aus welt.de, 9. 11. 2024 zu öffentliche Angelegenheiten
Die Frau mit den langen roten Rastazöpfen meldet sich als Erste, um dem Autor eine Frage zu stellen. Sie eilt aus dem Publikum nach vorn auf die Bühne des Volkstheaters Rostock, setzt sich auf einen Stuhl und sagt, dass sie aufgeregt sei. Gerade eben hat Ilko-Sascha Kowalczuk seinen Vortrag beendet, in dem er die wichtigsten Thesen aus seinem Buch „Freiheitsschock“ (C.H. Beck) zusammen-fasste: Die DDR war eine Diktatur, an der es nichts zu beschönigen oder gar zu verherrlichen gibt. Wer nicht an seinen Ketten gerasselt habe, die ihm die SED anlegte, könne dies vielleicht nicht nachvollziehen, es sei aber so gewesen. In der Bundesrepublik sei nicht alles gut, aber wir leben in einem Rechtsstaat. Ohne Freiheit gebe es keine offene Gesellschaft und keinen Frieden.
Der Historiker, geboren 1967 in Ost-Berlin, erwähnt, dass nach einer Umfrage aus dem Jahr 2023 etwa 40 Prozent der Ostdeutschen der Meinung sind, dass es so etwas wie „lebensunwertes Leben“ gebe – ein Begriff aus der Nazi-Zeit, mit dem die vermeintliche „Herrenrasse“ behinderten Menschen das Recht auf Leben absprach. Kowalczuk weiß, wovon er spricht. Er hatte selbst zwei schwer kranke Cousins, die im Rollstuhl saßen und früh starben. „Ständig kamen Sprüche wie: ,Euch hat der Führer vergessen‘, oder: ,Muss so etwas sein?‘“, beschreibt Kowalczuk den DDR-Alltag seiner Verwandten. Als sein Onkel mit seinen Söhnen im Rollstuhl einmal in den Westen fuhr, kam er weinend zurück. „Niemand habe dort gestarrt oder eine solche Bemerkung gemacht.“ Es ist ganz still im Saal.
Die Ostdeutschen aufrütteln
Das war zu erwarten: Wo Kowalczuk auftritt, gibt es keine Therapiestunde für verletzte Ost-Seelen oder Streicheleinheiten für DDR-Versteher. Der Autor nimmt die Zuhörer nicht an die Hand, weder im Buch noch bei Veranstaltungen. Er nimmt sie ernst und behandelt sie wie Erwachsene, die die Wahrheit vertragen müssen.
Der renommierte DDR-Experte, der jüngst eine zweibändige Ulbricht-Biografie veröffentlicht hat, legt mit seiner 220-seitigen Streitschrift Ende August einen Überraschungs-Bestseller hin. Nicht einmal der eigene Verlag hatte an den Erfolg geglaubt. Mittlerweile erscheint das Buch in der achten Auflage, beinahe die Hälfte der Exemplare ginge in den Westen, sagt der Autor. Offenbar suchen auch viele Menschen in den alten Bundesländern nach Antworten auf die Frage, warum der Osten so anders tickt. „Etwa die Hälfte der Ostdeutschen wählt Russland-affine, freiheitsfeindliche Parteien. Die Ursache dafür liegt aber nicht an den Folgen Wiedervereinigung, sondern an der jahrzehntelangen Gewöhnung an die Diktatur, die einem Sicherheit vorgaukelte“, sagt Kowalczuk. Die SED schläferte das politische Bewusstsein vieler ihrer Bürger regelrecht ein, samt dem Drang nach individueller Freiheit.
Es war nicht alles schlecht – oder?
Die Frau auf der Bühne sagt, dass sie selbst mit behinderten Menschen arbeiten würde. Die schonungslose Beschreibung der Szenen, die Kowalczuk auch Jahrzehnte später mit Wut in der Stimme vorträgt, scheint sie zu stören. Es habe damals spezielle Schulen für Körperbehinderte gegeben, sagt sie. Es sei doch nicht alles schlecht gewesen – oder jedenfalls nicht so schlecht. Oder? Und wie sähen denn die Zahlen für Westdeutschland aus?
Kowalczuk lehnt sich zurück. Er habe so etwas schon „millionenfach“ gehört, wie er später sagt: Die persönliche DDR-Erfahrung will nicht zu seinen wissenschaft-lichen Thesen passen, scheint sich der Einordnung in den Diktatur-Kontext, den der Historiker immer wieder herstellt, zu widersetzen. „Was auch immer der Einzelne in der DDR positiv wahrgenommen hat, funktionierte nur im Rahmen eines unfreiheitlichen und antidemokratischen Systems“, sagt Kowalczuk zur Frau aus dem Publikum. Die nickt nur. Der Wissenschaftler betont, dass es den behinderten Menschen in der DDR schlechter ging als in der Bundesrepublik, weil sie der SED beim Aufbau des Sozialismus im Weg standen: „Alte und Behinderte gehören zu den Gewinnern der Einheit.“
Die meisten der etwa 200 Zuschauer klatschen. Sie dürften mehrheitlich älter als 50 Jahre und im Osten groß geworden sein. Sie wissen also, wovon Kowalczuk spricht. Sie gehören zu denjenigen, die ihm zuhören – und viele werden ihm auch zustimmen. Mit „Freiheitsschock“ hat der Berliner ein Buch mit einem neuen Ton in die Ost-West-Debatte gebracht. Neben dem furiosen Plädoyer für die Freiheit ist es eine persönliche, bisweilen leidenschaftliche Abrechnung mit der DDR.
Es ist ein besonderer Abend: Die US-Wahl wirkt noch nach, da platzt mittendrin die Nachricht vom Ende der Ampel-Koalition hinein. Und der Jahrestag des Mauerfalls nähert sich. Damals sei Kowalczuks Leben förmlich „explodiert“, so befreiend habe er die Ereignisse erlebt. Für die meisten Ost-Bürger sei der 9. November 1989 aber nicht der entscheidende Tag der Wendezeit gewesen: „Das war für den Osten der 1. Juli 1990, als die D-Mark kam und mit ihr die Marktwirtschaft.“ Für die Freiheit kämpften nach seinen Worten einige „Revolutionäre“, die als erste im September 1989 Reformen wollten, als es noch gefährlich sein konnte. Für das Westgeld aber konnten sich auch die Massen begeistern. Die liefen Anfang 1990 mit Pro-Kohl-Transparenten über die Straßen, als bereits klar war, dass die DDR versinken würde.
Eine andere Interpretation der Nach-Wendezeit liefert etwa der Leipziger Germanist Dirk Oschmann, der in seinem Buch „Ostdeutschland: eine westdeutsche Erfindung“ (Ullstein) 2023 die neuen Bundesländer als bloßes Kolonialisierungsprojekt eines gierigen Westens zeichnete. In ihm kamen die Bewohner nur als Objekte bundesrepublikanischer Interessen vor, unfähig, sich gegen die angebliche Vereinnahmung zu wehren. Kowalczuk versteht sein Buch als eine Art Gegenmanifest zu Schriften wie diesen. So beschränkt, wie Oschmann sie beschreibt, seien seine Landsleute nicht. Es mangele vielmehr an der Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. „Niemand hat ihnen gesagt, dass sie nun für sich selbst sorgen müssen.“ Er habe selbst fünfmal mit Oschmann auf der Bühne diskutiert. Sein Gesichtsausdruck verrät, dass es nicht mehr so viele dieser Termine geben wird.
Der nächste Gast tritt auf die Bühne, ein Mann von etwa 40 Jahren, er konterkariert die Worte seiner Vorrednerin. „Die DDR war eine Diktatur, die Bundesrepublik ist ein Rechtsstaat, natürlich ist das die bessere Staatsform“, sagt er. Beim Wort „Rechtsstaat“ lachen vielleicht ein oder zwei Zuhörer, aber das wäre bei einem Auftritt in Bremen oder Wuppertal kaum anders.
Eigentlich breitet Kowalczuk weniger Thesen aus, als dass er das Grundwesen jeder demokratischen Gesellschaft und die ostdeutsche Nachwende-Gesellschaft beschreibt. Für seine Verve und seine Deutlichkeit aber zahlt er einen hohen Preis. „Ich erhalte jeden Tag Beleidigungen und Morddrohungen“, sagt er nach der Lesung. „Das ist nicht lustig.“
Auf Facebook teilte er vor ein paar Wochen einen anonymen Brief, der an seine Frau verschickt wurde. Darin fordert der Autor Kowalczuks Gattin in einem scheinbar fürsorglichen Ton auf, ihn daran zu hindern, weiter aufzutreten, da dies nicht „mehr ertragbar“ sei, weil er „psychisch schwer krank“ sei. Den Autoren ficht solcher Zynismus gar nicht mehr an, er nehme das achselzuckend zur Kenntnis, sagt er.
Solche Briefe aber zeigen, dass der Berliner bei vielen DDR-Verklärern die richtigen Knöpfe drückt. Kowalczuk schafft es, in die Köpfe der Ostdeutschen zu kommen und bricht dort Erklärungsmuster auf, mit denen die Menschen ihr Leben und Handeln – oder eben ihre Passivität – gerechtfertigt haben. In seinem Buch „Mein Name sei Gantenbein“ schrieb der Schriftsteller Max Frisch, dass sich jeder „früher oder später eine Geschichte erfindet, die er für sein Leben hält“. Kowalczuk zwingt zur Selbstreflexion über diese vielfach zitierten „DDR-Biografien“ – und wer mit dem Abstand von mehr als 30 Jahren über sich selbst Gericht hält, kommt womöglich zur Einsicht, dass die eigene Geschichte schmerzhafter oder ruhmloser verlief als man es sich einst zurechtgelegt hatte.
Es bleibt noch ein ruhiger Abend in Rostock, niemand schreit, niemand stört. Kowalczuk signiert Bücher, plaudert mit den Besuchern. Er selbst war als Junge linientreu und bewarb sich früh für eine Karriere bei der Nationalen Volksarmee (NVA). Als er diesen Wunsch als 15-Jähriger schon wieder ad acta legte, bekam er es mit der Staatsmacht zu tun. Wie er das heute sieht? „Mal ehrlich: Wirke ich wie einer, der Befehle entgegennimmt?“
JE
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