Ramses II.
aus FAZ.NET, 9.11.2024 zu öffentliche Angelegenheiten
Ägypten hätte sich besser schlagen können
Der
perfekte Sturm: Eric Cline beurteilt verschiedene antike Kulturen
danach, ob und wie sie den Zusammenbruch der spätbronzezeitlichen
Staatenwelt überstanden.
von Ulf von Rauchhaupt
Anno
1207 vor Christus war im Land Hatti alles noch halbwegs in Ordnung. In
diesem Jahr bestieg mit Suppiluliuma II. in der Hauptstadt Hattussa ein
neuer Herrscher den Thron. Als Großkönig der Hethiter stand er auf
Augenhöhe mit den Herren von Assur und Babylon sowie mit dem Pharao Ägyptens.
Diese vier Groß-mächte, ihre zahlreichen Vasallen und Klientelkönigtümer
sowie die Mykener und Minoer weiter westlich verbanden damals enge
Handelsbeziehungen. Politisch rivalisierte man miteinander, ließ die
Konflikte aber nur selten eskalieren. Die Welt der Spätbronzezeit im
östlichen Mittelmeerraum war nicht ohne ihre Krisen, aber eine frühe
Form der Globalisierung hielt sie zusammen.
Dann ging diese Welt plötzlich unter. Niemand weiß, was aus Suppiluliuma II. wurde und wer ihm nachfolgte, wenn das überhaupt jemand tat. Hattussa wurde verlassen. Doch nicht nur das Hethiterreich kollabierte. Fast zeitgleich brachen an vielen Orten in der Levante, in Griechenland und der Ägäis politische Ordnungen zusammen. Die Ägypter zogen sich auf ihr Kerngebiet zurück, selbst die Assyrer, die um 1225 v. Chr. herum noch Babylon unterworfen hatten, strauchelten. Die mykenische Palastkultur verschwand von der Bildfläche und mit ihr der Schriftge-brauch in Griechenland. Erst vierhundert Jahre später ist er dort wieder nachweis-bar, wenn auch in völlig anderer Form. Dazwischen lag für die Altertumsforscher ein „Dunkles Zeitalter“.
Es war ein Einschnitt, mindestens so epochal wie der Untergang Roms rund 1600 Jahre später, und wie in diesem Fall beschäftigten die Gelehrten nicht zuletzt zwei Fragen: Was verursachte den Zusammenbruch? Und handelte es sich überhaupt um einen solchen? „Antike Staaten und Zivilisationen brechen nicht zusammen“, be-fand der israelische Soziologe Shmuel Eisenstadt 1988, „sofern mit ‚Zusammen-bruch‘ das komplette Ende dieser politischen Systeme und der zugehörigen zivili-satorischen Kontexte gemeint ist“.
Dem hat Eric Cline 2014 entschieden widersprochen. Da veröffentlichte der elo-quente Archäologe von der George Washington University ein Buch mit dem Titel „1177 BC – The Year Civilization Collapsed“. Nun hat er die Fortsetzung vorgelegt. Unter dem Titel „Nach 1177 v. Chr.“ ist sie auf Deutsch erschienen.
Die exakte Jahreszahl ist fraglos provokant. „Das war natürlich etwas Clickbaiting“, gibt Cline in seinen Vor-trägen zu. Selbstverständlich habe es sich auch beim Kollaps am Ende der Spätbronzezeit um einen Pro-zess gehandelt, allerdings einen jähen: „Die Welt im Jahr 1100 vor Christus war eine andere als die um 1200 v. Chr. und die um 1000 v. Chr eine völlig ande-re“, sagt der Forscher, selbst ein ausgewiesener Ex-perte für die vorderorientalische Spätbronzezeit. Ein Kollaps sei es aber gewesen, ein Systemkollaps der wirtschaftlichen Verbindungen der großen und kleinen Kö-nigreiche untereinander, welcher schließlich alle Beteiligten zumindest in Mitlei-denschaft zog.
Woher dann das Datum 1177 v. Chr.? Es war einer Chronologie zufolge das achte Regierungsjahr Pharao Ramses’ III., in dem dieser die Abwehr der „Seevölker“ feiert. Dabei handelte es sich um eine Koalition aus fünf namentlich genannten Ethnien, von denen allerdings nur eine – die Philister der Bibel – archäologisch greifbar ist. Seit der Entzifferung der einschlägigen Monumentalinschrift an der Totentempelfestung des dritten Ramses vor mehr als hundert Jahren wird daher diesen Seevölkern die Schuld am Ruin der Spätbronzezeit gegeben. Von irgendwo her seien sie über das Mittelmeer gekommen und über die Zivilisationen im Osten hergefallen. Später schalteten der Zeitgeist und eine neue Aufmerksamkeit für die Gründe hinter Migrationsbewegungen noch andere Ursachen vor: Die Seevölker hätte blanke Not übers Meer getrieben, und dahinter stünden Dürren, letztlich das Klima.
Cline verwarf solche Hypothesenketten schon 2014 als zu simpel angesichts der komplexen und uneindeutigen archäologischen Befunde, auch wenn er in der 2021 erschienenen Neuauflage seines ersten Buches klimatischen Faktoren eine größere Rolle in dem Drama zugesteht. Doch wenn man ihn frage, was denn nun den Kol-laps verursacht habe, ob nun Dürren, Nahrungsmittelknappheit, Erdbeben, Seu-chen, Migrationsströme oder Invasoren, antworte er: alles davon. Einzelne solcher Stressoren hätte das System sicherlich verkraftet. Aber es kamen eben mehrere zu-sammen. „Es war ein perfekter Sturm.“
Nun musste Cline mit Widerspruch rechnen. War der Kollaps nicht doch in Wahr-heit eine Transformation gewesen? Schließlich gab es eine Zeit danach, mittlerweile nicht mehr „Dunkles Zeitalter“ genannt, sondern „Eisenzeit“, nach einer der Inno-vationen, denen wir den Umbruch verdanken – übrigens auch von Cline selbst, der sich in seinem neuen Buch der Frage zuwendet, was nach dem Ende der Spätbron-zezeit geschah.
Dabei blickt er auf acht spätbronzezeitliche Staaten oder Kulturen, die um 1200 v. Chr. noch florierten – und darauf, wie es mit ihnen in der Eisenzeit weiterging: Auf Assur, Babylon, Hatti und Ägypten, auf die mykenische Palastkultur, auf Zypern sowie die Kanaaniter im Süden und im Zentrum der Levante. Etwas inkonsequent schlägt er die nördlichen Kanaaniter dem Reich Hatti zu, insofern sie am Ende der Bronzezeit unter hethitischer Oberhoheit standen – dabei erging es beiden sehr un-terschiedlich.
Wie, das erfährt der Leser erst im vierten der fünf Kapitel, in denen Cline ihm einen Überblick über die aktuelle archäologische Befundlage in den verschiedenen Kulturräumen verschafft. Denn im Unterschied zum vorangegangenen Buch geht Cline nicht streng chronologisch vor, sondern betrachtet die Schicksale Ägyptens, Mesopotamiens, der Zentrallevante, der Hethiter und der mykenischen Welt ge-trennt. Diese Kapitel sind trotz ihrer Knappheit fachlich profund und zugleich unterhaltsam geschrieben. Gestört wird der Lesefluss allenfalls von den vielen Namen von Clines Fachkollegen, deren Beiträge er nicht ungewürdigt lassen möchte.
Das alles ist jedoch nur Vorbereitung für das sechste und letzte Kapitel, in dem Cline den verschiedenen Staaten und Kulturen Zensuren erteilt. Anhand einer Skala von Eins bis Fünf bewertet er, wie gut oder schlecht sie sich in dem großen Um-bruch geschlagen haben. Die Noten fallen sehr unterschiedlich aus, aber sie zeigen, wo und inwieweit der Begriff des Kollaps gerechtfertigt ist.
Nun ist Eric Cline kein kulturphilosophischer Luftikus, sondern hat für seine Be-wertungen nachvollziehbare Kriterien gesucht. Er fand sie in einem Special Report des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) aus dem Jahr 2012, in dem diese wissenschaftliche Beratungsorganisation der Vereinten Nationen das Manage-ment von Risiken für Extremereignisse und Desaster angesichts des Klimawandels erörtert. Dort gibt es Definitionen für die Vokabeln „Krisenbewältigung“, „Anpas-sung“ und „Transformation“, mit denen Cline die aus den archäologischen und phi-lologischen Daten erkennbaren Trajektorien jener acht oder neun Kulturräume be-schreibt. Bei dieser Betrachtung kam ein weites Spektrum an Resilienz zutage.
Schwache Performance Ägyptens
Eine Fünf, und damit die schlechteste Note, erhalten die Hethiter und die südlichen Kanaaniter. Sie zeigten im Wüten des bald nach 1200 v. Chr. hereinbrechenden per-fekten Sturms keinerlei Resilienz. Sie verschwinden aus der Geschichte oder sie wer-den von anderen assimiliert, wie es nach Clines Sicht den südlichen Kanaani-tern passiert ist.
Die Note Vier erteilt Cline den Mykenern. Auch sie waren nicht resilient, ihr von einer Anzahl höfischer Zentren, den Palästen, geprägtes politisches System ver-schwindet, aber auf der Ebene der Populationen und mancher kultureller Parameter – die Namen von Gottheiten beispielsweise – gibt es Kontinuität. Vierhundert Jahre später wird daraus das klassische Griechenland entstehen.
Eine Drei bekommen die Ägypter. Das mag überraschen angesichts des erfolgrei-chen Abwehrkampfes Ramses III. gegen die Seevölker und des Fortbestandes der pharaonischen Kultur. Doch nach Cline war Ägyptens Performance beim Übergang in die Eisenzeit schwach: Man übte sich in bloßer Krisenbewältigung, ohne sich an die neue Zeit anzupassen – und fand nie wieder zu der alten imperialen Größe zu-rück.
Anders Assur und Babylon, die Cline mit einer Zwei benotet. Mesopotamien erwies sich als resilient, die Katastrophen trafen diese Region nur abgeschwächt, und spä-ter in der Eisenzeit dehnten sich von dort wieder neue Imperien nach Westen aus. Ebenfalls eine Zwei bekommen aber auch die Kanaaniter der nördlichen Levante. Befreit von der Zentralgewalt in Hattussa finden sie zu eigener Staatlichkeit und führten dort teilweise sogar hethitische Traditionen weiter. Die eisenzeitlichen Staa-ten Nordsyriens werden daher zuweilen „Neo-Hethiter“ genannt. Ihnen gelang da-mit nicht nur eine Anpassung des Alten an das Neue, sondern eine Transformation.
Die Klassenbesten aber sind bei Cline zwei Völker, die in der Spätbronzezeit nicht eben Schwergewichte gewesen waren: zum einen die Bewohner der Insel Zypern, die ihren Namen vom Bronzerohstoff Kupfer hat, wo man aber in einer echten Transformationsleistung rasch auf die Eisenverarbeitung umschaltet, und zum an-deren die Kanaaniter der zentralen Levante, besser bekannt unter dem Namen, den ihnen die Griechen später gaben: die Phönizier. Sie beginnen bald, den unterbro-chenen Seehandel weiterzuführen. Dabei expandieren die Phönizier mit ihrem Netz an Stützpunkten im Westen bis zur iberischen Halbinsel und bringen die neben dem Eisen zweite wichtige Innovation jener Zeit in die Mittelmeerwelt: das Alpha-bet. „Zyprer und Phönizier waren mehr als nur resilient“, schreibt Cline. Sie seien möglicherweise sogar „antifragil“ gewesen: Woran andere fast oder ganz zerbra-chen, gerade das wussten sie für ihre Entwicklung zu nutzen.
Somit kann Eric Cline tatsächlich ein differenziertes Bild von einem Kollaps zeich-nen, der zugleich auch eine Transformation war. Denn nicht für alle und alles be-deutete der allgemeine Zusammenbruch auch den eigenen Untergang. Für einige und einiges war es auch ein Neubeginn, ja mehr noch, eine Basis neuer Entwick-lungsstufen.
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