aus Tagesspiegel.de, 7. 12. 2023 zu öffentliche Angelegenheiten; zu Levana
Sie
bemängeln auch, wie mit den Daten der Pisa-Erhebung umgegangen wird.
Können Sie Ihre Kritik an einem Beispiel konkretisieren?
Die
Autoren der „Unstatistik des Monats“ haben mehrfach nachgezeichnet, wie
weit sich manche Schlagzeile von den Pisa-Daten entfernt hat. 2013
konnten sie zeigen, dass die vermeintlich verbesserten
Mathematikleistungen der deutschen Schüler sich in Luft auflösten,
sobald man die veränderte sozio-demographische Struktur der Stichprobe
herausrechnete. Die entsprechende Abbildung unter Berücksichtigung der
sozialen und demographischen Veränderungen befand sich gut versteckt im
Abschlussbericht. Die damalige Pressemitteilung des Bundesministeriums
für Bildung und Forschung „Schulische Bildung in Deutschland besser und
gerechter“ war also eine Überinterpretation – oder Wunschdenken.
Amerikanische Forscher publizierten 2018 einen Beitrag im Fachmagazin „Science“ unter dem Titel: „Rankings bekommen zwar Schlagzeilen. Aber sie sind oft irreführend.“
Besser kann man es nicht ausdrücken!
Darin
berichten sie, dass in China lange Zeit Schülerinnen und Schüler vom
Land nicht die Schulen in der Stadt besuchen durften. Die Forscher
schreiben auch, dass in der Türkei und in Mexiko 40 Prozent der
15-Jährigen schon gar nicht mehr zur Schule gingen, wenn Pisa ansteht.
Wie repräsentativ ist der Leistungsvergleich dann noch?
Der
Umstand, dass es in Chinas Metropolregionen, etwa in Peking oder
Shanghai, Millionen Wanderarbeiter mit ihren Familien gibt, die keinen
regulären Aufenthaltsstatus und damit auch kein Recht auf Schulbesuch
haben, ist gut dokumentiert. Wenn dieser Teil der Bevölkerung in Pisa
nicht vorkommt, ist das natürlich ein Problem und auch eine mögliche
Erklärung für die Spitzenplätze der Chinesen.
Für die traditionell auf PISA-Spitzenplätze abonnierten asiatischen Staaten wissen wir, dass die höhere Rechenleistung mit einem höheren Stress- und Angstpegel korreliert. Und wir wissen auch, dass es in China und Japan ein fast obligatorisches, wenig kindgemäßes Nachhilfewesen gibt, in dem Eltern ihre Kinder anmelden, weil die weitere berufliche Karriere ganz entscheidend vom Schulerfolg abhängt.
Wenn
der messbare Pisa-Erfolg so sehr von der Auswahl der Stichprobe
abhängt, wie sinnvoll ist es dann, Lehren aus anderen Schulsystemen für
unser Schulsystem zu ziehen?
Die Idee, dass man eine
pädagogische Erfolgs-Methode einfach importieren könnte, ist
unrealistisch. Die Unterschiede in den Traditionen der verschiedenen
Bildungssysteme, ihre Einbettung in die Gesellschaft und Wirtschaft, wie
lange Kinder zur Schule gehen, wie die Klassen zusammengesetzt sind,
muss man in Erwägung ziehen, wenn man vergleichen will. Zu Beginn des
Pisa-Hypes pilgerten ja ganze Bildungsdelegationen nach Finnland, das
damals am besten abgeschnitten hatte, aber Skeptiker sprachen vom
„Pisa-Schwindel“. Unter anderem deshalb, weil es in Finnland im
Unterschied zu Deutschland nur eine kleine Gruppe von migrantischen
Kindern gab – und deren mangelhafte schulische Integration war alles
andere als eine Erfolgsgeschichte.
Es ist wichtig, dass Schüler einen möglichst konkreten Bezug der schulischen Inhalte zu ihrer Lebenswelt erleben können. Das gilt für biologische Vorgänge etwa im Schulgarten genauso wie fürs Rechnen: Wer in einer Schülerfirma, die T-Shirts bedruckt, für Einkauf, Lagerhaltung, Preiskalkulation verantwortlich ist, hat einen durchaus direkten Bezug zu Mathe. In dieser Hinsicht sind viele Schulen in den letzten Jahren erfreulicherweise aktiv geworden.
Laut
Pisa ist die soziale Herkunft in Deutschland immer noch extrem wichtig,
für den Bildungserfolg ist. Warum bekommen wir das nicht in den Griff?
Der
Düsseldorfer Bildungsforscher Rainer Bölling ging der „Mär von der
sozialen Ungerechtigkeit“ nach und fand überraschenderweise, dass der
viel gelobte Pisa-Spitzenreiter Singapur in der Frage der sozialen
Ungleichheit in den Originaldaten schlechter dasteht als Deutschland –
ohne dass das jemals in einem Pisa-Bericht problematisiert worden wäre.
Dasselbe gilt für China oder Frankreich. Glaubt man den aktuellen
Pisa-Messungen von 2023, dann verfügt Kambodscha über das „gerechteste“
Bildungssystem der Welt – wenn man indessen berücksichtigt, dass
Kambodscha auf der Pisa-Rangliste den allerletzten Platz mit 336 Punkten
belegt, dann dürften sich Forderungen wie „von Kambodscha lernen“ doch
recht schnell verflüchtigen, wie Bölling herausgefunden hat.
Sind gar keine der internationalen Leistungsprüfungen sinnvoll?
Wenn
sich die deutsche Bundesbildungsministerin hinstellen würde und – wie
es von Experten empfohlen wird – verkünden würde, „Deutschland steigt
aus Pisa aus“, dann würde man ihr vorwerfen, dass sie sich aus der
Verantwortung stehlen wolle. Trotzdem könnte ein solcher Schritt
sinnvoll sein, um sich intensiv und in Ruhe mit den tatsächlichen
Bildungs-Herausforderungen unserer Zeit zu beschäftigen.
Worin sehen Sie die größten Herausforderungen des deutschen Bildungssystems?
Wenn
man mit Schulpraktikerinnen und -praktikern vor Ort spricht, dann
wissen die durchaus – auch ganz ohne Pisa-Daten -, wo gegenwärtig die
Probleme liegen: Etwa, dass die deutsche Politik durch die Einwanderung
von Migranten auch die Schulen vor massive Probleme stellt. Das trifft
natürlich weniger die Gymnasien – aber für Grund-, Haupt-, Real- und
Gesamtschulen dürfte der hohe Anteil der Schüler ohne oder mit geringen
Deutschkenntnissen auch zukünftig kaum zu bewältigen sein. Allein für
das vergangene Schuljahr 2022/23 meldet das Statistische Bundesamt einen
Zuwachs von 22 Prozent an Schülern mit ausländischem Pass, was primär
auf ukrainische Schüler zurückzuführen ist.
Dabei sind die ausländischen Schüler nur ein kleiner Teil der gesamten Schülerpopulation mit Migrationshintergrund. Im Durchschnitt weisen über 40 Prozent der Schülerinnen und Schüler in Deutschland einen Migrationshintergrund auf. Deren Kompetenzprofil liegt beträchtlich unterhalb der Schüler mit deutscher Herkunft. Dabei muss man differenzieren: Schüler mit Migrationshintergrund, die hier in Deutschland geboren sind, liegen im Mittel nah an dem Kompetenzprofil der Schüler mit deutscher Herkunft.
Ein zweites Problem ist die viel beschworene „digitale Bildungsrevolution“. Viele Pädagogen und Bildungsexperten sehen im zu frühen Einsatz von Bildschirmmedien in Kita und Schulen mehr das Problem als die Lösung. Sie verlangen vielleicht nicht nach einer neuen „Kreidezeit“ – aber doch nach einer Rückbesinnung auf die lebendige Lehrer-Schüler-Begegnung, auf das fruchtbare Unterrichtsgespräch und auf den pädagogisch gestalteten Rhythmus von Anstrengung und Entspannung in der Eroberung neuer Wissenswelten.
Sie sind nicht der Einzige, der die Pisa-Studie kritisiert. Kommt davon etwas in der politischen Umsetzung an?
Ich
hatte vor ein paar Tagen den Eindruck, dass sich die öffentliche
Wahrnehmung von PISA etwas gedreht hätte: Ich bekam Anfragen von
Medienhäusern, die bereits vor der Veröffentlichung der neuen Ergebnisse
nach einer kritischen Bewertung von Pisa fragten. Wenn ich allerdings
nun auf die einsetzende Pisa-Berichterstattung schaue, dann habe ich den
Eindruck, dass die Bildungspolitik sich weiter an den Schlagzeilen der
OECD-Bildungsdirektion orientiert.
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