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aus derStandard, 4. 9. 2025 Das
Grab einer erwachsenen Frau nahe der deutschen Ortschaft Brücken, die
mit Glasperlenschmuck und einem Amulett beigesetzt wurde. Die Beigaben
der Slawen waren verhältnismäßig spärlich.
Was typisch slawisch ist, wird noch heute kontrovers diskutiert – und hat auch eine politische Dimension, wenn man an gefährliche Einheitsfantasien denkt, die auch im Krieg in der Ukraine eine Rolle spielen. Dabei ist gerade über die historischen Anfänge dieser großen Gruppe sehr wenig bekannt: Aus der Spätantike gibt es keine schriftlichen Zeugnisse von Slawen. Erst ab dem 6. Jahrhundert tauchen sie in Quellen anderer Kulturen auf, als Bewohnerinnen und Bewohner der Regionen vom Baltikum bis zum Balkan.
Gleichzeitig spielt ihre Migration in dieser Zeit eine bedeutsame Rolle für Europa – bis heute. "Die Ausbreitung der Slawen war wahrscheinlich das letzte demografische Ereignis von kontinentaler Tragweite, das sowohl die genetische als auch die sprachliche Landschaft Europas dauerhaft und fundamental verändert hat", sagt der renommierte Archäogenetiker Johannes Krause, Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. Er leitete gemeinsam mit seiner Fachkollegin Zuzana Hofmanová eine neue Studie im Fachjournal Nature, die dieser weitgehend unbekannten Völkerwanderung auf den Grund ging. Im Rahmen des großen DNA-Analyseprojekts "HistoGenes" war auch der Historiker Walter Pohl von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und der Universität Wien maßgeblich beteiligt.
In der Geschichtsforschung mangelt es rund um die frühen Slawen nicht nur an Schriftquellen: Sie verbrannten ihre Toten, was die Analyse von Lebensumständen anhand der Skelette wesentlich erschwert, und sowohl die Gräberfelder als auch die Siedlungen sind relativ karg. Man lebte in einfachen Grubenhäusern und benutzte pragmatische, ungeschmückte Alltagsgegenstände aus Ton, selten aus Metall.
Erst später vermischten sich die Kulturen, wodurch Körperbestattungen vermehrt vorkamen, erklärt Pohl im STANDARD-Gespräch. Mit Proben aus Knochen und Zähnen, die auf das 6. bis 8. Jahrhundert datiert wurden, kann man mittlerweile die Genome vergleichen und mehrere Generationen in die Vergangenheit blicken, um Veränderungen in der Bevölkerungszusammensetzung zu rekonstruieren. Das setzte das Forschungsteam anhand von mehr als 550 Skeletten aus Ostdeutschland, Polen, der Ukraine, Österreich, Tschechien, Kroatien und Russland um.

Dabei konnten die Fachleute die ursprüngliche Herkunft der Zugewanderten auf den Raum zwischen dem südlichen Belarus und dem Zentrum der Ukraine einschränken. Außerdem stellte sich heraus, dass sich der Genpool ab dem 6. Jahrhundert durch die Migration der Slawen teils stark verschoben hat – und das ohne große Eroberungszüge, wie sie etwa von Germanen oder Hunnen beschrieben wurden. Diese spektakulären Kriege und Heldentaten, die Entstehung und den Untergang von großen Reichen fanden die damaligen Geschichtsschreiber interessanter. Anders agierten die Slawen: Zwar plünderten sie gelegentlich in römischen Provinzen, zogen sich dann aber wieder zurück. Pohl sagt zusammenfassend: "Sie eroberten zunächst keine Gebiete, forderten keine Tribute, gründeten keine Reiche und beherrschten niemanden."
Dennoch zeigten die Analysen von Gräbern in Sachsen-Anhalt, Polen und Tschechien, dass im untersuchten Zeitraum über 80 Prozent der Bevölkerung von Zugewanderten aus Osteuropa abstammten. Wie war diese unauffällige Migration vonstattengegangen, und was geschah mit den Menschen, die zuvor dort gelebt hatten?
Dazu muss man wissen, dass es vom 4. bis 6. Jahrhundert quasi eine ständige Bewegung germanischer Völker aus Ost- und Mitteleuropa nach Süden und Westen gab. "Dabei spielten möglicherweise Pestepidemien und eine Verschlechterung des Klimas eine Rolle", erklärt der Historiker. "Die Pull-Faktoren waren meiner Meinung nach aber stärker – etwa die Aussicht, als professioneller Krieger eine gesellschaftliche Stellung zu bekommen, in der man keine bäuerlichen Tätigkeiten verrichten muss."

Das sorgte für einen ständigen Zuzug in Gegenden, wo das römische System noch funktionierte. "Der Abzug aus Osteuropa fiel radikaler aus, als wir uns das vorgestellt haben", beschreibt Pohl die erstaunlichen Ergebnisse der Genomanalysen. "Die meisten Fachleute dachten, dass in vielen Gegenden etliche Leute zurückblieben, die dann 'slawisiert' wurden." Der hohe Anteil an Zugezogenen zeichnet jedoch ein anderes Bild, das ohne die Genetik nicht hätte entdeckt werden können.
Den Zuzug könne man sich als Grassroots-Bewegung vorstellen, in der kleinere Gruppen oder kurzfristige Zusammenschlüsse neue Siedlungsgebiete erschlossen, "wo sie sich verstreut niederließen", sagt der Historiker. Es habe sich häufig um kleine, dörfliche Gemeinschaften gehandelt, die weitgehend autonom waren. Dies spricht gegen eine feste slawische Einheit mit systematischer Expansion und für "ein Mosaik verschiedener Gruppen, von denen sich jede auf ihre eigene Weise anpasste und integrierte – was darauf hindeutet, dass es nie nur eine einzige 'slawische' Identität gab, sondern viele", sagt Leitautorin Hofmanová.
Die einfachen und flexiblen Strukturen der Slawen kann man sogar wie Pohl als Gegenmodell zum straff durchorganisierten Römischen Reich sehen – und als pragmatische Alternative zu kriegerischen Führungsschichten bei Hunnen, Goten oder Franken. Das war freilich alles andere als ein demokratischer Wahlkampf um das beste Lebensmodell. "Aber die zahlreichen Bewohner römischer Provinzen auf dem Balkan waren nicht immer bereit, die römische Ordnung mit allen Mitteln zu verteidigen und nach Kämpfen in zerstörte Städte zurückzukehren, um alles wieder aufzubauen", sagt Pohl.

Während die meisten abwanderten, hätten sich einige offenbar für ein unauffälliges Leben als Bauern oder Hirten entschieden. Denn das römische Gesellschaftsmodell mit hohen Steuern und einer gewissen Komplexität wurde vielerorts nicht weitergetragen. Ersetzt wurde es durch slawische Gemeinschaften, die zunächst wenig von der antiken Kultur übernahmen.
Die karge Lebensweise der frühen Slawen ist besonders interessant, weil im Gegensatz dazu in den meisten europäischen Kulturen schon in der prähistorischen Zeit Gräber mit Statussymbolen und verarbeiteten Edelmetallen vorkommen. Die slawische Lebensweise änderte sich in dieser Hinsicht erst später, "als sich die slawischen Gesellschaften differenzierten und sich im Lauf der Generationen regionale Gruppenidentitäten festigten", sagt der Mittelalterexperte. Wie die Situation damals im heutigen Österreich aussah und welche Gruppen sich hier genetisch vermischten, soll in einer Folgestudie genauer erforscht werden. Die jetzigen Erkenntnisse liefern jedenfalls einen Einblick in eine Zeit und eine Gruppe, die ohne moderne archäogenetische Methoden noch mysteriöser geblieben wäre und die Geschichte Europas biologisch, kulturell und sprachlich wesentlich beeinflusste.
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