Samstag, 9. Dezember 2023

Aus der Frühzeit des "PISA-Prozesses".

                                       zu öffentliche Angelegenheiten


Für die Katz!

Wie die deutsche Bildungsbeamtenschaft auf PISA pfeift


Was hat die PISA-Studie gezeigt – etwa, daß deutsche Schüler dümmer und fauler wären als die Schüler in zwanzig andern Ländern? Mitnichten. Sondern daß deutsche Schüler an ihren Schulen nicht das Richtige gelehrt werden – von deutschen Lehrern. Nicht das Richtige ist das Falsche. Das Richtige, das wäre: aufs Leben in komplexer Welt einstimmen. Heißt: Probleme selber erkennen und selber lösen. Heißt die Einbildungskraft freisetzen und die Urteilskraft er-proben. Das Falsche, das ist: auf die nächste Prüfung vorbereiten. Heißt ‚In-formation’ speichern und auf Abruf reproduzieren: das ist das Falsche, was deutsche Schüler gelehrt werden und den Vergleich mit unsern Nachbarn nicht bestanden hat.

Ein verheerendes Ergebnis. Es war zu erwarten, daß diejenigen, die dafür die größte Verantwortung tragen auf dem Katheder, in den Ministerien und in den Parteien; diejenigen, die in all den Jahren das Wort geführt haben in der Päd-agogik und immer alles ganz genau gewußt (und geregelt) haben – daß all die bestallten und bestellten Experten tiefbeschämt einmal den Mund halten und unbescholtneren Zeitgenossen den Vortritt lassen.

Ach, war es zu erwarten? Nicht wirklich, nicht in Deutschland. Was einer hat, das gibt er nicht wieder her. Kaum war eine Schrecksekunde verstrichen, da waren sie alle wieder da. Und hatten es alle schon immer gewußt! Und hatten es uns schon immer gesagt: Mehr desselben! Es ist wie im Tollhaus. „Die Pisa-Studie hat bewiesen“ – und prompt erzählt ein jeder, was er schon immer für das Beste gehalten hat; nur brauchen wir eben noch viel mehr davon! Vorschu-len, Ganztagsschulen, mehr Deutschunterricht, mehr Mathe-Stunden, verbind-liche Werte, mehr Leistung, mehr Gleichheit, mehr Spitze, mehr Masse, mehr und mehr und mehr. Und vor allem: Standards! Will sagen, mehr Tests und Tests und Tests. Mehr Kontrolle. Mehr Stellen für Kontrolleure: Technokraten außer Rand und Band.


Es war, gemessen am Einsatz materieller wie humaner Ressourcen, die auf-wendigste empirische Untersuchung im Reich der Bildung, die die Welt gese-hen hat. Alles für die Katz, reine Verschwendung – jedenfalls für Deutschland: Keiner hat PISA gelesen, und im Vertrauen, daß die andern es auch nicht ken-nen, beruft sich jeder frech darauf, wie’s ihm grade paßt. Aber die Verfasser der deutschen Ausgabe haben’s ihnen auch leicht gemacht! Fünfhundert Seiten dick, exakt ein Kilo schwer – und in einem so mühseligen Deutsch verfaßt, daß auch Fachleute ächzen. Wer tut sich das an, wenn er verbeamtet ist und nicht muß?

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J. E.Als hätten wir’s geahnt, haben wir beizeiten daran ge-dacht, dem Übel abzuhelfen, und haben einen kurzen, aber prägnanten Textauszug aus der PISA-Studie ange-fertigt und in der Zeitschrift PÄD Forum veröffentlicht. Dort* ist im Originalwortlaut nachzulesen, was PISA wirklich beweist! Keiner, der über PISA mitreden zu müssen meint, hat also eine Ausrede, wenn er nicht weiß, was drinsteht. *) Die online-Version wurde von WordPress inzwischen gelöscht

im Mai 2001

Jochen Ebmeier

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Vorbemerkung:

Statistik lesen

 

Was kann uns PISA lehren? Eine statistische Korrelation ist noch kein Begründungs-verhältnis. Wahr ist anscheinend, daß fünfzehnjährige Deutsche in ihrer Lesekompetenz hinter den Fünfzehnjährigen von immerhin zwanzig andern westlichen Ländern zurück-stehen – und das geschriebne Wort ist in der westlichen Kultur das vorrangige Medium der Welt-erschließung. Doch die Schulsysteme sind nur eine von vielen kulturellen Vari-ablen, die das Heranwachsen von Kindern mitbestimmen. So finden sich unter den sie-ben Spitzenreitern der PISA-Studie immerhin fünf (der sechs) Länder, in denen Englisch reguläre Mutter-sprache ist. Beweist das etwa, daß das Englische besser geeignet sei als andre Sprachen, Kindern den Einblick in die Welt zu öffnen?


Daß stattdessen die Schulsysteme die ausschlaggebende Determinante seien, scheint zwar denen plausibel, die in ihnen beschäftigt sind. Aber die Statistik weist es nicht aus. Mindestens ebenso besticht die Vermutung, daß die überkommene pragmatistische Gei-steshaltung der angelsächsischen Kulturen den Lehrer eher dazu anhält, sich auf die je gegebene pädagogische Situation konkret einzustellen, als die bürokratisch-rationali-stisch-perfektionistische Tradition bei uns. Doch durch Statistik allein wär auch dies nicht zu belegen.

 

Wohl werden wir uns in die Einsicht schicken müssen, daß wir im internationalen Ver-gleich ziemlich schlecht aussehen. Aber für die Differentialdiagnose, weshalb so viele andre besser sind als wir, bietet die Statistik nicht genügend Stoff. Irgendeine Rolle werden die unterschiedlichen Schulsysteme schon spielen; aber welche? Wer immer zu eiligen Schlüssen neigt, dem soll das Beispiel Belgiens eine Warnung sein: Der germa-nophone flämische Landesteil läge auf Platz drei der internationalen Rangliste, aber der frankophone wallonische Teil noch hinter Deutschland nur auf Platz fünfundzwanzig – mit demselben Schulsystem!


Zu neuen Strukturdiskussionen, dem Steckenpferd der Experten, gibt PISA jedenfalls keinen begründeten Anlaß: „Aufgrund der Schwierigkeiten, die verschiedenen Formen der Schul- und Unterrichtsorganisation adäquat zu erfassen, ist es nicht möglich, ein-deutige Aussagen zu ihrer Bedeutung für die Entwicklung der Schülerleistungen zu ma-chen.“ (PISA 2000, S. 427) Zugleich „ist PISA aber auch wenig geeignet, Merkmale der Unterrichtsqualität in ihrer Beziehung zu fachlichen Lernprozessen zu untersuchen“. (ebd. S. 47). Lies: Didaktische Methodenfragen wird die Statistik vorläufig auch nicht beantworten.


Noch herrscht in der bildungspolitischen Debatte die alte Tonnenideologie vor. Da war schon immer alles zu wenig. Täglich fünf, sechs Stunden Unterricht, das sei eben nicht genug. Zwar weiß jeder Büroleiter, daß nach der sechsten Dienststunde nichts mehr ge-leistet wird. Aber Kinder sollten am besten rund um die Uhr „beschult“ werden…


Dabei war es ja nicht die Menge angehäuften Wissens, wonach PISA gefragt hat, son-dern das Vermögen aktiver Welterschließung: nicht nach der Reproduktion von Gelern-tem, sondern nach produktivem Selberdenken. Wenn Annette Schavan sagt, eine schlechte Ganztagsschule sei auch nicht besser als eine schlechte Halbtagsschule, hat sie nur zur Hälfte recht; denn sie ist schlechter. Mehr desselben kann da nur schaden.


Bei PISA ging es ausdrücklich um Bildung – also die Einsicht in komplexe Gestalten, das Entdecken von Problemen und – nicht zuletzt – das Wagen des eigenen Urteils. Das ist keine Frage des Wie, schon gar nicht des Wieviel, sondern eine Frage des Was. Mit andern Worten, nicht mehr Schule brauchen wir, sondern weniger Schule.

J.E.


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