Donnerstag, 7. Dezember 2023

Europas Beruf.

Evert den Hartog                                                            aus öffentliche Angelegenheiten

Soll das Publikum glauben gemacht werden, die Gespräche seien "ergebnisoffener", als sie sind? Sollen vorab wieder die Preise in die Höhe getrieben werden? Dabei ist es nur Wort-geklapper. Bundesstaat, Staatenbund, "Europa der Vaterländer" - alles könnte gemeint sein. Bis 2025, sagt Schulz - nicht so hastig, sagt Volker Kauder: Die Leute wollten "zur Zeit" lieber Sicherheit. Aber lauter Sachen, genau betrachtet, über die sich reden lässt.

Wenn man es so verstehen soll, dass sie diesmal tatsächlich beim Wichtigsten anfangen und über die Kleinigkeiten erst hinterher krämern wollen, soll's uns recht sein. Wenn's aber nur eine Nebelkerze ist? Dass Schulz lieber zurück nach Europa will, kann man ihm nachfüh-len, aber seine Partei beschäftigt sich lieber mit dem, was ihr am nächsten liegt - sich selbst; die kann er mit Europa nicht aus den Sesseln reißen.

Das deutsche Publikum derzeit auch nicht. Aber das ist sein wundester Punkt. Mehr Euro-pa, das wollen außer den Gartenzwergen an den politischen Rändern alle. Nur wie das aus-sehen soll, kann keiner sagen. Warum denn soll Europa stark sein, wieder stärker werden in der Welt? Bloß weil zufällig wir dort wohnen und allweil nur das Beste für uns wollen?


*
 

Der Reichtum Europas und das, was die Welt von uns bekommen kann, ist die Mannigfal-tigkeit von zwei dutzend Kulturen, die auf kleinstem Raum nicht nebeneinander, sondern schon immer miteinander bestehen, jahrhundertelang im Krieg, seit siebzig Jahren eher im Frieden. Sie werden durch ihre Unterschiede mehr aneinander gebunden als getrennt, denn jeder Unterschied zwischen zweien wird, wenn man auf ihn reflektiert und von den andern absieht, ein Gegensatz, und diese Gegensätze teilen wir miteinander.*

In Europa wurde die Vernunft geboren. Nicht aus unserer Weisheit, eher aus der Torheit, aber eben den widerstreitenden Torheiten von so vielen. Vor fünfhundert Jahren - wir ha-ben eben das Jubiläum gefeiert - zerriss das einigende Band, das die Römische Kirche um die gegensätzlichen Kulturen gelegt hatte, und die Glaubensspaltung trieb Europa in einen kontinentalen Bürgerkrieg, den Dreißigjährigen. Geführt wurde er von vielen Mächten, aber auf deutschem Boden. Was nachgeborene Historiker den deutschen Sonderweg nannten, hatte dort seinen Anfang.

Doch auch die Vernunft. Sollten die politischen Mächte wieder zu einem friedlichen Ver-kehr miteinander finden, bedurfte es einer mit unstrittiger Autorität ausgestattenten Instanz über den Glaubensbekenntnissen, deren Urteile einem jeden Individuum von gesundem Verstand einleuchten müssten.


*

Unmittelbar beteiligt am Dreißigjährigen Krieg war nicht nur der Reiteroffizier René des Cartes, sondern, als Diplomat in französischem Dienst, der Rechtsgelehrte Hugo Grotius. Es gilt als der Vater des Völkerrechts und als Begründer der Unterscheidung zwischen positiven Rechten und 'dem Naturrecht'. Seinen historischen Triumph hat er nicht mehr erlebt, der Westfälische Frieden (1648) wurde erst drei Jahre nach seinem Tod geschlossen. Etsi deus non daretur - 'selbst wenn es Gott nicht gäbe' - sollte Recht sein, denn solange theologische Erwägungen im wirklichen Leben eine Rolle spielten, gab es statt Recht und Frieden nur Mord und Totschlag.

Es hat seine Zeit gebraucht, doch schlicßlich ging aus der Vorstellung von einem Recht, das 'allein schon aus unserer Natur' folgt, unausweichlich die Idee der allgemeinen unveräußerli-chen Menschenrechte hervor. 

Hätte sie auch anderswo aufkommen können als in Europa? Sie ist es nicht. Aber hier ist sie mit Notwendigkeit aufgekommen. Mit Notwendigkeit, weil sie gerade nicht selbstver-ständlich war und - selbst in Europa - noch heute nicht geworden ist: Nur hier ist sie nicht beiläufig, nicht "umständehalber", nicht 'durch Nichtwissen', sondern ausdrücklich und grundsätzlich bestritten worden; nicht ideell, sondern praktisch in Fleisch und Blut und Rauch und Asche. Das war in Europa, und wer sollte davon zeugen, wenn nicht wir Deut-schen in Europa?

Mit andern Worten, die Zukunft Deutschlands liegt in Europa nicht, weil es uns so am besten passt; sondern weil die Zukunft der Welt im entscheidenden Punkt an Europa hängt, und weil es unsere wenn schon sonst niemand Anderes Pflicht ist, darüber zu wachen.

Bin ich stolz, ein Deutscher zu sein?

Man müsse sich Sysiphus glücklich vorstellen, hat mal einer geschrieben.
11. 12. 17
 
*) Das ist kein Kalauer: Anders als durch Entgegensetzung lässt sich ein Bedeutungsfeld nicht bestimmen. Und anders gibt es keinen Begriff.


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