aus welt.de, 11. 11. 2014 zu öffentliche Angelegenheiten
Sehr geehrter Herr Bundespräsident, meine Damen und Herren – vor allem aber hochverehrte polnische Gäste, darunter auch Protagonisten der Solidarność-Revolution und der Mit-Initiator des Streiks auf der Danziger Werft: Ohne Ihren Mut hätte es überhaupt kein „1989“ gegeben. Da Sie bei dem heute anschließenden, ausschließlich deutschen Panel anscheinend nicht dazu geladen sind, deshalb von hier aus ein ganz herzliches Danke, Dziekuje bardzo!
35 Jahre Friedliche Revolution und – eine der Erinnerungs-Assoziationen – jener treffende Satz von Wolf Biermann bei seiner Rückkehr nach der Ausbürgerung auf dem Leipziger Konzert im Dezember 1989: „Ach, wenige nur waren wir – und viele sind übrig geblieben.“
Millionen von DDR-Bürgern waren jedenfalls damals nicht auf der Straße gewesen, sondern hatten quasi hinter den Wohnzimmergardinen abgewartet – was im Übrigen kein Werturteil ist, sondern lediglich ein quasi nachgetragener Fakten-Check, der so manch fortwirkende Mentalitäten erklärt.
Wenn es heute – und wichtiger denn je – eine ostdeutsche Zivilgesellschaft gibt, dann aber vor allem Dank der ungeheuer mutigen Demonstranten vom Herbst 1989, ihrer Kinder und inzwischen oft sogar Enkel, in den großen und mittleren Städten Ostdeutschlands. (Von der fortgesetzten Einsamkeit und Isolation dieser emanzipatorischen „89er“ und ihrer Erben in den zahllosen kleineren Orten, mitunter auch im Bekannten- und Familienkreis, wäre indessen ebenfalls zu sprechen und zu schreiben.)
Wo 1989 keine Zäsur war
Vielleicht werden sich jetzt manche fragen, ob ausgerechnet zum 35. Jahrestag einer friedlichen und erfolgreichen Revolution ein solcher Tenor angemessen sei. Gegenfrage: Wäre es etwa „angemessen“, die Tatsache zu beschweigen, dass bei den letzten Landtagswahlen in ostdeutschen Ländern zwei illiberale Parteien Erdrutschsiege einfahren konnten, die eine rechtsextrem und beide offen Putin-affin und infamste Kreml-Propaganda verbreitend, was jedoch zumindest im Fall der autoritären Wagenknecht-Sekte die beiden großen demokratischen Parteien bei ihren diversen Verhandlungen nicht sonderlich zu stören scheint? „Angemessen“, sich einem Nachdenken über die Wurzeln von all dem zu verweigern, obwohl „1989“ doch ganz offensichtlich nicht in jedem Fall jene befreiende Zäsur war, wie es gesundbeterisch so lange behauptet wurde?
Und nein, solch ein Sondieren ist keine selbstreferenzielle Diskurskritik, sondern führt mitten hinein in die Gegenwart. Weshalb ist wohl, sowohl nach repräsentativen Umfragen wie auch nach der Stimmung auf der Straße, in den Büros und Betrieben und an den abendlichen Küchentischen, die überlebensnotwendige Unterstützung der mörderisch angegriffenen Ukraine im Osten signifikant weit weniger populär als im Westteil des Landes?
Was dort immer wieder zu hören ist, jenseits einer abstrakten und oft nur vorgeschobenen Sorge um den „Frieden“: „Der Putin, der Putin, immer nur der Putin – und was ist mit uns?“ Aus dieser absurd verengten Perspektive heraus scheint selbst der Angriffskrieg auf die Ukraine zuvörderst ein erneuter westlicher Vorwand, um sich nicht um die Belange Ostdeutscher zu kümmern. Wie schon bereits zuvor auch die Debatte um den Klimawandel, die Flüchtlingskrise von 2015, der alte und der neue Antisemitismus oder Anfang der Neunzigerjahre die Kriege im ehemaligen Jugoslawien von vielen lediglich als Zumutung erfahren wurden – wohlgemerkt vor allem für sie selbst – und als narzisstische Kränkung, die sich dann quengelnd zu artikulieren versuchte: „Und wir, wer kümmert sich denn um uns?“
„So reden Kinder von ihren Eltern“
Bereits im Jahr 1970 hatte der Schriftsteller Uwe Johnson, der 1959 aus der DDR geflohen war, diese Mentalität beschrieben: „So reden Kinder von ihren Eltern. So reden Erwachsene von jemand, der einst an ihnen Vaterstelle vertrat.“ Doch böte die ehrliche Anerkenntnis solch fortdauernder Defekte und „Nach-oben-Delegierungen“ die Chance für ein wirkliches Freiwerden, für das frohgemute Entdecken eigener Handlungsmöglichkeiten. Und – ja, auch das – für jene tätige Solidarität, wie sie übrigens auch gar nicht so wenige Ostdeutsche jeglichen Alters bereits üben, nicht zufällig häufig mit dem Verweis auf „‘89“.
Da sich ja heute in der Ukraine entscheidet, ob damals mit jenem „‘89“ wirklich eine, wie das Modewort heißt, nachhaltige Freiheitsgeschichte begann, oder ob es sich lediglich um eine Art weltgeschichtliche Atempause handelte. Und doch scheint, als fehle es allzu vielen sowohl in Ost- wie in Westdeutschland an der Einsicht und am Willen, diese Tatsache anzuerkennen – und entsprechend zu handeln. Aber war es denn vorher anders gewesen – in den Achtzigerjahren und mit Blick auf Polen, wo tatsächlich nahezu die gesamte Bevölkerung mit ungeheurem Mut aufgestanden war gegen die Diktatur?
Denn so inspirierend der polnische Widerstand auch für die DDR-Bürgerrechtler gewesen war – in weiten Teilen der Bevölkerung war ganz anderes zu vernehmen. Weshalb, so damals die keineswegs nur halblaute Rede, gingen „die Polacken“ nicht einfach arbeiten, anstatt zu streiken und dauernd Freiheit zu fordern und „uns“ zu nerven? In den staatlichen Medien klang’s nur ein wenig verklausulierter.
Seit längerer Zeit muss ich immer wieder daran denken, an diese ganz frühe Erfahrung verweigerter Solidarität. Wiederholt sie sich heute nicht in jenen eiskalten Forderungen, mit denen die überfallene Ukraine gedrängt wird, endlich ihren Widerstand einzustellen und sich den russischen Besatzern kampflos auszuliefern – obwohl doch 1989 in Ostdeutschland die Diktatur schließlich implodiert war und der Rahmen nun ein gänzlich anderer ist?
Doch weshalb plötzlich auch diese Inflationierung des Friedensbegriffs, obwohl die übergroße Mehrheit der in der DDR aufgewachsenen Jugendlichen und Männer einst den Kriegsdienst ebenso wenig verweigert hatte wie zuvor die Teilnahme am Wehrkundeunterricht in der Schule, die vormilitärische Lager-Ausbildung in der Lehrzeit und späterhin die Übungen der sogenannten „Betriebskampfgruppen“? Wirkt hier womöglich noch immer jene Regime-Propaganda nach, die „Frieden“ nur dann gewährleistet sah, wenn es den Machtinteressen des Kreml diente, während das Verteidigungsbündnis der Nato als „imperialistischer Kriegstreiber“ verleumdet wurde?
Jener pervertierter Friedensbegriff
Fehl jedoch ginge, wer das als „typisch Ost“ missverstehen und damit auslagern würde. Denn es war und ist eine gleichsam doppeldeutsche Geschichte, und was auch im Westen an Widersinn erzählt wurde (und wird), spiegelte seit jeher in den Osten zurück. So bezeichnete etwa im Jahr 1982 Egon Bahr in der Zeitschrift „Vorwärts“ Solidarność gar als „Gefahr für den Weltfrieden“. Eine wahnwitzige Infamie, welcher der Dichter Peter Rühmkorf, bis heute weithin verehrt als subversiver Feingeist, auf diese Weise sekundierte – in der schroffen Diktion der Nazi-Vätergeneration: „Mehr als Arbeit und Disziplin verschreiben kann der polnischen Nation ohnehin kein Mensch auf der Welt – doch wer bringt neben der nötigen Courage auch noch den Mut auf, sie tatsächlich zu verordnen?“
Aber was hat dies mit dem 35. Jubiläum der Friedlichen Revolution in der DDR zu tun? Gewiss mehr als uns lieb sein kann. Denn jener pervertierte Friedensbegriff, der gänzlich ohne die Frage nach Dauer, Stabilität und Gerechtigkeit auskommt, saust ja inzwischen wie ein Weberschiffchen zwischen Ost und West hin und her. Und Hand aufs laue Herz: Ist tatsächlich im kollektiven Gedächtnis anerkannt, dass der erste Stein aus der Berliner Mauer einst auf der Lenin-Werft in Danzig geschlagen wurde? Anerkannt, dass sich die viel gelobte Entspannungspolitik auf steigende Verteidigungsausgaben im westdeutschen BIP stützen konnte – und natürlich auf den Schutzschirm der Nato und auf eine amerikanische Politik, die der Sowjetunion eindrücklich die Grenzen ihrer Expansionsmacht aufzeigte?
Ich glaube, es sagt eine Menge über hiesige Geschichtsvergessenheit – abermals in Ost und West – all dies geflissentlich zu verdrängen und stattdessen weiterhin vor allem in nostalgischer Erinnerung an den „guten Zaren Gorbi“ zu schwelgen, unter dem der Kreml damals nicht Panzer auffahren und nicht auf Zivilisten schießen ließ. (Das heißt, am „Blutsonntag von Vilnius“ vom 13. Januar 1991 tat er es dann doch – zu einer Zeit, als die Wiedervereinigung längst reibungslos vonstattengegangen war und die nunmehr Gesamtdeutschen ihrem Lieblingshobby frönen konnten – sich lediglich mit sich selbst zu beschäftigen, vorzugsweise grummelnd, über was auch immer.)
„Für unsere und eure Freiheit“ hieß seit dem 19. Jahrhundert der polnische Aufruf, und er wurde von den Bürgerrechtlern in der DDR verstanden und natürlich vor allem von den Menschen in Osteuropa, 1989 und auch später, 2004 und 2013/14 bei den demokratischen Revolutionen in Kyjiw, mit den Europa-Fahnen in den Händen der Demonstranten. Währenddessen scheint es, dass die als Geo- und Realpolitik kaschierte Verachtung, die einst aus den Worten Egon Bahrs sprach, noch heute fortwirkt.
Schon wird Gerhard Schröder, nach wie vor reuelos großsprecherischer Duzfreund des Massenmörders im Kreml, vom neuen Generalsekretär der Kanzlerpartei garantiert, dass selbst für ihn weiterhin Platz sei in der deutschen Sozialdemokratie. Dies übrigens zum gleichen Entsetzen der Osteuropäer und gestandener Sozialdemokraten, mit dem sie 2016 aus dem Mund des damaligen Außenministers hören mussten, die Nato-Manöver an der Ostflanke, um die dortigen Demokratien zu schützen, seien „Säbelrasseln und Kriegsgeheul“. Säbelrasseln und Kriegsgeheul?
„Die Wahrheit ist milde“
Sehr geehrter Herr Bundespräsident und bei allem Respekt: Auch das Nord-Stream-Projekt, an dem SPD und CDU so elend lange gegen alle fundierte Kritik festhielten, war nur insofern „eine Brücke“ – Ihre Worte noch vom Frühjahr 2022 –, als dass es Putin in seinen Aggressionen zusätzlich ermutigte, und zwar in seinem Kalkül, dass die Deutschen, ansonsten Weltmeister im Moralisieren, das lukrative Geschäft schon nicht sausen lassen würden, Ukraine hin oder her. Und wiederum war mit beträchtlicher Arroganz überhört worden, wie hellsichtig in Osteuropa gewarnt wurde. Und es ist auch das bedrohte Osteuropa, das die Folgen zu tragen hat – in der nächsten Zeit überdies womöglich sogar ohne amerikanischen Beistand.
Für unsere und eure Freiheit: Es ist die gepeinigte Zivilbevölkerung in der Ukraine ebenso wie die Soldaten und Soldatinnen der ukrainischen Armee, die mit ihrem Widerstand auch unsere seit 1989 gesamtdeutsch existierende Freiheit zu schützen versuchen – auch jetzt, in dieser Minute und unter unvorstellbaren Opfern. Und nein, jene Militär- und Osteuropawissenschaftler und die oftmals in ihren eigenen Parteien so sträflich isolierten Politiker in Deutschland, die sich Tag für Tag Gedanken darüber machen, wie das überfallene Land angemessener als bisher unterstützt werden kann – diese engagierten Männer und Frauen verdienen es nicht, als „Kaliber-Experten“ denunziert zu werden, suggerierend, es handle sich bei ihnen um „ausgelassene“ schießwütige Querulanten.
Nennen wir es ruhig beim Namen: Das alles sind mehr als verbale Ausrutscher, die dann pflichtschuldig zurückgenommen werden. Da ja hier, von quasi höchster Stelle, fatale Denkmuster sichtbar werden und Behauptungen aufgestellt werden, die danach sogleich in die Öffentlichkeit diffundieren und dort zusätzlich Konfusion erzeugen. Gerade in Zeiten verstärkter Krisen aber ist vor allem gedankliche Klarheit ein hoher Wert.
Wenn, erlauben Sie mir zum Abschluss diese Überlegung, gerade jetzt 35 Jahre nach dem Mauerfall häufig und oft zu Recht von diesem oder jenem „Defizit Ost“ die Rede ist – wie wäre es dann gleichzeitig mit einer Debatte zu jenem Erkenntnis-, Handlungs- und Ehrlichkeitsdefizit West, das es doch ebenso einzugestehen und zu überwinden gelte? Und zwar nicht als rein rhetorische Bußübung, sondern als notwendiger Abschied von gesamtdeutschen Lebenslügen und Verdrängungen, denn diese kosten anderswo, ganz konkret und fürchterlich, Menschenleben.
In dem eingangs erwähnten 1989er Leipziger Konzert von Wolf Biermann sprach auch der Schriftsteller Jürgen Fuchs, der nach Stasihaft und Ausbürgerung nun ebenfalls zum ersten Mal wieder in den Osten kommen konnte. Und zitierte dabei die Worte eines russischen Dissidenten, die noch heute ungebrochen aktuell sind: „Die Wahrheit ist milde; sie ist radikal, aber auch fähig zum Verzeihen. Gerechtigkeit und Verzeihen sind allerdings nicht möglich vor und außerhalb der Wahrheit.“
Meine Damen und Herren, obwohl vielleicht einige von Ihnen eine etwas andere Rede erhofft oder erwartet hätten – ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben.
Marko Martin, geboren 1970 im sächsischen Burgstädt, ist Schriftsteller („Der Prinz von Berlin“, „Sommer 1990“) und schreibt regelmäßig auch für WELT. Die dokumentierte Rede hielt er am 7. November 2024 auf der Festveranstaltung zum 35. Jahrestag des Mauerfalls in Schloss Bellevue.
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