Sonntag, 17. Dezember 2023

Die Geschichte hat keinen Plan.

 
aus nzz.ch, 29. 7. 2023                                                                           Was, wenn die Nase von Kleopatra nicht so gross gewesen wäre? Undatiertes Relief-Fragment mit einer Kleopatra-Darstellung.                                                                            zu öffentliche Angelegenheiten

«Es gibt keinen grossen Geschichtsplan»
In der
kontrafaktischen Geschichtsschreibung wird auf seriöse Weise darüber spekuliert, was geschehen wäre, wenn bestimmte historische Ereignisse nicht oder anders eingetroffen wären. Gespräch mit dem Historiker Lucas Burkart über den Sinn solcher Alternativszenarien.

von Flurin Clalüna, Andrea Spalinge

Lucas Burkart, was ist kontrafaktische Geschichtsschreibung?

Sie beschäftigt sich mit den Möglichkeiten der Geschichte, die sich nicht realisiert haben. Sie zeigt also auf, dass der Geschichtsverlauf nicht klar definiert ist. Damit zwingt uns kontrafaktische Geschichte, über die Frage nachzudenken: Was sind die ausschlaggebenden Gründe, dass Geschichte in einem bestimmten Moment in die eine oder die andere Richtung gelaufen ist?

Warum ist dies wichtig?

Weil das Risiko besteht, dass wir das, was passiert ist, im Nachhinein als zwingend erachten. Wir glauben, dass es so kommen musste. Und wir spekulieren mit unserem historischen Wissen über die Zukunft. Wir sagen zum Beispiel: Weil vor fünfzig Jahren etwas schiefgelaufen ist, machen wir es jetzt anders. Das ist aber ein Fehlschluss. Kontrafaktische Geschichte hilft uns bloss, die Weggabelungen der Geschichte besser zu verstehen. Wer über alternative historische Verläufe nachdenkt, erkennt: Es gibt keinen grossen Geschichtsplan.

Heisst das, Geschichte hätte zu jedem Zeitpunkt anders verlaufen können?

Aus meiner Sicht: ja. Der Verlauf der Geschichte ist zu jedem Zeitpunkt offen, und wir wissen nicht, was morgen ist. Das Problem des Historikers ist, dass er weiss, wie sich Geschichte entwickelt hat. Das heisst aber nicht, dass er sie bereits verstanden hat oder genau weiss, welche Gründe und welche Faktoren zu diesem Verlauf geführt haben.

Könnte man dann überspitzt sagen, dass man aus Geschichte gar nichts lernen kann?

Man kann aus Geschichte sehr wohl etwas lernen. Geschichte ist aber kein Rezeptbuch für die Zukunft. Sie bietet keine klare Handlungsanleitung, was man heute tun muss, damit es morgen so oder so kommt. Man kann hingegen lernen, über die Gegenwart und die Zukunft in Alternativen nachzudenken. Das hilft einem, aus einer Zwangslogik herauszukommen. Die Geschichte wiederholt sich in dem Sinne auch nicht. Denn die Voraussetzungen sind in jedem Moment unterschiedlich. Es gibt allenfalls Entwicklungen, die ähnlich verlaufen wie frühere Phänomene.

Was fasziniert Sie persönlich an kontrafaktischer Geschichte?

Als Historiker bin ich mir bewusst, dass wir nur einen Teil der Vergangenheit sehen, weil die Überlieferungen nie vollständig sind. Es gibt viele blinde Flecken, die wir mit plausiblen Annahmen füllen müssen. Insofern ist das Mögliche immer ein Begleiter des Tatsächlichen. In der deutschen Sprache sieht man das sehr schön: Geschichte ist da ein Doppelbegriff. Einerseits bedeutet er das, was man im Englischen «History» nennt, andererseits aber auch «Story», also Erzählung.

Ist kontrafaktische Geschichte eine neue Gattung?

Nein, bereits die antiken Geschichtsschreiber haben sich mit der Frage beschäftigt, was hätte passieren können. Und über die Jahrhunderte gab es viele schöne Beispiele. So warf der französische Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal im 17. Jahrhundert die Frage auf: Was, wenn die Nase von Kleopatra nicht so gross gewesen wäre und die mächtigen Römer Julius Caesar und Marcus Antonius sich nicht in sie verliebt hätten? Obwohl es diese alte Tradition gibt, wurde kontrafaktische Geschichte in der akademischen Geschichtswissenschaft ab dem 19. Jahrhundert aber marginalisiert, zumindest im deutschsprachigen Raum. Hier hat sie bis heute ein bisschen ein Schmuddel-Renommee.

Wie ist dieses Imageproblem zu erklären?

Kontrafaktische Geschichte gilt im deutschsprachigen Raum als halb seriös und populärwissenschaftlich, weil spekuliert wird. Das Publikum kann bei diesem Ansatz nie ganz sicher sein, ob es den Aussagen auch trauen kann. Das gilt streng genommen aber für alle historischen Darstellungen. Die Frage ist: Was haben wir für eine Erwartung an die Geschichtswissenschaft? Soll sie primär Orientierungswissen zur Verfügung stellen oder zum Denken anregen? Kontrafaktische Geschichtserzählung tut Letzteres, sie denkt über historische Möglichkeiten nach, um der Darstellung der Geschichte ihre Zwangsläufigkeit zu nehmen. Sie desorientiert, um zu orientieren. Darin liegt auch ihr Reiz für’s Publikum.

Tut man sich anderswo weniger schwer damit?

Es gibt da eindeutig Unterschiede. Im englischsprachigen Raum etwa sind «What if»-Bücher ein sehr erfolgreiches Genre. Über alternative historische Möglichkeiten zu spekulieren, wird in Grossbritannien nicht als anrüchig betrachtet. Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass Geschichte dort populärer ist. Britische Geschichtswissenschafter sind viel näher am Publikum. Der staatliche Sender BBC hat einen eigenen History-Channel, und auch Museen erreichen ein breiteres Publikum.

Ist kontrafaktische Geschichte weniger seriös?

Nein, sie muss methodisch so solide sein wie ‹faktische› Geschichtsschreibung. Der Historiker muss genauso seriös recherchieren und seine Quellen offenlegen. Kontrafaktische Geschichte hat den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Sie hat nichts mit Fake News oder erfundenen Wahrheiten zu tun. Es geht darum, auf bestimmte Momente in der Vergangenheit zu schauen, sie zu analysieren und sich dann zu fragen, welche anderen glaubwürdigen Varianten es damals gegeben hätte und wieso sie sich nicht realisiert haben.

Das Risiko besteht im Fiktionalisieren. Zwischen Fiktion und Möglichkeit gibt es einen Unterschied. Fiktion ist völlig frei, wie etwa Science-Fiction. Das kann sehr faszinierend sein, hat mit historischer Wissenschaft aber nichts zu tun. Dasselbe gilt für den von Donald Trumps Regierung in die Welt gesetzten Begriff der «alternativen Fakten». Da scheinen Fakten plötzlich eine Frage des Standpunkts zu sein. Aus Sicht des Geschichtswissenschafters ist das höchst bedenklich.

Wenn sich Geschichte in jedem Moment in eine andere Richtung entwickeln kann, wer entscheidet dann darüber? Helden wie Nelson Mandela und Bösewichte wie Wladimir Putin?

Einzelne Menschen können in gewissen Momenten durchaus darüber entscheiden, wie Geschichte verläuft. Sie tun es aber nur zu einem geringen Teil. Geschichte ist extrem komplex und vielschichtig. Es gibt nie nur einen entscheidenden Faktor. Die Menschen entscheiden mehrheitlich als Kollektiv, wie Geschichte verläuft. In den letzten 150 Jahren zum Beispiel hat die westliche Welt als Kollektiv den weiteren Verlauf der Menschheitsgeschichte durch ihren CO2-Ausstoss stark definiert. Die Entwicklung wird aber auch von Strukturen geprägt, von ökonomischen Prozessen, von gesellschaftlichen Transformationen, etwa ökologischen Zusammenhängen.

Die Vorstellung von einzelnen Figuren, die den Verlauf der Geschichte bestimmen, ist aber sehr populär.

Es gibt eine lange Tradition, Einzelfiguren als Handelnde hervorzuheben. Diese beruht auf der Quellenlage, die um einflussreiche Figuren häufig dichter ist. Schon die antike Geschichtsschreibung wird von grossen Männern und ihren Taten dominiert, und als Genre haben etwa historische Biografien bis heute nichts an Attraktivität eingebüsst.

Obwohl Daten, strukturelle Entwicklungen und Prozesse für die Geschichte anerkanntermassen mindestens so wichtig sind wie individuelles Handeln, schafft dessen Darstellung ein stärkeres Gefühl von menschlicher Nähe und von der Lebendigkeit der Vergangenheit, an der man gerne teilhaben möchte.

Gibt es Ereignisse, die sich für kontrafaktische Geschichte nicht eignen, weil es so herauskommen musste?

Aus methodischer Sicht würde ich diese Frage mit Nein beantworten. Gleichzeitig gibt es natürlich Entwicklungen, die unumgänglich sind. Wie zum Beispiel die Einführung des Frauenstimmrechts. Irgendwann hätte die Schweiz das selbst bei einem Nein in der Volksabstimmung von 1971 einführen müssen. Sonst hätte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sie wohl dazu gezwungen.

Sie haben in einem Seminar über kontrafaktische Geschichte an der Universität Basel mit Ihren Studenten einmal einen Text über Boris Johnson gelesen, der den Titel trug: «Was, wenn Boris Johnson britischer Premierminister geworden wäre?»

Dieser Text war 2017 geschrieben worden, als Grossbritannien über den Brexit stritt und Boris Johnson Bürgermeister von London war und sich schon damals eine Reihe unkonventioneller Auftritte leistete. Als wir den Text 2019 lasen, war aus dem alternativen Szenario bereits historische Realität geworden. Es ist ein wunderbares Beispiel für den Nutzen kontrafaktischer Geschichte. Es macht die Ernsthaftigkeit des Ansatzes deutlich. Interessant an dieser «Was wäre, wenn»-Frage war, dass sie sich mit einem Politiker-Typus, dem Populisten, auseinandersetzte, der ab 2017 in vielen Ländern Karriere gemacht hat. «What if?»-Diskussionen können sich manchmal auch als prophetisch erweisen.

Nota. - Dass die Frage Was wäre gewesen, wenn? nicht nur nicht sinnlos, sondern im Gegenteil unumgänglich ist, wenn man nach Ursächlichkeiten in der Geschichte fragt, hat zuerst Max Weber in die seriöse Sozialwissenschaft eingeführt. Schaut man die Geschichte an, wie sie nunmal verlaufen ist, kann man unendlich viele "Faktoren" ausmachen, die dafür gesorgt haben, dass die Sache eben so uns nicht anders verlau-fen ist. Welcher wichtiger als ein anderer oder womöglich der ausschlaggebende ge-wesen sein mag, kann man nur eruieren, wenn man sich nach einander den einen und dann den andern hinwegedenkt. Wenn der Wegfall von einem einzigen hinreichen würde, um ein ganz und gar verschiedenes Ergebnis wahrscheinlich zu machen, dann wird man ihn sich als 'den Ausschlaggebenden' vorstellen: Das ist dann die Spur, die man zu verfolgen hat, und die eigentliche Fleißarbeit.

Von 'Notwendigkeit' in einem kausalen Sinn wird man zwar nicht reden können. Doch das macht ohnehin den Unterschied zwischen 'nomothetischer' Naturwis-senschft und 'idiographischer' Geschichts- und Sozialwissenschaft aus: Bei diesen werden Gesetze als wirkend angenommen, während bei jenen Absichten die Haupt-rolle spielen, die stetem Wandel unterliegen und vor allem noch immer ganz andere Ergebnisse gezeigt haben als die gewünschten: weil nämlich auch die Widerstände nicht 'aus den Naturgesetzen' kommen, sondern aus... den Absichten der andern Leute.
JE

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