Daumier             aus Von der Künstlichkeit des Kindes uind der kindlichkeit der Kunst 
Wie  wir erwachsen wurden.
Erwachsenheit
 ist nicht die Reifeform des Menschen. Wie der Phänotyp ‚Erwach-sener’ 
entstand, das ist ziemlich genau dieselbe Geschichte, die Norbert Elias 
als den „Prozeß der Zivilisation“ beschrieben hat: die Ausbildung des 
bürgerlichen Menschen. Das feudale Mittelalter, das war, mit Egon 
Friedell zu reden, die Puber-tät, waren die „Flegeljahre“ der Europäer 
(und die griechische Antike war, nach Karl Marx, ihre Kindheit). Die 
Neuzeit und die Geldwirtschaft machten sie erwach-sen.
Die Zivilisierung der 
Gesellschaft ist die Rationalisierung ihrer Funktionen. Ratio-nalisierung
 ist Ökonomisierung. Rationalität selbst ist Ökonomie der Vorstellung: 
Einbildungskraft plus Berechnung. Denken, das dient; funktionales 
Denken: Rati-onalität ist der abstrakte Begriff von Arbeitsfähigkeit. Und
 von Arbeitsteilung. Was im Ganzen Teilung ist, bedeutet für den 
Einzelnen Spezialisierung. Erwachsen sein heißt einen Beruf haben. Und 
der Weg dorthin heißt: lernen.
Max Weber sprach von 
der Rationalisierung der modernen Welt als von einer Ent-zauberung. 
Bezaubernd war die Welt, solange sie wenigstens an ihrem äußersten Rand 
noch unbestimmt blieb. Zweckmäßige Bestimmtheit banalisiert sie zur 
bloßen Umwelt. Webers Begriff der Rationalisierung bezeichnet die 
durchgehenden Funkti-onalisierung der bürgerlichen Gesellschaft, wo jedes
 um eines andern willen da ist; die Zuordnung eines jeden Minus zu einem
 Plus, eines jeden Topfs zu seinem Dek-kel, jedes Gegenstands zu seinem 
Bedürfnis.
Ausgleich, Äquivalenz, 
Assimilation. Paradigma der bürgerlichen Welt ist der Saldo. Ist nicht 
aber Surplus der Sinn und Zweck kapitalistischen Wirtschaftens? Ach, 
kaum ist ein Überschuß erzielt, meldet sich auch schon das „neue 
Bedürfnis“: Ick bün all do! Der Erwachsene ist der rational handelnde, die Folgen erwägende Bür-ger: der Haushälter, homo oeconomicus.
 Ja, doch – er ist spezialisiert; auf die häus-liche Existenzweise. Er 
funktioniert, eingebunden in seine „zweite Natur“: sein selbstgemachtes 
Wirkungsgefüge (namens Wertgesetz). Er ist die Domestikations-form des 
Menschen. Seine „Verhausschweinung“, wie Konrad Lorenz das nannte.
Der rührende Rest
Nicht
 zum Spaß und nicht aus Stolz ist der Mensch zum Homo oeconomicus 
„er-wachsen“. Es war der Fluch des Fortschritts, der Entfaltung der 
materiellen Pro-duktivkräfte. Es war das immanente Gesetz der 
Arbeitsgesellschaft. Es war die Hürde, die erst einmal genommen sein 
wollte. Auf einmal verrät das Herder’sche Stufenmodell von der „ersten“ 
und der „zweiten Natur“ des Menschen seinen ganzen pädagogischen Sinn: 
Kindlichkeit wird bestimmt – als Unbestimmtheit; als 
Dysfunktionalität. Was unser ursprünglicher Gattungsstil war, wird 
gesetzt als Man-gel – an Zivilisation. An Erwachsenheit. An Beruf! Den 
Mangel zu beheben wird selbst zur bestimmten Tätigkeit: zu Arbeit. Die 
Arbeit der Kinder heißt „lernen“.
Die Kindlichkeit des 
Kindes wurde, ebensowenig wie das Kind selbst, nicht einfach 
unterdrückt. Nein, sie wurde sogar idealisiert und mystifiziert – und 
dabei entfrem-det und lahmgelegt. Was unbestimmt, nicht-rationell, nicht 
funktional und folgenlos war, wurde als noch-nicht-wirklich aus dem 
werktätigen Alltag ausgeschieden. Nach unten, ins Souterrain: die 
Kindheit, Caput mortuum einer zivilisierten Wildheit; Quell der 
Lebenskraft zwar, aber sentimentaler Schwachmacher. Asyl der 
Unzu-rechnungsfähigkeit und Insel der Seligen, je nachdem.
Und nach oben, in die 
gute Stube, den Salon, der nur des Sonntags aufgesperrt wird: die Kunst.
 In der Kunst erscheinen die Dinge, als hätten sie Wert und Sinn an sich
 selber, unbekümmert um die Folgen und gleichgültig gegen mein 
Bedürfnis. Schön ist, was zweckmäßig erscheint ohne Zweck, meint Kant. 
In der Kunst und in der Kindlichkeit des Kindes erscheint die 
gattungsmäßige Unbestimmtheit des Men-schen als ein Residuum; 
irreduzibel, aber im wirklichen Leben nicht zu gebrauchen. Geschätzt nur
 bei feierlichem Anlaß.
In der bürgerlichen 
Kultur ist das Verhältnis von Werktag und Sonntag verkehrt: Während in 
traditionalen Gesellschaften das werktätige Leben um seiner Feiertage 
willen dazusein scheint, ist in der Arbeitsgesellschaft der Sonntag für 
den Werktag da: als Pause. Doch gerechterweise sei hinzugefügt: Im 
Phänotyp des Unternehmers hat die bürgerliche Wirtschaftsweise die 
alltägliche Häuslichkeit um eine Dosis Künstlertum bereichert. 
Allerdings ist der Sachbearbeiter inzwischen typischer als der 
Unternehmer.
aus: Pädagogische Rundschau, Heft 5/ 54. Jg., Oktober 2000
  
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