Freitag, 29. Dezember 2023

Das Gastmahl.


aus spektrum.de, 26. 12 2023                                                                                                                zu Jochen Ebmeiers Realien

Essen in Gesellschaft
Kleine Psychologie der gemeinsamen Mahlzeit
Zu Weihnachten zu viel gegessen? Das könnte an der guten Gesellschaft gelegen haben. Warum wir im Beisein anderer Menschen mehr und ungesünder essen und was wir dagegen tun können.

Gemütlich zusammensitzen, gut essen und trinken: So wünschen sich viele Menschen die Feiertage im Kreis ihrer Liebsten. Nachmittags gibt es Plätzchen, abends Vorspeise, Hauptspeise, Dessert und Alkohol. Das Gelage zieht sich über mehrere Tage, und am Ende zeigt die Waage drei Kilo plus. Das ist aber weniger einer persönlichen Schwäche geschuldet als einem verbreiteten psychologischen Phänomen: In Gesellschaft fällt es besonders schwer, maßvoll und gesund zu essen.

Dennoch speisen die meisten Menschen lieber in Gesellschaft als allein, und das mit gutem Grund: Das Ritual der gemeinsamen Mahlzeit verbindet. Zu diesem Schluss kam der Sozialpsychologe Robin Dunbar von der University of Oxford nach einer repräsentativen Umfrage unter rund 2000 Erwachsenen im Vereinigten Königreich. Mehr als 90 Prozent aßen den eigenen Angaben zufolge zumindest manchmal zusammen mit Familie oder Freunden, und je häufiger sie das taten, desto mehr Menschen gab es in ihrem Leben, auf die sie sich verlassen konnten. Wer viele Kontakte hat, isst zwar sicherlich auch seltener allein. Aber mit einer so genannten Pfadanalyse konnte Dunbar belegen, dass der Zusammenhang vor allem andersherum zu Stande kam: Das gemeinsame Essen förderte ein Gefühl von Verbundenheit.

Die Kehrseite: Manchmal essen wir nur den anderen zuliebe. Das legt ein Experiment nahe, zu dem US-Forscherinnen rund 100 Studierende ins Labor eingeladen hatten. Nachdem diese in einem Fragebogen Auskunft über sich gegeben hatten, sollten sie gemeinsam mit einer zweiten Versuchsperson noch eine Weile warten und bekamen dazu eine Schüssel Süßigkeiten. Die zweite Person war eine Verbündete der Forscherinnen: Sie nahm eine Hand voll Schokolinsen und bot sie der anderen wartenden Versuchsperson an: »Would you like some?« Rund 80 Prozent griffen zu und nahmen im Mittel die gleiche Anzahl Schokolinsen wie die Person, die sie angeboten hatte. Die meisten Versuchspersonen gaben später an, dass sie das zumindest teilweise getan hatten, um nett zu sein. Und je mehr sie gemocht werden wollten, desto mehr aßen sie mit – vor allem wenn sie glaubten, dass das von ihnen erwartet würde.

Essen zum Einschmeicheln

Beim gemeinsamen Essen geht es offenbar nicht nur darum, gleich viel zu verspeisen wie die anderen. Sich ungesund zu ernähren, wirke per se schon sympathisch, berichten die Forscherinnen. Wer wenig oder gesund isst, bekomme zwar Respekt und erscheine attraktiver, intelligenter, moralisch höher stehend – aber auch weniger nett und weniger humorvoll. Und im Zweifelsfall lieber ein bisschen öfter zugreifen: Frauen mögen andere Frauen lieber, wenn sie mehr essen als sie selbst.

Dass hinter dem sozial motivierten Essen das Bedürfnis steht, von anderen akzeptiert und gemocht zu werden, fand ein Team um Eric Robinson und Suzanne Higgs von der University of Birmingham schon 2011 heraus. Ihre Probandinnen sollten zu zweit ein Problem lösen und bekamen dazu Schokolinsen oder Popcorn. Wurde vorab dafür gesorgt, dass sich die Frauen sozial akzeptiert fühlten, sank das Bedürfnis, den Süßigkeitenkonsum der Mitstreiterin nachzuahmen. Was zur Folge hatte, dass sich bei diesen Duos die verspeisten Süßigkeitenmengen weniger ähnelten als bei denen, die kein Gefühl von Akzeptanz eingeimpft bekamen.

Robinson und Higgs deuten die Tendenz, sich beim Essen am Gegenüber zu orientieren, als »ingratiation« – Einschmeicheln. Und das sei unter Fremden wie Freunden gleichermaßen üblich. Und auch in der Familie: Ein Team um Higgs und Robinson beobachtete 38 Töchter, die mit einem Elternteil zu Mittag aßen. Wenn Vater oder Mutter nach einer bestimmten Speise griffen, stieg die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind sich in den folgenden 2 bis 15 Sekunden genau dasselbe einverleibte.

Suzanne Higgs ist Professorin für die Psychobiologie des Essens und erforscht seit mehr als 25 Jahren das menschliche Essverhalten. Von einem ihrer jüngsten Befunde war sie jedoch überrascht: Die Befragten glaubten, dass sie sich bei einem gemeinsamen Essen kleinere Portionen nehmen würden als beim Essen allein. Doch das Gegenteil sei der Fall, berichtet Higgs. »Das legt nahe, dass den Leuten nicht bewusst ist, wie sie sich vom sozialen Kontext beeinflussen lassen.«

Damit wir uns an anderen orientieren, müssen diese nicht einmal anwesend sein. Es genügt eine Information über das vermeintlich »normale« Essverhalten – etwa die Menge von Cookies, die andere Versuchspersonen vermeintlich zuvor gegessen haben, wie wiederum ein Team um Higgs und Robinson berichtete. In einer Übersicht über 15 Experimente kommen sie zu dem Schluss: Eine Information darüber, was und wie viel andere essen, bestimmt mit, was und wie viel wir selbst für angebracht halten. Und in diesem Fall, wenn wir die Information über eine soziale Norm bewusst verarbeiten, wissen wir auch eher um deren Einfluss auf das eigene Verhalten.

Weniger offensichtlich ist der Effekt der Portionsgröße. Die niederländischen Sozialforscherinnen Iris Versluis und Esther Papies setzten ihren Versuchspersonen entweder eine kleine oder eine große Portion auf dem immer gleich großen Teller vor: Reis, Nudeln, Chips oder Cookies. Von den großen Portionen wollten die Leute mehr essen – je nach Nahrungsmittel in etwa zwischen 100 und 300 Kalorien mehr. Wenn sich die Portionsgröße angeblich an einer Mehrheit orientierte, war der Effekt größer. Im vertrauten Umfeld wirkt sich die Portionsgröße sogar noch stärker aus als im Labor.

Fazit: Wir lassen uns beim Essen von vielen Einflüssen lenken. Die eigenen Maßstäbe bestimmen zwar mit, was wir als normal und gut empfinden. Aber beim gemeinsamen Essen kommt es auch darauf an, was wir für sozial erwünscht halten und wie sehr wir gefallen wollen. Wer den impliziten Verhaltenscodes folgt, fühlt sich der Bezugsgruppe verbunden und erfüllt sein Bedürfnis nach Zugehörigkeit.

Nur: Ist das Essen selbst dabei wirklich so entscheidend? Der britische Sozialpsychologe Robin Dunbar hat untersucht, was die Menschen beim gemeinsamen Essen näher zusammenbringt. Die bindungsförderlichsten Voraussetzungen: gemeinsam zu lachen, in Erinnerungen zu schwelgen – und Alkohol zu trinken. Es könnte zwar auch sein, dass das synchrone Essen dazu beiträgt, sagt Dunbar. Doch vielleicht dient es nur als Anlass und Gelegenheit für die wichtigeren Dinge: miteinander zu trinken, zu reden und zu lachen.

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