
Bernsteinfarbene Sinnlichkeit
Ein jugendlich-graziler Gollum vor dem Sündenfall – so sitzt er da: mit hageren Gliedern, halb geschlossenen Glupschaugen, konzentriert und fast versunken nach vorn gebeugt hin zu dem Lamm, dem er eine Handvoll Gras verfüttert. Aber das Licht! Von schräg oben fällt, nein: fließt es auf den Adoleszenten herab, taucht seinen bis auf die Lenden unverhüllten Körper in ein honigfarbenes Geheimnis: Die dem Betrachter zugewandte Schulter stark und doch matt beleuchtet, Vorderarme sowie rechtes Knie im Chiaroscuro modelliert, das lange, glatte Haar durch Kupferglanz geadelt. Dieses Licht skulptiert und verwischt, zeigt und verhehlt; es destilliert aus der begrenzten Palette zwischen Umbra und Ocker eine ungesehene Stimmung lautloser Besinnlichkeit. Zeit und Leben scheinen hier zu Bernstein zu erstarren.
Wo sind wir in diesem Gemälde, das laut Titel Johannes den Täufer in der Wüste zeigt? Von Ödnis ist nichts zu sehen – oder eher: Das Nichts, ein tiefbraunes Dunkel, das nicht kalt bedroht, sondern warm umhüllt, ist die Ödnis. Wann genau wurde das Tableau gemalt, wo verbrachte es die dreieinhalb Jahrhunderte, bis es 1994 von privater Hand verkauft und – dank dem Louvre und Frankreichs Nationalmuseen – dem Museum im moselländischen Städtchen Vic-sur-Seille anvertraut wurde? Wir wissen es nicht. Der Autor des Gemäldes, das berühmteste Kind von Vic-sur-Seille, bildet selbst ein Geheimnis: Georges de La Tour (1593 bis 1652) ist wie Caravaggio und Vermeer einer der großen Wiederentdeckten der Kunstgeschichte.
Wir besitzen zu seinem (Familien-)Leben Dokumente, betreffend Hochzeiten und Taufen, Kinderbetreuung und Lehrverträge, Verkäufe von Getreide und von Besitzungen, verstreut über viele Jahrzehnte. Wir wissen, dass er als Untertan des lothringischen Herzogs auch dem französischen König und dessen Hof nahestand, selbst und gerade, nachdem die Franzosen 1638 seinen damaligen Wohnort Lunéville niedergebrannt hatten: Paris bot schlicht mehr Absatzmöglichkeiten als Nancy. Endlich ist bezeugt, dass der Maler die Gräuel des Dreißigjährigen Kriegs – Hunger, Plünderungen, Pest – glimpflicher überstand als die meisten seiner Landsleute, dass er vier Jahre nach dem Westfälischen Frieden aber, zusammen mit seiner Frau und zwei Dienern, durch eine Epidemie dahingerafft wurde. Aber wir besitzen weder Briefe noch Tagebücher, ja nicht einmal ein Porträt. Wo und durch wen wurde er ausgebildet? Lernte er die Kunst Caravaggios, durch die er klar beeinflusst ist, an der Quelle kennen, in Rom, oder über lothringische und Pariser Sammlungen sowie die Saint-Germain-Messe im gleichnamigen Viertel von Frankreichs Kapitale? Und wie steht es mit dem Einfluss flämischer und niederländischer Künstler, namentlich solcher aus Utrecht?

La Tour wurde 1915 durch den deutschen Kunsthistoriker Hermann Voss wiederentdeckt (der sich später schwer mit dem NS-Regime kompromittierte). Doch erst eine große Pariser Werkschau 1972 verankerte den einzigen Lothringer unter den „peintres ordinaires“ des französischen Königs endgültig als Fixstern am Kunsthimmel. Im Vergleich zur letzten umfassenden Retrospektive im Grand Palais 1997 zeigt die jetzige im Jacquemart-André bloß halb so viele Gemälde. Doch unter den knapp dreißig ausgestellten Originalbildern und Kopien finden sich auch vier, die erst in den letzten drei Jahrzehnten wiederaufgetaucht beziehungsweise zugeschrieben worden sind – zwei davon sogar erst seit 2022. Die Forschung zu La Tour befindet sich in stetem Fluss.
So wird die einst gängige Zweiteilung des Œuvres in eine frühe Phase mit Tag- und eine späte mit Nachtbildern seit geraumer Zeit infrage gestellt. Zwar malte La Tour nach 1642 wohl nur noch Nachtstücke (aber was wissen wir schon? Mehr als neun Zehntel des Gesamtwerks sind verloren, so wird vermutet). Doch könnte zumindest „Das ausgezahlte Geld“, eine Leihgabe aus dem ukrainischen Lemberg, in kühner Sicht von schräg oben auf sechs Männer um einen Tisch, auf dem im Kunstlicht einer Kerze Münzhäufchen den Besitzer wechseln, bereits im dritten Lebensjahrzehnt gemalt worden sein.

So oder so bilden Szenen im Schein brennender Kerzen und Öllampen, rot glühender Kohlenbecken oder glimmender Holzstücke das Markenzeichen La Tours. Keine wohlfeile Verkaufsstrategie, sondern Ausdruck eines Hangs zur Vertiefung, in jeder Hinsicht. Genreszenen ohne alles Genrehafte, oftmals doppelbödig: halb nackte Zofe beim Entlausen oder Allegorie der verlorenen Tugend? Neugeborenes mit Mutter oder Jesuskind mit Maria? Manchmal zeigt La Tour auch ganz profan einen Jüngling oder ein Mädchen, die auf eine leuchtende Feuerquelle blasen, ohne religiösen Subtext. Doch selbst da bannen Schlichtheit und Spiritualität, Entäußerung und eine quasi meditative Versenkung in die Welt. Vor allem jedoch: Völlige Stille und Bewegungslosigkeit bei zunehmender Verbitterung ob der Tragik des Geworfenseins hienieden. So der fremde, verstörende „Hiob“: ein kantiges, abgezehrtes Männchen, auf das eine riesige, rundliche Masse in Rot hinabschielt – seine Frau. Das Gesicht des Geprüften zerfressen Schatten mehr noch als Geschwüre; seine Hände gleichen öligen, halbdurchsichtigen Klumpen; der zahnlose Mund verzieht sich zu einer Klage, der zur Lautwerdung die Kraft fehlt.
In La Tours Bildern aus der früheren Schaffensphase zeitigt das Tageslicht dagegen einen Naturalismus, der den Spezialisten Jacques Thuillier in seiner maßstabsetzenden Monographie von 1992 mehr an Dürer und Grünewald gemahnte denn an Caravaggio. Falten, Furchen, verdreckte Fingernägel – der Maler bildet den (oft betagten) Menschen in seiner kruden Kreatürlichkeit ab, doch ohne das Karikaturartige, das niederländischen Tronies eignen kann (der kunsthistorische Begriff bezeichnet Charakterköpfe). Auch hier: ein scharfer, aber nicht schneidender Blick, der Verzicht auf alles Anekdotische, eine Gravitas selbst bei „plebejischen“ Sujets wie „Leiermann“ oder „Erbsenesser“.

Im Bereich der Genreszenen ist die Ausstellung eher schwach bestückt. Man misst hier namentlich die beiden „Falschspieler“ und die „Wahrsagerin“ mit ihrem faszinierenden Beziehungsnetz aus sprechenden Blicken und verschwiegenen Worten. Dafür punktet die Schau mit einer Vielzahl von Heiligen, die der Künstler fast stets über der Gürtellinie und aus leicht erhöhter Warte malte. Komplexe späte Kompositionen mit zwei oder drei Figuren wie „Franziskus in Ekstase“, „Sebastian, durch Irene gepflegt“ und „Die Entdeckung des Leichnams von Alexius von Edessa“ sind nur noch in Kopien überliefert. Unter den Originalen sticht der „Heilige Thomas“ heraus: Das realistische Bildnis eines ramponierten Teufelskerls mit Glatze und Altersfurchen, verklärt durch eine quasi-vermeersche Farbkombination von Zitronengelb und Schieferblau. Potenziert wird die Zweiteilung des Tableaus nicht nur durch diese Bichromie und durch eine Vertikale in der Bildmitte, sondern auch durch die Verteilung von Licht und Schatten rechts respektive links dieser zentralen Trennlinie. Auch in seinen Tagbildern studierte La Tour, wie Jacques Thuillier schrieb, das Licht für sich selbst – als Ziel, vollgültigen Gegenstand, ja Akteur des Geschehens mehr denn als bloßes Mittel zum Zweck.
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