Donnerstag, 28. Dezember 2023

Das Sprechspiel.

  Marlon Brando als Marc Anton
aus philosophie magazin, 21. 12. 2023                                                                                                  zu Philosophierungen

„Es gibt eine Analogie zwischen Spielen und dem Gebrauch der Sprache“
Wenn wir sprechen, spielen wir auch auf eine Weise. So lautet eine zentrale These im neuen Buch von Martin Seel. Im Interview erläutert der Philosoph, wie unsere Kommunikation unser Handeln und Denken prägt.

von Martin Seel

Herr Seel, warum spielen wir, wenn wir sprechen? 

Weil wir uns im Spielraum der Sprache bewegen. Es gibt eine aufschlussreiche Analogie zwischen gewöhnlichen Spielen und dem Gebrauch der Sprache. In beiden Zusammenhängen folgen wir Regeln, die uns nicht im voraus festgelegte Möglichkeiten des Denkens und Handelns eröffnen. In einem derartigen Möglichkeitsraum spielt sich auch die menschliche Kommunikation ab. Der Erkundung dieses Spielraums der Sprache ist mein Buch gewidmet.

Hat dieses Spiel irgendwann einmal einen Anfang gehabt?

Es hat wohl nicht den einen, genau datierbaren Anfang gehabt, sondern sich über eine lange Zeit hinweg sukzessive eingespielt. Es gab im 18. Jahrhundert eine wilde Diskussion darüber, wie Sprache hat entstehen können – ob sie eine göttliche Gabe war, durch Verabredung oder durch Nachahmung der Natur entstanden ist. Das Interessante hierbei ist, dass die Autoren eigentlich darüber diskutieren, welche Rolle der Sprache in menschlichen Kulturen und Gemeinschaften zukommt und gar nicht so sehr darüber, wie sie ihren Anfang genommen hat.

Welche Philosophen waren in diesen Diskussionen federführend?

Das war eine weit verzweigte europäische Diskussion, an der viele Autoren beteiligt waren, die man heute kaum mehr kennt – nicht nur Vico, Rousseau oder Herder, sondern auch Pierre Louis Moreau de Maupertuis oder Johann Peter Süßmilch. Es heißt immer, das 20. Jahrhundert sei das sprachphilosophische Jahrhundert gewesen. Aber bereits im 18. Jahrhundert kommt die Frage nach der Bedeutung von Sprache in Fahrt und alles Spätere ist eigentlich eine Weiterführung und Differenzierung damaliger Debatten, die viele der späteren Autoren gar nicht so gut kennen. Die Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts bewegt sich also in einer Diskussionslage, die sich schon im 18. Jahrhundert entwickelt hat. 

Da hätte sich die analytische Philosophie vielleicht mehr der Geschichte der Philosophie zuwenden sollen?

Nicht nur die analytische Philosophie, die auf Charles Sanders Peirce und Gottlob Frege am Ende des 19. Jahrhunderts zurückgeht, hat die Breite der Diskussion nicht ernst genug genommen. Das gilt auch für andere Autoren. Jacques Derrida kennt beispielsweise Herder und Humboldt so gut wie gar nicht (und macht einen großen Bogen um Ludwig Wittgenstein). Wenn man sich Derridas sprachtheoretische Überlegungen anschaut, kann man Ähnlichkeiten mit den Debatten aus dem 18. Jahrhundert erkennen, die ihm gar nicht bewusst waren. Viele der unterschiedlichen Theorien der Sprache führen einen untergründigen Dialog miteinander, den ich ans Licht zu heben versuche. 

In Bezug auf die Sprachphilosophie im 18. Jahrhundert erläutern Sie auch einen recht eigentümlichen Streit über den Primat von Poesie oder Prosa in der Sprache. Warum sollte man sich darüber Gedanken machen, was vom Folgenden prioritär ist: eine Einführung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre oder die Duineser Elegien?

Wenn man die Frage so stellt, klingt es natürlich absurd. In den sprachphilosophischen Kontroversen geht es jedoch darum, welche Formen der Rede  für die Verfassung und den Begriff der Sprache grundlegend sind. Ist Sprache eigentlich poetische Rede und die Prosa, die wir heute meistens sprechen, eine ausgetrocknete Verfallsform? Oder ist Sprache zunächst einmal die nüchterne Behauptung möglichst eindeutiger Aussagen, von der auch die vieldeutige poetische Rede zehrt? Wenn Letzteres der Fall ist, dann sind bildliche Redensarten, sind figürliche und fiktionale lediglich ein Beiwerk der Sprache, um das sich ihre Theorie nicht groß kümmern muss. Dergleichen Hierarchien aber führen in die Irre. Sprache ist immer schon beides. Sie ist einerseits sachbezogene, wörtliche Rede und andererseits vergegenwärtigt sie Perspektiven auf das, wovon jeweils die Rede ist. Sie ist stets sach- und sichtbestimmend zugleich. Das meint Herder, wenn er sagt, dass Sprache „Demokratie“ sei und „nicht zu bändigen“ ist.

Wie kann man das verstehen?

Damit wendet er sich gegen eine einseitige Auffassung von Sprache, die einen ihrer Modi zu ihren Originalmodus erklärt. Eine „demokratische“ Theorie dagegen gesteht ihren grundlegenden Modi einen Gleichrang zu. Die Konsequenz ist ein bedeutungstheoretischer Egalitarismus: Wenn man über das Potential der Sprache nachdenkt, muss man von vornherein ihr ganzes Spektrum in den Blick nehmen. 

Damit geht auch eine Würdigung unserer Alltagssprache einher, nicht wahr?

Wenn man sich unseren tatsächlichen Sprachgebrauch anschaut und nicht nur auf theoretische Modelle blickt, erweist sich der sprachliche Verkehr als ein vielstimmiger Prozess. Wir argumentieren nicht nur, sondern wir erzählen Geschichten, wir fluchen, manche Menschen beten oder führen Klatschgespräche. Alles das gehört zum Potenzial der menschlichen Sprache und nichts davon ist nebensächlich oder anrüchig. Die Sprache ist eine sehr reiche Quelle der Welt- und Selbstbegegnung, die wir in theoretischer Hinsicht nicht unnötig trockenlegen sollten.

 

 

Ein weiterer interessanter Aspekt betrifft das Denken. Nach Humboldt kann man „Sprache und Denken nie identisch genug denken.“ Denken wir immer nur in Sätzen, also im dauerhaften Selbstgespräch?

Humboldts Aussage fasst den Begriff des Denkens an dieser Stelle zu eng. Wenn wir irgendetwas mit einigem Bedacht tun, läuft nicht wie in heutigen Opernhäusern ständig ein Spruchband in unserem Kopf ab. Es gibt viele intelligente Handlungen, die nicht von Sprache begleitet werden. Eine Komponistin beispielsweise wälzt nicht ständig Worte, während sie ihre Partitur entwirft. Wir führen auch keine innere Rede, wenn wir einen Tanz lernen oder einen Kuchen backen. Dennoch aber sind unsere nicht-sprachlichen Tätigkeiten vielfältig durch unsere sprachlichen Unterscheidungen geprägt. Denken Sie nur an das exzentrische Vokabular von Weinkennern, das diese zur Beschreibung des Geschmacks von Wein nutzen. Sie könnten gar nicht so nuanciert schmecken, wenn sie nicht über das entsprechende Vokabular verfügten. Sprache, unsere Sinne und Gefühle hängen auf eine oft unscheinbare Weise miteinander zusammen. 

In Ihrem Buch beschäftigen Sie sich vor allem mit dem Spätwerk Wittgensteins. Inwiefern hat Wittgenstein der Philosophie die Augen für sprachliche Vielfalt geöffnet? 

Der späte Wittgenstein verwirft die Vorstellung einer eng gefassten Funktion der Sprache und schaut sich an, wie Sprache tatsächlich gesprochen wird. Da zeigt es sich, dass Sprache auf vielfältige Weise genutzt wird, die nicht auf eine in der Theorie erdachte Grundform reduziert werden kann. Ich nehme einen einzigen Paragrafen von Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen zum Anlass, um diesen Reichtum der Sprache zu vergegenwärtigen. Dort schreibt Wittgenstein, dass man einen Satz auf zwei Weisen verstehen kann: einerseits so, dass er durch einen anderen ersetzt werden kann, der dasselbe sagt; andererseits aber so, dass eine bedeutungsgleiche Ersetzung nicht möglich ist. Der letztere Fall beschreibt das Verstehen eines Gedichts, denn hier kommt es auf genau diese Stellung genau dieser Wörter an. Bei anderen Sätzen ist das nicht so. Beispielsweise lassen sich philosophische Texte im besten Fall mit eigenen Worten paraphrasieren, ohne dass von dem Thematisierten etwas verloren geht. Ich lese Wittgenstein jedoch so, dass beide Arten des Verstehens grundsätzlich auf jeden Satz anwendbar sind.

 

 

Haben Sie ein Beispiel?

Nach der Vorrunde der Fußballweltmeisterschaft 1982, in der die Italiener eine sehr bescheidene Vorrunde gespielt hatten, sagte der bis dahin torlose Stürmer Paolo Rossi, der noch nicht wissen konnte, dass er das Turnier als Weltmeister und Torschützenkönig verlassen würde, diesen Satz: „Il mio mito è finito“. Man kann diesen Satz leicht übersetzen. Er bedeutet dann: „Mein Mythos ist dahin“. Dieser alltägliche Satz ist gleichzeitig aber ein wunderbar poetischer Satz. Man kann ihn sich als Liedzeile in einem Musical vorstellen. Dieses Beispiel zeigt, dass man es einzelnen Sätzen gar nicht immer ansieht, ob sie buchstäblich oder figürlich bzw. auf poetische Weise zu verstehen sind.

Was folgt daraus für die Philosophie?

Es folgt, dass der traditionelle Kontrast zwischen Prosa und Poesie als Modellen sprachlicher Bedeutungshaftigkeit dynamisiert werden muss. Um das zu verdeutlichen, eigne ich mir Wittgensteins in seinem Frühwerk prominente Unterscheidung von sprachlichem „Sagen“ und „Zeigen“ auf eine veränderte Weise an: so, dass diese Begriffe nicht länger einen Gegensatz innerhalb der Formen der Rede, sondern ein konstitutives Zusammenspiel bezeichnen. Die Polarität zwischen sachbezogen „sagendem“ und sichtbezogen „zeigendem“ Sprachgebrauch prägt das sprachliche Geschehen in seiner ganzen Breite. 

Musik und Sprache werden von Wittgenstein häufig analogisch betrachtet. Warum?

Wittgenstein will nicht sagen, dass Musik eigentlich auch Sprache ist. Gerade die Differenz von Musik und Sprache lässt aber eine Ähnlichkeit zwischen beiden erkennen. Auch der Rhythmus und der Klang eines Satzes und die Dramaturgie von Texten jedweder Art nämlich sind bedeutungstragend. Wenn ich „Der Schnee ist weiß“ sage, kann es etwas anderes sein, als wenn ich eine Gedichtzeile mit „Weiß ist der Schnee“ beginne. Hier macht die Wortstellung einen Unterschied. Auch einzelne Wörter vermögen das. „Schnee“ lässt sich, so denkt man, ohne Weiteres ins Englische übersetzen. Wenn man aber auf den Klang der Wörter hört, dann hat der Klang von „Schnee“ etwas vom Knirschen des Schnees und „Snow“ etwas vom sanften Fallen der Schneeflocken. Wittgensteins Analogien von Sprache und Musik weisen auf solche Nuancen hin, die vielen Theoretikern meist gar nicht auffallen. 

Die Philosophischen Untersuchungen von Wittgenstein besitzen eine ungewöhnliche Komposition, oder?

Die Philosophischen Untersuchungen haben in der Tat eine besondere Form. In einem Arrangement aphoristischer Kurztexte führt Wittgenstein den Denkprozess vor, dessen Resultat die Lesenden in den Händen halten. Indem sein Text die Anlage einer hierarchisch aufgebauten Theorie verweigert, entwirft er eine systematische Theorie der Bedeutung, die ohne ein irreführendes Gefälle auskommt und stattdessen demonstriert, wie eng Sprache, Handeln und Denken miteinander zusammenhängen. 

Würden Sie dem Text auch literarische Qualität zuschreiben? 

Mehr noch als das: Die Philosophischen Untersuchungen sind ein veritables Stück Literatur. Philosophische Texte haben häufig eine literarische Dimension, da die großen Philosophien stets auch ein neues Idiom für die behandelten Probleme erfinden. Das Besondere bei Wittgenstein ist aber, dass die Philosophischen Untersuchungen durchweg auf dem schmalen Grad zwischen Literatur und Philosophie operieren. 

Das Frühwerk Wittgensteins ist der Tractatus logico-philosophicus, der unglaublich effizient, knapp und streng geordnet geschrieben ist. Überrascht da die Literarizität des Spätwerks?

Nein, da auch der Tractatus eine Art Kunstwerk ist – allein schon deshalb, weil Wittgenstein seine Leserschaft dazu auffordert, seine Sätze als unsinnig zu verwerfen, sobald sie glauben, sie verstanden zu haben. Der Text gibt sich wie ein strenges System, ist aber gleichzeitig die Parodie eines philosophischen Systems. Mit den Philosophischen Untersuchungen findet Wittgenstein dann noch einmal eine neue Form der philosophischen Darstellung, genauso wie er es schon im Tractatus getan hat; insofern bleibt Wittgenstein auch im Spätwerk ganz bei sich.

Am Ende Ihres Buches schreiben Sie: „Sprachen im Ganzen unterliegen keiner Regie, so sehr die Potentaten dieser Welt sich dies wünschen mögen.“ Wer ist, Ihrer Meinung nach, in folgender Sache der größere Potentat? Progressive Kräfte, die eine gendergerechte Sprache flächendeckend etablieren möchten, oder ein bayerischer Ministerpräsident, der diese Art der Rede verbieten will?

Wenn Sie mich so fragen, sehe ich eher den Letzteren in der Rolle des Potentaten, sofern er denn glaubt, er könnte den Leuten von oben herab vorschreiben, wie sie nicht zu sprechen und schreiben haben. Es gibt ja einen guten Grund, sich um eine gendergerechte Sprache zu bemühen, einfach deshalb, weil die Menschen in demokratischen Verhältnissen erwarten dürfen, so angesprochen zu werden, wie sie angesprochen werden möchten. Eine Frau, die von ihrer Bank ein Schreiben mit „Sehr geehrter Kunde“ bekommt, wird das heute nicht mehr akzeptieren. Was in jeweiligen Bereichen die angemessene Sprache ist, muss gesellschaftlich ausgehandelt werden, wobei nicht in jedem Bereich dieselben Regelungen angebracht sind. Umsichtig gebraucht, kommt die Diversität der Sprache der Verschiedenheit ihrer Verwenderinnen und Verwender entgegen. Herauszufinden, wie dies gelingen kann, ist ein Prozess, der nicht durch irgendwelche Dekrete gesteuert werden kann. 

Letzte Frage: Welches Einstiegswerk würden Sie jemandem empfehlen, der sich mit der Sprachphilosophie auseinandersetzen möchte?

Meine Empfehlung wäre Johann Gottfried Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache aus dem Jahr 1772. Eine lebendigere Betrachtung der Sprache ist nie geschrieben worden.

Martin Seel ist Professor em. für Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt/M. Seine Schwerpunkte liegen in der Sprachphilosophie, Philosophie des Geistes, Ethik und Ästhetik. Zu seinen Büchern zählen u. a.„Ästhetik des Erscheinens“ (2000) und „Aktive Passivität. Über den Spielraum des Denkens, Handelns und anderer Künste“ (2014). Jüngst erschien sein Buch „Spiele der Sprache“ bei S. Fischer (2023).

 
Nota. - Eine unmittelbare Realität, von der erst in der Reflexion abstrahiert werden kann, ist aber das Sprechen. Sprache ist eine Hypostase, ein nachträglich 'voraus'-gesetztes substan-ziviertes Derivat, von dem ohne weiteres abstrahiert werden kann: Der obige Text beweist es.
JE

 

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