Mittwoch, 13. Dezember 2023

Antagonistische Pleiotropie: Warum wir zum Schluss doch alle sterben.

rolfbauerdick                                                          zu Jochen Ebmeiers Realien                    aus derStandard.at, 12. 12. 2023

Wer mehr Kinder hat, hat auch ein höheres Risiko, früh zu sterben
Eine umfangreiche genetische Studie zeigt, dass DNA-Mutationen, die bei Menschen günstig für die Fruchtbarkeit sind, später deren Leben verkürzen dürften

Aber woran liegt es aus Sicht der Evolutionsbiologie konkret, dass alles Leben früher oder später altert und zu Ende geht? Williams erfand dafür eine eigene Hypothese namens antagonistische Pleiotropie. Das klingt komplizierter, als es ist. Dieses Konzept geht nämlich davon aus, dass ein Gen in einem Organismus mehrere Funktionen haben kann (was als Pleiotropie bezeichnet wird), die in ihren Folgen auch einander entgegenwirken (also antagonistisch sein) können. Oder einfacher gesagt: Genetische Mutationen, die für einen Organismus in jungen Jahren vorteilhaft sind, richten im späteren Leben Schaden an.

Kleinere Studien hatten in der Vergangenheit Hinweise geliefert, dass Williams' Hypothese richtig sein dürfte. Im Jahr 2007 beispielsweise entdeckte ein Forscherteam bei der Wurmart C. elegans, einem der beliebtesten Modellorganismen der Genetik, dass es einige Mutationen in der Erbsubstanz gibt, die das Leben dieser Tiere verlängerten, aber gleichzeitig die durchschnittliche Anzahl der Nachkommen verringerten.

Daten von 276.406 Personen

Eine eindrucksvolle Bestätigung, dass die Hypothese auch für den Menschen gilt, liefert eine Studie, die vor wenigen Tagen in der Fachzeitschrift "Science Advances" erschien. Jianzhi Zhang, Evolutionsbiologe an der Universität von Michigan, griff mit seinem Co-Autor Erping Long (Chinesische Akademie der Wissenschaften) dafür auf die UK Biobank zurück, eine Datenbank, die anonymisierte genetische Informationen von einer halben Million britischer Freiwilliger bereitstellt – samt Informationen über deren Gesundheit und deren Lebensgewohnheiten.

Durch diese Daten gelang es bereits, mögliche Zusammenhänge zwischen genetischen Variationen und Tausenden von Merkmalen wie Bluthochdruck, Suchtverhalten oder Autismus zu entdecken. Zhang und Long durchsuchten die Datenbank nach anderen Informationen interessiert: Sie wollten mehr über Assoziationen zwischen Fortpflanzung und Langlebigkeit in Erfahrung bringen. Auf Basis der Daten von mehr als 275.000 Biobank-Freiwilligen europäischer Herkunft, die zwischen 1940 und 1969 geboren wurden, entdeckten Zhang und Long tatsächlich Hunderte von Mutationen, die günstig für die Fruchtbarkeit eines jungen Menschen sein dürften, zugleich aber mit körperlichen Problemen und Krankheiten im späteren Leben verbunden sind.

Eine solche Variante namens rs12203592 wurde zum Beispiel mit einigen Krebsarten in Verbindung gebracht. Menschen, die besonders viele Mutationen hatten, die günstig für die Anzahl der Kinder sind, hatten eine etwas geringere Wahrscheinlichkeit, den 76. Geburtstag zu erleben, auch wenn der Einfluss der einzelnen Varianten nur extrem klein ist.

Positive Selektion dauert an

"Unsere Ergebnisse sprechen für die Hypothese der antagonistischen Pleiotropie", resümiert Zhang. Das Autorenduo fand zudem Hinweise, dass diese Entwicklung der positiven Selektion von reproduktionsförderlichen Varianten nicht irgendwann in unserer fernen Vergangenheit aufgehört hat. Die Menschen in der Datenbank, die jünger waren, hatte eine größere Anzahl von reproduktionsfördernden Mutationen als die 1940 Geborenen.

Das scheint auf den ersten Blick ein Widerspruch zur Tatsache zu sein, dass die Lebenserwartung in Großbritannien heute bei 80 Jahren liegt, während sie vor einem Jahrhundert noch um 21 Jahre geringer war. Doch mit der zunehmenden Verbreitung der reproduktionsfreundlichen Varianten haben sich auch die Lebensbedingungen und der medizinische Fortschritt drastisch verändert: Bessere Ernährung und Medizin haben die Kindersterblichkeit gesenkt und dazu beigetragen, dass mehr Menschen ein höheres Alter erreichen – mit oder ohne Genvarianten, die günstig für die Fruchtbarkeit sind.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Blog-Archiv

Pausen sind gut und nötig; der Pausenhof ist ein Übel.

                                                          aus Levana, oder Erziehlehre Die Schule ist ein Ort, der Kinder in einer so ...