aus nzz.ch, 16. 9. 2024 Max Ernst «L’ange du foyer (Le triomphe du surréalisme)», 1937 zu Geschmackssachen
«Revoltieren! Erstaunen!» war der Schlachtruf der Surrealisten
Die
Kunstströmung nahm sich erstmals ausdrücklich der Traumwelten und des
Unbewussten an. Jetzt feiert das Pariser Centre Pompidou den
Surrealismus in seiner ganzen Fülle aus Literatur und Kunst.
von Peter Kropmanns
Wie
haben Sie geschlafen? Und haben Sie dabei geträumt? Erinnern Sie sich
an Kurioses oder gar Beklemmendes? Hat auch bei Ihnen vorhin, noch eine
Sekunde vor dem Erwachen, der Flug einer Biene um einen Granatapfel
einen Traum bewirkt, wie ihn Salvador Dalí einmal auf die Leinwand
brachte?
Träume
amüsieren, ja beglücken – oder quälen und wecken, so plastisch, so
abstrus können sie sein. Dass sie Stoff für Kunst abgeben, und das schon
seit Jahrhunderten und weltweit, liegt auf der Hand. Was unsere Breiten
angeht, hat sich aber erst jene Strömung der Traumwelten und des
Unbewussten mit Nachdruck angenommen, die am 15. Oktober 1924 ihre
theoretische Untermauerung erfuhr, und zwar mit dem «Manifeste du
surréalisme».
Vor
nun hundert Jahren hat der Literat André Breton das surrealistische
Manifest verfasst, erstaunlicherweise in einer recht kleinkrämerisch
wirkenden Handschrift. Wichtiger – und immer noch aktuell – ist Bretons
Forderung: die Welt verwandeln und das Dasein ändern. «Kann nicht auch
der Traum bei der Lösung fundamentaler Fragen des Lebens helfen?»,
heisst es in dem Manuskript, das sich in der Bibliothèque nationale de
France befindet und nun als Auftakt einer umfassenden Surrealismus-Schau
des Pariser Centre Pompidou zu sehen ist.
Mit
seinen futuristischen, inmitten des alten Häusermeers immer noch
utopisch wirkenden Fassaden der 1970er Jahre scheint das Centre Pompidou
dafür der rechte Ort zu sein – ein Jahr vor seiner fünfjährigen
Schliessung zwecks Sanierung. Hier wimmelt es jetzt von Schriften und
Bildern aller Grössen, die der Avantgarde von damals zugerechnet werden,
darunter Maler und Fotografen wie Victor Brauner, Dora Maar, Joan Miró,
Man Ray oder Dorothea Tanning.
Leonora Carrington: «Green Tea», 1942,
Dabei
wird der enge Rahmen der Gründerzeit des Surrealismus verlassen, denn
aus der Avantgarde wurde eine breite Bewegung, die über vierzig Jahre
lang währte und ausgesprochen international war. Folglich haben auch
Kunstschaffende späterer Epochen und anderer Kulturkreise einen
Auftritt, etwa solche aus Japan oder Kuba.
Surrealismus
ist zunächst vor allem literarischer Natur. Das Manifest, das später
Änderungen erfuhr, ist dabei Dreh- und Angelpunkt, und Dichter werden
grundsätzlich als impulsgebende Visionäre begriffen. Eine Einbahnstrasse
ist das aber keineswegs: Die Ausstellung verfolgt in einem
sprichwörtlichen Labyrinth aus Schriften und Bildern den Dialog zwischen
einerseits Autoren und anderseits Malern, Grafikern, Bildhauern,
Fotografen und Filmregisseuren.
Diese
greifen mit Gemälden, Collagen, Skulpturen und Aufnahmen aller Art
Themen der Literaten auf oder schaffen neue Konstellationen, die
wiederum den Kreis der Dichter inspirieren. Gegenseitige Befeuerung war
Tagesordnung. «Revoltieren! Und erstaunen!» lauteten die Devisen.
Gemeinsamer Nenner ist dabei, dass Logik und Harmonie, Vernunft und
Bürgerlichkeit, Anstand und Scham ausser acht gelassen werden. Was
interessiert, sind Gegensätze und Widersprüche und ihre Unvereinbarkeit –
die ewigen Dilemmata. Höheres Ziel ist die Überwindung des Konträren,
ja seine Auflösung.
Auf
das vom Zufall bestimmte Spiel mit Wörtern antworten unwillkürlich
hervorgezauberte Bilder. Auf die jedwede Kontrolle durch die Vernunft
ausschliessende «écriture automatique» folgen Bild gewordene
Äquivalente, aber auch neue Techniken, wie Frottage oder Komposition mit
Pigmenten, denen Sand beigemischt ist.
Zu
sehen ist Ironisches, Provokatives, Bizarres, ja Beklemmendes, aber
auch Erotisches und Laszives, bei dem Motive etwa aus Hieronymus Boschs
«Der Garten der Lüste» auf Praktiken und Prinzipien des Marquis de Sade
stossen. «Wenn Sie die Liebe mögen, werden Sie auch den Surrealismus
mögen», formulierte die Malerin und Illustratorin Valentine Hugo.
Paris
zeigt Ikonen wie Salvador Dalís «El gran masturbador» oder René
Magrittes «L’Empire des lumières», das Bild eines von einer Laterne
beleuchteten Hauses am Wasser vor einem Frühabendhimmel. Zu sehen sind
auch Sequenzen aus Filmklassikern. Dazu gehören Hans Richters
«Vormittagsspuk» (1927/28), natürlich Luis Buñuels «Un chien andalou»
(1929) oder Alfred Hitchcocks «Spellbound» (1945). Für den
Psychothriller mit Ingrid Bergman und Gregory Peck nach einem Roman von
1927 hat Dalí die Kulissen geschaffen.
Max Ernst «L’ange du foyer (Le triomphe du surréalisme)», 1937
Die
Mittel sind unterschiedlich, doch die Themen bilden Schwerpunkte: Hier
geht es um Hypnose und die Rolle, die ein Medium einnimmt, da um den
Traum als Objekt von Neurologie und Psychoanalyse, dort um die
«Schönheit des zufälligen Zusammentreffens einer Nähmaschine und eines
Regenschirms auf einem Seziertisch», wie sie der Surrealismus-Ahnherr
Isidore Lucien Ducasse alias Lautréamont beschworen hat. Stehen
einerseits Chimären oder politische Monster im Mittelpunkt, dreht sich
anderseits alles um den Wald oder die Nacht. Am Ende steht das grosse
Ganze im Scheinwerferlicht: der Kosmos und unser Platz darin.
Monster zwischen Mensch und Tier
Die
Surrealisten zapften unterschiedlichste Quellen an, darunter
Wissenschaft und Populärkultur, Denkmodelle aus dem europäischen
Mittelalter oder aus (damals noch) fernen Regionen, speziell von
Urvölkern, wie den Hopi in Arizona oder den Tarahumara in Mexiko. Sie
rekurrierten aber vor allem auf ältere Poesie und Vorläufer in der
Kunst. So wird jetzt an Novalis, Victor Hugo, Lewis Carroll, Arthur
Rimbaud oder Guillaume Apollinaire erinnert. Maler wie Odilon Redon
dürfen nicht fehlen, besonders prominent ausgestellt ist aber Giorgio di
Chirico als Mitbegründer der Pittura metafisica.
Surrealistische
Malerei hat sich als logische Folge einer seit längerem in den Ateliers
betriebenen Loslösung von formalen Problemen des «L’art pour
l’art»-Konzepts weit entfernt. Nach der Explosion der Farbe durch die
Fauves und der Zersplitterung der Form durch die Kubisten kommen wieder
stärker Inhalte zum Zug. Mit den Futuristen und den Dadaisten erfolgt
eine Wende zu gesellschafts- und kulturkritisch motivierten Positionen.
Die
Künstler um Breton knüpften an die Absurdität des Ersten Weltkriegs
sowie die ökonomische und soziale Wirklichkeit der frühen 1920er Jahre
an. Sie imaginierten irritierende Situationen und vor allem auch
Figuren, vielfach halb Mensch, halb Tier, in ungewöhnlichen
Konstellationen. Sie kritisierten vermeintliche Innovationen, etwa die
Dominanz von Ratio und Technik oder die Konsumgesellschaft. Und auch die
Gefahren politischer Systeme bis hin zu Kommunismus, Faschismus und
Kolonialismus.
Dabei
arbeiteten die einen figurativ, die anderen mit Mitteln der
Abstraktion. Streng ästhetisch betrachtet geht die Umsetzung von Ideen
aber nicht immer mit bestechendem Handwerk einher. Hier setzt sich unter
anderen Max Ernst ab mit seinem Spagat zwischen Denken und Ausführen.
Seine Darstellung «L’ange du foyer (Le triomphe du surréalisme)» von
1937, die ein tanzendes anthropomorphes Monster zeigt, ist denn auch das
Plakatmotiv der Schau.
Giorgio de Chirico Porträt von Guillaume Apollinaire, 1914.
«Surréalisme.
L’exposition du centenaire», Centre Pompidou, Paris, bis 13. Januar.
Katalog € 49.90. Weitere Surrealismus-Jubiläumsausstellungen werden 2025
in Madrid, Hamburg und Philadelphia gezeigt.
Nota. - Ach, er ist schlecht gealtert. Kaum eine surrealistische Kreation, die man sich nicht gut als Reklame für dieses oder jenes vorstellen kann!
Und könnten Sie sich Jeff Koons ohne vorgängigen Surrealismus vorstellen?
Schlimmer noch: Könnten Sie sich Surrealismus ohne darauffolgenden Jeff Koons vorstellen?!
Bei den Expressionisten konnte man nicht fragen: Was soll das bedeuten? Es war alles so dick aufgetragen, dass es nicht zu übersehen war. Die richtige Neue Kunst war die surrealistische: Wer fragte, was das bedeuten solle, gab sich als Tölpel zu erkennen. Die nicht fragten, taten so, als wüssten sie's, und waren hin- und herge-rissen: Versteh ich es - oder gibts garnichts zu verstehen? Ach, da lachen wir selbst-gefällig: Bei Jeff Koons stellt sich die Frage gar nicht.
Unter uns: Bei Cy Twombly schon - der wäre ohne Surrealisten auch nicht möglich gewesen.
Was war also deren Verdienst: etwa die Werke? Ja natürlich - Max Ernst, Dalí und noch zwei, drei andere, doch die wären auch ohne Vergleich mit den andern große Meister.
Aber mit Magritte können Sie Ihr Klo tapezieren. Nein, die Werke sind teils so, teils so, wie bei jeder Kunstrichtung. Die große Revolution, die die Kunst irreparabel zur modernen gemacht hat, war, wie die Apologeten es nennen, ihre seitherige "Selbst-referenzialität". Nicht, was sollen die Werke bedeuten, sondern Wer braucht wozu Kunst?
JE
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