
aus spektrum.de, 27. 6. 2025 Archäologen entdeckten die Frauenfigur, die hier in drei An-sichten zu sehen ist, in Çatalhöyük. Dieser Fundplatz liegt gut 300 Kilometer südlich von Ankara in der Türkei. Rund 8000 Jahre dürfte die Kalksteinfigur alt sein, wen sie aber darstellen soll, ist unklar. zu öffentliche Angelegenheiten
Steinzeit in Anatolien: In Çatalhöyük waren die Frauen Chef
Frauenfiguren
aus der Jungsteinzeit galten lange als Hinweis auf eine Muttergottheit,
weniger als Beleg für ein Matriarchat. Neue Genanalysen könnten jetzt
das Gegenteil nahelegen.
von Karin Schlott
Was
nur sahen die Menschen in den üppigen, geradezu adipösen, nackten
Frauenkörpern, die sie vor etwa 8000 Jahren in Figurinen abbildeten?
Solche »Matronenbilder« kamen zum Beispiel in der jungsteinzeitlichen
Siedlung von Çatalhöyük im Süden der heutigen Türkei zum Vorschein.
Archäologen deuten sie meist als Bildnisse einer Mutter- oder
Fruchtbarkeitsgöttin. Sie könnten demnach auch Schwangere wiedergeben.
Oder sind es vielleicht Darstellungen von Frauen, die in den frühesten
Bauernkulturen eine gewisse Macht ausübten? Eine Genstudie, die nun im Fachblatt »Science« erschienen ist, stärkt letztere These – dass Frauen an der Spitze der Haushalte und womöglich der Gemeinschaft von Çatalhöyük standen.
Ein
internationales Team um Eren Yüncü und Mehmet Somel von der Middle East
Technical University in Ankara hat hunderte menschliche Überreste aus
Çatalhöyük genetisch untersucht. Die Toten waren vor mehr als 9000 bis
8000 Jahren, wie damals üblich, unter den Fußböden der Lehmziegelhäuser
bestattet worden. Am Ende konnten die Fachleute Erbgutdaten von
131 Individuen gewinnen sowie einen kleinen Teil davon aus früheren
Studien zusammentragen. Zudem glichen sie ihre Ergebnisse mit dem
archäologischen Fundkontext ab: Welche Beigaben hatten diese Toten
erhalten, die sich auf 35 Häuser in Çatalhöyük verteilt fanden?
Wie
sich im Ergebnis zeigte, waren die weiblichen Toten häufiger
miteinander verwandt als die männlichen. In den Gräbern lagen demnach
vor allem mütterlicherseits Verwandte. Ein seltenes Phänomen in
vorgeschichtlichen Epochen, für die viel häufiger patrilineare Gesellschaften belegt sind als matrilineare.
In Çatalhöyük blieben aber offenbar die Frauen an den Haushalt
gebunden, nicht die Männer. Das weibliche Geschlecht wurde außerdem
reicher fürs Jenseits beschenkt: In den Gräbern waren die Mädchen im
Durchschnitt mit fünf Mal mehr Beigaben ausgestattet als die männlichen
Kinder. Generell waren aber ungefähr ebenso viele Tote weiblichen wie
männlichen Geschlechts.
Im Haus leben und darunter begraben sein
Die
Verstorbenen entstammten nicht nur der mütterlichen Linie, sie waren
auch eng miteinander verwandt, waren Geschwister, Tanten und Nichten,
Cousin und Cousine oder Mutter und Kind. Wie Isotopenanalysen an den
Überresten belegten, hatten sich diese Menschen ähnlich ernährt. Sehr
wahrscheinlich lebten sie also auch in einem gemeinsamen Haushalt. Dass
die Lebenden die Angehörigen der Kern- und Großfamilie unter ihren
Fußböden beisetzten, änderte sich allerdings im Lauf der Jahrhunderte.
Grab unter dem Fußboden | In einem Haus der jungsteinzeitlichen
Siedlung waren ein Kleinkind und eine erwachsene Frau beigesetzt worden,
deren Überreste bei Ausgrabungen zum Vorschein kamen.
Waren
zu Anfang, ab 7100 v. Chr., zwei Drittel der Toten genetische
Abkömmlinge, bettete man ab 6700 v. Chr. immer weniger eng Verwandte in
die Erde, vor allem bei Kindern und Jugendlichen. Dennoch ergaben auch
hier Isotopenanalysen: All diese Menschen hatten einen ähnlichen
Speiseplan. Offensichtlich, so schreiben Yüncü, Somel und ihre Kollegen,
hatte sich das Zusammenleben in den Häusern grundlegend geändert.
Vielleicht lebten Gemeinschaften von nicht verwandten Müttern mit ihrem
Nachwuchs in einem Haushalt zusammen. Bereits zuvor haben Fachleute
festgestellt, dass man in Çatalhöyük einst Adoptiv- oder Pflegekinder in die Haushalte aufgenommen hat.
Wer
einem Haushalt vorstand, führte aber nicht unbedingt die ganze
Gemeinschaft an. Ob die gesamte Siedlung von Çatalhöyük in den Händen
weiblicher Führungskräfte lag, sehen die Studienautoren um Yüncü und
Somel noch nicht als erwiesen an. Der Archäologe Benjamin Arbuckle von
der University of North Carolina at Chapel Hill fordert hingegen in einem Kommentar zur »Science«-Studie eine klare Interpretation des Befunds.
»Wären die Geschlechterverhältnisse ... umgekehrt, würde man
wahrscheinlich, ohne zu zögern, zu dem Schluss kommen, dass
patriarchalische Machtstrukturen im Spiel waren.«
Wer
an der Spitze von Çatalhöyük stand und ob diese Position überhaupt
vergeben war, ist unklar. Keines der Häuser, die Wand an Wand errichtet
wurden, sticht in Größe und Ausstattung hervor. Demnach scheint es in
der frühbäuerlichen Siedlung weder Tempel noch Paläste gegeben zu
haben – und gemäß den meisten Fachleuten folglich auch keine Anführer
oder eine Aristokratie. Ob diese Lehrmeinung weiter Bestand hat, wird
sich zeigen. Laut Arbuckle müssten sich die Forscherinnen und Forscher
aber zunächst von alten Gewissheiten verabschieden. Denn viele
Wissenschaftler hätten Schwierigkeiten damit, »sich eine Welt
vorzustellen, die durch eine beträchtliche weibliche Macht
gekennzeichnet ist, obwohl es zahlreiche archäologische, historische und
ethnografische Beweise dafür gibt, dass matriarchalische Machtbereiche
weit verbreitet waren und sind«.
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