Sonntag, 3. November 2024

Das Unglück der Erwachsenheit.

Daumier             aus Von der Künstlichkeit des Kindes uind der kindlichkeit der Kunst 

Wie  wir erwachsen wurden.

Erwachsenheit ist nicht die Reifeform des Menschen. Wie der Phänotyp ‚Erwach-sener’ entstand, das ist ziemlich genau dieselbe Geschichte, die Norbert Elias als den „Prozeß der Zivilisation“ beschrieben hat: die Ausbildung des bürgerlichen Menschen. Das feudale Mittelalter, das war, mit Egon Friedell zu reden, die Puber-tät, waren die „Flegeljahre“ der Europäer (und die griechische Antike war, nach Karl Marx, ihre Kindheit). Die Neuzeit und die Geldwirtschaft machten sie erwach-sen.

Die Zivilisierung der Gesellschaft ist die Rationalisierung ihrer Funktionen. Ratio-nalisierung ist Ökonomisierung. Rationalität selbst ist Ökonomie der Vorstellung: Einbildungskraft plus Berechnung. Denken, das dient; funktionales Denken: Rati-onalität ist der abstrakte Begriff von Arbeitsfähigkeit. Und von Arbeitsteilung. Was im Ganzen Teilung ist, bedeutet für den Einzelnen Spezialisierung. Erwachsen sein heißt einen Beruf haben. Und der Weg dorthin heißt: lernen.

Max Weber sprach von der Rationalisierung der modernen Welt als von einer Ent-zauberung. Bezaubernd war die Welt, solange sie wenigstens an ihrem äußersten Rand noch unbestimmt blieb. Zweckmäßige Bestimmtheit banalisiert sie zur bloßen Umwelt. Webers Begriff der Rationalisierung bezeichnet die durchgehenden Funkti-onalisierung der bürgerlichen Gesellschaft, wo jedes um eines andern willen da ist; die Zuordnung eines jeden Minus zu einem Plus, eines jeden Topfs zu seinem Dek-kel, jedes Gegenstands zu seinem Bedürfnis.

Ausgleich, Äquivalenz, Assimilation. Paradigma der bürgerlichen Welt ist der Saldo. Ist nicht aber Surplus der Sinn und Zweck kapitalistischen Wirtschaftens? Ach, kaum ist ein Überschuß erzielt, meldet sich auch schon das „neue Bedürfnis“: Ick bün all do! Der Erwachsene ist der rational handelnde, die Folgen erwägende Bür-ger: der Haushälter, homo oeconomicus. Ja, doch – er ist spezialisiert; auf die häus-liche Existenzweise. Er funktioniert, eingebunden in seine „zweite Natur“: sein selbstgemachtes Wirkungsgefüge (namens Wertgesetz). Er ist die Domestikations-form des Menschen. Seine „Verhausschweinung“, wie Konrad Lorenz das nannte.

Der rührende Rest

Nicht zum Spaß und nicht aus Stolz ist der Mensch zum Homo oeconomicus „er-wachsen“. Es war der Fluch des Fortschritts, der Entfaltung der materiellen Pro-duktivkräfte. Es war das immanente Gesetz der Arbeitsgesellschaft. Es war die Hürde, die erst einmal genommen sein wollte. Auf einmal verrät das Herder’sche Stufenmodell von der „ersten“ und der „zweiten Natur“ des Menschen seinen ganzen pädagogischen Sinn: Kindlichkeit wird bestimmt – als Unbestimmtheit; als Dysfunktionalität. Was unser ursprünglicher Gattungsstil war, wird gesetzt als Man-gel – an Zivilisation. An Erwachsenheit. An Beruf! Den Mangel zu beheben wird selbst zur bestimmten Tätigkeit: zu Arbeit. Die Arbeit der Kinder heißt „lernen“.

Die Kindlichkeit des Kindes wurde, ebensowenig wie das Kind selbst, nicht einfach unterdrückt. Nein, sie wurde sogar idealisiert und mystifiziert – und dabei entfrem-det und lahmgelegt. Was unbestimmt, nicht-rationell, nicht funktional und folgenlos war, wurde als noch-nicht-wirklich aus dem werktätigen Alltag ausgeschieden. Nach unten, ins Souterrain: die Kindheit, Caput mortuum einer zivilisierten Wildheit; Quell der Lebenskraft zwar, aber sentimentaler Schwachmacher. Asyl der Unzu-rechnungsfähigkeit und Insel der Seligen, je nachdem.

Und nach oben, in die gute Stube, den Salon, der nur des Sonntags aufgesperrt wird: die Kunst. In der Kunst erscheinen die Dinge, als hätten sie Wert und Sinn an sich selber, unbekümmert um die Folgen und gleichgültig gegen mein Bedürfnis. Schön ist, was zweckmäßig erscheint ohne Zweck, meint Kant. In der Kunst und in der Kindlichkeit des Kindes erscheint die gattungsmäßige Unbestimmtheit des Men-schen als ein Residuum; irreduzibel, aber im wirklichen Leben nicht zu gebrauchen. Geschätzt nur bei feierlichem Anlaß.

In der bürgerlichen Kultur ist das Verhältnis von Werktag und Sonntag verkehrt: Während in traditionalen Gesellschaften das werktätige Leben um seiner Feiertage willen dazusein scheint, ist in der Arbeitsgesellschaft der Sonntag für den Werktag da: als Pause. Doch gerechterweise sei hinzugefügt: Im Phänotyp des Unternehmers hat die bürgerliche Wirtschaftsweise die alltägliche Häuslichkeit um eine Dosis Künstlertum bereichert. Allerdings ist der Sachbearbeiter inzwischen typischer als der Unternehmer.

aus: Pädagogische Rundschau, Heft 5/ 54. Jg., Oktober 2000



 

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