Samstag, 23. Dezember 2023

Hyperbolitik; oder Das Politische ist privat.


aus Tagesspiegel.de, 20. 12. 2023                                                                                                       zu öffentliche Angelegenheiten

Erregung ohne Folgen
Anton Jäger untersucht das Zeitalter der Hyperpolitik
Der Historiker geht auf Abstand zum derzeitigen Cocktail aus Euphorie, Konsumismus und Apathie.

Wie bei einem Schiff, dessen Ladung bei stürmischer See ins Rutschen kommt, so könnte man sich die momentane Lage vorstellen, wenn man einer Metapher vertraut, mit der Anton Jäger die Ära der „Hyperpolitik“ kennzeichnet. Der belgische Ideenhistoriker bildet sie in Analogie zu Peter Sloterdijks maritimen Metaphern nach einem realen Vorbild: dem Untergang der Pamir im September 1957. 

Von Meike Fessmann

Die Viermastbark war auf dem Weg von Buenos Aires nach Hamburg mit 4000 Tonnen Gerste an Bord in einen Hurrikan geraten. Aus Zeitgründen hatte man die Gerste nicht in Säcke verstaut, schildert Jäger, sondern lose an Bord gebracht. Ähnliches geschehe mit den atomisierten Individuen der Gegenwart, wenn sie in politische Erregung geraten.

Anton Jägers Begriff der „Hyperpolitik“, den Sloterdijk bereits Anfang der 1990er Jahre mit etwas anderer Akzentuierung verwendete, zielt auf eine spezielle Form der Politik beziehungs-weise der Politisierung. „Extreme Politisierung ohne politische Folgen“ lautet der Untertitel des Essays, in dem es weniger um Politiker geht als um das politische Engagement der Bür-ger.

Die Phase der Hyperpolitik lässt Anton Jäger, Jahrgang 1994, ungefähr 2016, also in der Trump-Brexit-Konstellation beginnen, wohl wissend, dass sich solche Phänomene nicht einfach schematisieren lassen und dass es immer riskant ist, als Historiker der Zeit den Puls zu fühlen, in der man selber lebt. Es ist eine Diagnose ohne Abstand, aber mit gutem Gespür.

Charakteristisch für die Ära der „Hyperpolitik“ ist das hohe, durch die Rückkopplungs-schleifen der sozialen Medien befeuerte Erregungspotential bei gleichzeitiger Deinstitu-tionalisierung. Sie lässt sich von drei früheren Phasen unterscheiden: von der Ära der „Massenpolitik“, wie sie für die Industriegesellschaften des 20. Jahrhunderts typisch war, in denen Gewerkschaften, Parteien oder Vereine den Protest organisierten; von der „Postpo-litik“ der „langen Neunziger“, als man sich darauf verlassen wollte, dass die Politik nach dem Ende des Kalten Krieges schon gut genug funktionierte, um sich einigermaßen gefahrlos einem „Cocktail aus Euphorie, Konsumismus und Apathie“ hinzugeben.

Die Protestbewegungen, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Folge der Finanzkrise 2008 und der Eurokrise 2010 entstanden, nennt Jäger „Antipolitik“, mit einem Schlagwort, das er anders auffasst als etwa der ungarische Schriftsteller György Konrád oder der 1989 zum Staatspräsidenten der Tschechoslowakei gewählte Schriftsteller Václav Havel in den 1980er Jahren, wenn sie die Sphäre des Privaten vor dem Zugriff des sozialistischen Staates schüt-zen wollten.

„Antipolitik“ in Jägers Sinn ist eine gegen die offizielle Politik gerichtete Gegenbewegung, wie sie etwa Occupy Wall Street und die eher rechte Tea-Party-Bewegung vertrat. „Anti-politik war eine Politik gegen eine Politik, die keine war.“ Das gelte auch für die Aufstände und Massenproteste in Nordafrika und dem Nahen Osten ab Dezember 2010 und die Besetzung des Istanbuler Gezi-Parks im Mai 2013.

„Bowling Alone“, die viel diskutierte Studie des Politikwissenschaftlers Robert Putnam aus dem Jahr 2000, bildet die Hintergrundfolie der Argumentation. Dabei übernimmt er die Idee, dass Institutionen, die zivilgesellschaftliches Engagement bisher bündelten, im Schwinden begriffen sind: von der Kirche über Gewerkschaften und Parteien bis hin zu Vereinen. Damit schwinde auch die Verbindlichkeit gemeinsamen Engagements.

Die Hemmschwelle beispielsweise eine Facebook-Gruppe zu verlassen, ist niedrig, anders als beim Austritt aus der Kirche, aus einer Partei oder selbst noch aus einem Verein. Die Entwicklung der europäischen Protestparteien, von Podemos über Syriza bis hin zu Movimento 5 Stelle zeichnet Jäger detailliert nach, um schließlich zu erwägen, ob die allgemeine Deinstitutionalisierung die Linke nicht womöglich stärker trifft als die Rechte. Mit dem britischen Politologen R.W. Johnson spricht er von einem „asymmetrischen Verfall des Klassengegensatzes“.

„Heute gilt: Alles ist politisch“, zitiert er aus einem Interview mit Adam Tooze vom Juli 2023. Doch was nützt das, außer dass der „neoliberale Versuch einer Entpolitisierung der Wirtschaft gescheitert ist“, wie der britische Wirtschaftshistoriker versichert? 

Anton Jäger beklagt „die weitgehende Folgenlosigkeit der linken Hyperpolitik“ und wählt als Beispiel die Proteste von Black Lives Matter, die zwar während der ersten Coronawellen Millionen auf die Straße gebracht haben, letzten Endes aber folgenlos geblieben seien. Noch immer gäbe es in den USA massive Polizeigewalt, insbesondere gegen Afroameri-kaner, und die höchste Inhaftierungsrate weltweit. Doch wirkungslos waren sie deshalb noch lange nicht.

Die „Schockpolitisierung“, die nach 2008 einen Teil der OECD-Bürger ergriff, erreichte mit MeToo und BLM eine „Art Kipppunkt“. Hitzewellen und Umwelt-Katastrophen, Corona, Inflation, der russische Angriff auf die Ukraine – und mittlerweile auch der Angriff der Hamas auf Israel und seine Folgen – geschehen in einer Stimmung, die mit dem Ausdruck „virale Panik“ treffend gekennzeichnet ist. In den „kurzen Hype- und Empörungszyklen“ des beschleunigten Internetzeitalters erkennt Anton Jäger die Signatur der Hyperpolitik.

Es mag befremdlich oder vielleicht sogar ein bisschen treuherzig erscheinen, dass der in Cambridge promovierte und derzeit als Postdoctoral Research Fellow an der Katholieke Universiteit Leuven lehrende Historiker trotz seiner Analysen am Ende Lösungsansätze vorschlägt. 

 

 

Nota. - Kennen Sie den Sorites? Das ist eines von den antiken Paradoxa, die bis in die Gegenwart herüber funkeln, und es geht so: Ab welcher Anzahl bilden Sandkörner einen Haufen? 

Das ist logisch nicht zu lösen, denn eine bestimmte Anzahl Sandkörner wäre ein - digitaler - Begriff, ein Haufen Sand ist eine - analoge - Anschauung. Aber der Haufen ist mehr als ein bloßes Quantum von Körnern. Es sind Sand körner und stehen zu einander in einem quali-tativ vorgegebenen Verhältnis - Wechselwirkungen, wie der Physiker sagt: von der Gravita-tion bis zum Elektromagnetismus. Die sieht man dem Haufen nicht an, so wenig wie die einzelnen Körner. Der Haufen ist mit Körnern so gut oder so schlecht kommensurabel wie Calvados mit Äpfeln (die schon selber einen Haufen bilden konnten).

*

Was hat das mit obigem Thema zu tun?

Im Lauf des Jahres 2010 war die Welt sprachlos: Erst in Tunesien, dann in Ägypten hatte die elektronische Kommunikation von Twitter und Facebook ausgereicht, um diktatorische Systeme zu pulverisieren, denen in der Gesellschaft keine nennenswerte Kraft entgegenge-standen hatte - schon gar keine politische Parteien! Von 'führenden' ganz zu schweigen

Und seht, da war es noch nicht Nacht, da sah die Welt die Folgen schon: Der Druck des Volkszorns ist im Wind verpufft, es folgte die Konterrevolution wie aus der Gebrauchs-anleitung; in Ägypten mit Schwung, in Tunesien eher schleichend. Die Einfalt hatte sie so weit gebracht; beneidenswert, wer frei davon.

Der Druck im Kessel mag steigen, so hoch er will - ohne einen Zylinder findet er keinen Weg. Und was wäre ein Zylinder ohne Kolben? Kein Zylinder.

* 

Ohne Kessel entstünde kein Dampf und kein Druck, das ist klar. Eine eingrenzende Struk-tur ist also vorausgesetzt. Wo sollte der Zylinder sonst ansetzen? Aber ohne Kolben, Pleuel-stange und Zahnräder würde der Druck in den leeren Raum verfliegen.

Wenn Mehrere denselben Willen haben, müssen sie ihrem Willen ein Organ verschaffen, will sagen, müssen sie sich organisieren, sonst wird er nicht objektiv. Ein Kessel ist immer schon da, es kommt auf das Element und die Energiezufuhr an.

Folgen wir dem Autor zurück in die Zeit der Klassenkämpfe. Da gab es Massenaktion, Parteien und Gewerkschaften. Das Element war durch das Kapitalverhältnis immer schon vorgegeben. Die Energie war ein sich stetig und sei es nur elementar artikulierendes Inter-esse. Klasseninteresse, sagte man damals. Damit war nicht nur der spezifische Vorteil einer bestimmten Gruppe von Privatleuten gemeint, sondern das, 'was sie ihrem Sein gemäß ge-schichtlich zu tun gezwungen sein werden', nämlich die Weltrevolution, und in der fielen die Privatinteressen der Proletarier zusammen mit dem Gattungsinteresse der Menschheit.

*

Das kann man so nun nicht mehr sagen. Seit einem halben Jahrhundert dröhnt es stattdes-sen von den Dächer herab: Das Private ist politisch!

Das ändert die Sachlage elementar. Dass es keine Parteien gäbe, ist weiß Gott nicht unser Problem: Die gibt es nur zu sehr. Das Problem ist, dass sie weder mit bestimmbaren Zwe-cken noch mit bestimmt Wollenden verbunden sind, sondern mit lauter Privatem, das, so laut es doch beschrieen wird, weder objektiv noch öffentlich wird. Interessen, auf die man sich verlassen könnte, gibt es so wenig wie identifizierbare Programme - außer natürlich der organischen Affinität zu den Fleischtöpfen, aber wegen der wollen wir sie ja endlich loswer-den.  

Dass einer seine Gesinnung bekennt, ist so gut, als ob er zu Silvester einen krachen lässt; Andere tun es ihm gleich oder lassen es, und das wars auch schon. 

Ganz Schlaue wollten die neue Problemlage umschiffen im Rückgriff auf Antonio Gramscis Begriff der 'kulturellen Hegemonie'. O, das ist mal eine weiche Ressource! Sie weicht jedem Versuch, sie zu bestimmen, aus, und  man weiß nur, dass sie immer da ist, wo du nicht bist, und Grund, dich zu beschweren, findest du allenthalben. Daher der ewige Krakeel. Da wer-den nicht wie auf dem Aeropag in Athen Argumente mit bestimmten Begriffen gegeneinan-der gestellt, sondern wie in Sparta wird nebeneinander so laut gebrüllt, wie man eben kann. Die Öffentliche Meinung ist der angefeuchtete Finger, der fühlt, woher der Wind weht.

Auf Stimmungen könnt ihr nicht bauen. Und glaubt es nur: Je länger ihr brüllt, umso heise-rer werdet ihr, und umso lauer werden die Winde. Wenn dann ein as-Sisi kommt, den vor-her keiner recht bemerkt hat, sind alle andern außer Puste und er kann machen, was er will. 

*

Ach nein, wir sind nicht in Nordafrika, so schlimm wirds schon nicht bei uns, gelle? 

Nein, ganz so schlimm nicht. Aber um auf die Pamir zurückzukommen: Als deren Gerste erst einmal in Bewegung war, hätte kein Gebrüll, wie laut es war und aus welcher Richtung es kam, sie anhalten können.
JE



 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Blog-Archiv

Pausen sind gut und nötig; der Pausenhof ist ein Übel.

                                                          aus Levana, oder Erziehlehre Die Schule ist ein Ort, der Kinder in einer so ...