird man etwa
gefragt, was es gestern zum Abendessen gab, schweift der Blick oft
unwillkürlich nach oben, als ob die Antwort an der Decke stehen würde.
Das könnte daran liegen, dass beim Überlegen die Colliculi superi-ores
rekrutiert werden, vermutet auch die Erstautorin Barbara Peysakhovich,
ehemals Doktorandin in Freedmans Labor, jetzt Postdoc in Harvard.
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