Mittwoch, 11. September 2024

"Technofeudalismus".


aus project syndicate,

Der Technofeudalismus übernimmt die Macht
 
von

ATHEN – So also endet der Kapitalismus: nicht mit einem revolutionären Knall, sondern mit evolutionärem Gewimmer. Genau wie der Kapitalismus schleichend den Feudalismus verdrängte, bis eines Tages die Masse der menschlichen Bezie-hungen marktgestützter Art war und der Feudalismus hinweggespült wurde, so wird heute der Kapitalismus durch einen neuen wirtschaftlichen Modus gestürzt: den Technofeudalismus

Dies ist eine große Behauptung, die auf viele andere verfrühte Prognosen über den Niedergang des Kapitalismus folgt, insbesondere von linker Seite. Diesmal freilich könnte das stimmen. Hinweise darauf sind bereits seit einer Weile erkennbar. Die Anleihe- und Aktienkurse, die sich eigentlich klar gegenläufig entwickeln sollten, steigen im Gleichklang steil an. Gelegentlich fallen sie auch, aber immer im Gleichschritt. In ähnlicher Weise sollten die Kapitalkosten (die für das Eigentum eines Wertpapiers geforderte Rendite) mit zunehmender Volatilität sinken; stattdessen sind sie angesichts der zunehmenden Unsicherheit über künftige Renditen im Steigen begriffen. 

Den womöglich klarsten Hinweis darauf, dass etwas Ernstes im Gange ist, erhielten wir am 12. August letzten Jahres. An diesem Tag wurde bekannt, dass das Nationaleinkommen des Vereinigten Königreichs in den ersten sieben Monaten des Jahres 2020 um über 20% gesunken war – noch deutlich mehr als selbst in den düstersten Prognosen. Ein paar Minuten später stiegen die Kurse an der Londoner Börse sprunghaft um im Schnitt über 2%. Etwas Vergleichbares gab es noch nie. Die Finanzwelt hatte sich völlig von der Realwirtschaft abgekoppelt. Doch bedeuten diese beispiellosen Entwicklungen wirklich, dass wir nicht mehr länger im Kapitalismus leben? Schließlich hat der Kapitalismus auch früher schon fundamentale Transformationen durchlaufen. Sollten wir uns nicht einfach auf seine neueste Inkarnation vorbereiten? Ich glaube nicht. Was wir derzeit erleben, ist nicht bloß eine weitere Metamorphose des Kapitalismus. Es ist etwas Profunderes und Besorgniserregenderes.

Es stimmt, dass der Kapitalismus seit dem späten 19. Jahrhundert zumindest zwei extreme Veränderungen durchlaufen hat. Seine erste große Transformation vom Wettbewerb hin zum Oligopol ereignete sich mit der 2. Industriellen Revolution, als der Elektromagnetismus die Entstehung großer vernetzter Kapitalgesellschaften und der zu ihrer Finanzierung erforderlichen Megabanken einläutete. Ford, Edison und Krupp ersetzten Adam Smiths Bäcker, Brauer und Fleischer als primäre Triebkräfte der Geschichte. Der darauf folgende ungestüme Zyklus aus Megaschulden und Megarenditen führte letztlich zum Crash von 1929, zum New Deal und, nach dem Zweiten Weltkrieg, zum System von Bretton Woods – das mit all seinen Beschränkungen für die Finanzwirtschaft eine Phase seltener Stabilität einleitete.

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Das Ende von Bretton Woods 1971 löste die zweite Transformation des Kapitalismus aus. Mit ihrem wachsenden Handelsdefizit, das sich zur weltgrößten Quelle der Gesamtnachfrage entwickelte – und die Nettoexporte Deutschlands, Japans und später Chinas aufsaugte –, befeuerten die USA die bisher energischste Globalisierungsphase des Kapitalismus überhaupt. Ein steter Strom deutscher, japanischer und später chinesischer Gewinne floss dabei zurück an die Wall Street und finanzierte all dies.

Um ihre Rolle zu spielen, verlangten die Funktionäre der Wall Street freilich eine Befreiung von allen Beschränkungen des New Deal und des Bretton-Woods-Systems. Mit der Deregulierung verwandelte sich der oligopolistische Kapitalismus in den finanzialisierten Kapitalismus. Genau wie Ford, Edison und Krupp Smiths Bäcker, Brauer und Fleischer abgelöst hatten, waren die neuen Protagonisten des Kapitalismus nun Goldman Sachs, JP Morgan und Lehman Brothers.

Während diese radikalen Transformationen enorme Folgen hatten (die Große Depression, den Zweiten Weltkrieg, die Große Rezession und die lange Stagnation im Gefolge von 2009), ließen sie das Hauptmerkmal des Kapitalismus unverändert: ein System, das durch von einem Markt abgeschöpfte private Gewinne und Rentenerträge angetrieben wurde.

Es stimmt, dass der Übergang vom Smith’schen Kapitalismus zum Oligopolkapitalismus die Gewinne unmäßig in die Höhe trieb und es den Konglomeraten ermöglichte, ihre enorme Marktmacht (d. h., ihre neu gefundene Freiheit vom Wettbewerb) zu nutzen, um bei den Verbrauchern hohe Rentenerträge abzuschöpfen. Und es stimmt auch, dass die Wall Street der Gesellschaft durch marktgestützte Formen des Straßenraubs Rentenerträge abpresste. Trotzdem wurden sowohl der Oligopolkapitalismus als auch der finanzialisierte Kapitalismus durch private Gewinne angetrieben, die durch auf irgendeinem etwa von General Electric oder Coca-Cola beherrschten oder von Goldman Sachs herbeigezauberten Markt abgeschöpfte Rentenerträge in die Höhe getrieben wurden.

Nach 2008 änderte sich dann alles. Seit die Notenbanken der G7 sich im April 2009 zusammenfanden, um ihre Fähigkeit zum Gelddrucken zur Wiederbelebung des globalen Finanzsektors zu nutzen, zeichnet sich ein tiefer Bruch ab. Die heutige Weltwirtschaft wird durch die ununterbrochene Schöpfung von Notenbankgeld angetrieben und nicht durch private Gewinne. Zugleich hat sich die Werteabschöpfung zunehmend von den Märkten weg auf digitale Plattformen wie Facebook und Amazon verlagert, die nicht länger wie oligopolistische Unternehmen arbeiten, sondern eher wie private Lehnsgüter oder Grundherrschaften.

Dass die Bilanzen der Notenbanken und nicht die Gewinne das Wirtschaftssystem antreiben, erklärt die Ereignisse vom 12. August 2020. Als sie die düstere Nachricht vernahmen, dachten die Financiers: „Klasse! Die Bank von England wird in Panik geraden, noch mehr Geld drucken und dieses in unsere Richtung lenken. Zeit, Aktien zu kaufen!“ Überall im Westen drucken die Notenbanken Geld, das die Financiers dann an die Kapitalgesellschaften verleihen, die es anschließend nutzen, um eigene Aktien zurückzukaufen (deren Kurse sich von den Gewinnen abgekoppelt haben). Zugleich haben die digitalen Plattformen die Märkte als Locus der privaten Werteabschöpfung ersetzt. Erstmals in der Geschichte produzieren fast alle den Kapitalstock der großen Kapitalgesellschaften kostenlos – denn genau das bedeutet es, wenn man Sachen auf Facebook hochlädt oder unterwegs ist, während man Google Maps angeschaltet hat.

Natürlich ist es nicht so, als wären die traditionellen kapitalistischen Sektoren verschwunden. Auch im frühen 19. Jahrhundert blieben viele Feudalbeziehungen weiterhin intakt; die kapitalistischen Beziehungen jedoch dominierten zunehmend. Heute bleiben die kapitalistischen Beziehungen intakt, doch die technofeudalistischen Beziehungen haben begonnen, sie zu überholen.Falls ich Recht habe, wird hierdurch jedes Konjunkturprogramm zwangsläufig gleichzeitig zu groß und zu klein ausfallen. Kein Zinssatz wird je mit Vollbeschäftigung vereinbar sein, ohne reihenweise Unternehmenskonkurse auszulösen. Und die klassengestützte Politik, in der die das Kapital begünstigenden Parteien mit den den Arbeitern näherstehenden Parteien konkurrieren, ist Geschichte.

Doch auch wenn der Kapitalismus mit einem Gewimmer enden könnte, könnte der große Knall rasch folgen. Falls die Opfer der technofeudalen Ausbeutung und atemberaubenden Ungleichheit eine kollektive Stimme finden, dürfte diese zwangsläufig sehr laut ausfallen.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

 

Nota. - Das ist nicht Kritik der politischen Ökonomie, sondern Wirtschaftswissen-schaft - ein positives Wissensfach, das beschreibt, 'wie es ist'. Zu erklären, warum es so ist und wie es so wurde, beansprucht es zunächst mal nicht. Das wäre der zweite Gang, der erst auf den ersten folgen kann. 

Aber muss. Dies bleibt vom Kapitalismus doch erhalten: Es kommt schließlich mehr aus dem Kreislauf heraus, als in ihn eingegangen ist, es entsteht ein Mehrpro-dukt - und das wird unter die Agenten des Prozesses verteilt. Die Farge ist: Nach welcher Regel ("Gesetz")


 

Im kapitalistischen System heißt die Regel: Der Anteil, den jeder Teilnehmer aus dem Prozess herauszieht, entspricht seinem Anteil am Wert der Gesamtarbeitskraft, die er eingangs kommandiert hatte. Wobei nicht nur die aktuelle lebendige Arbeits-kraft gemeint ist, die ein Arbeiter einbringt, sondern die vergegenständlichte, 'tote' Arbeitskraft, die vergangene Generationen den Arbeitsinstrumenten eingebaut hat-ten. 

Das erklärt, warum ein Kapital auf höherem technologischen Niveau, das wenige Arbeiter beschäftigt, mehr Profit einstreicht als ein gleichgroßes, aber technologisch rückständiges Kapital, das ein Heer von Arbeitskräften mobilisiert. Und erklärt den unvermeidlichen technischen Fortschritt: Die rückständigen Industrien müssen einen Gutteil des in ihren Werkstätte erzeugten Mehrwerts auf dem Markt an die fortschrittlichen Industrien abtreten. Der Stachel der kapitalistischen Produktion its nit der Mehrwert, auch nicht der Profit, sondern der Extr aprofit.

Daran hat sich mir der fortschreitenden digitalen Revolution rechnerisch nichts ge-ändert. Nur macht lebendige Arbeit am Produkt moderner Industrien einen so rasch schwindenden Anteil an den Gesamtkosten der einzelnen Kapitale aus, dass er in deren Bilanzen vernachlässigt werden kann. Um seinetwegen zu produzieren, lohnt sich einfach nicht mehr.

Und trotzdem wächst die Weltwirtschaft weiter und trotzdem hört der technische Fortschritt nicht auf. Finanzmanipulationen mögen die Umverteilung von Geld-mengen erklären. Doch wie wie am Ausgang mehr Wert entstanden sein kann, als eingangs hineingesteckt wurde, ist... schlechthin unerklärlich.

Ich nehme wohl an, dass Varoufakis sich solche Fragen auch stellt. Aber es müsste einer den Mut finden, sie fest bei den Hörnern zu greifen. Das kann aber noch dauern.

Nota. - Wie Sie sehen, bin ich gezwungen, vom Wert zu reden - obwohl ich doch andernorts bemerke, dass das 'Wertgesetz' unter den gegebenen Umständen nicht mehr gelten kann. Aber ebendas ist das Problem. Die Produkte kommen weiterhin als Waren auf den Markt und haben dort ihren Preis. Doch was in ihm dargestellt ist, steht in den Sternen. Wenn es der Arbeitswert nicht mehr ist, kann es der Ge-brauchswert schon gar nicht sein.Wenn's aber der bloße Zufall wäre, könnte es ein System nicht sein und wäre längst untergegangen.
JE


 

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