zu öffentliche Angelegenheiten
Das
 ist die spezifische Differenz, die das Abendland von allen andern 
Kulturräu-men unterscheidet und vor allen Kulturräumen auszeichnet: dass 
dem Menschen ein eigenes und nicht bloß durch priesterliche Vertretung ausgeborgtes Urteilsver-mögen
 zugeschrieben wird.
Doch keineswegs hat das Christentum 'ursprünglich' die Teilnahme von 
Gottes Geschöpf an der Vernunft seines Schöpfers gelehrt. Die in andern 
Sprachen übliches Ableitung der Vernunft von lat. ratio* - mehr 
Rech-nung als Erkennen - zeigt an, dass es sich um eine recht späte und 
wenig anschau-liche Wortbildung handelt. Im Deutschen haben wir in der 
'Vernunft' einen stim-mungsvolleren und scheinbar elementaren Ausdruck,
 denn sie stammt, wie der "Eleat" Herbart zu Recht einwendet, von vernehmen; Vernehmen von was? Vom Raunen des wahren Wesens, versteht sich. 
Das germanisch-tiefsinnige Vernehmen wurde jedoch erst von dem rationalisti-schen Aufklärungsphilosophen Christian Wolff als deutsche Übersetzung der la-teinischen raison
 eingeführt. Der Gedanke einer ursprünglichen Teilhabe des Men-schen an 
der göttlichen Einsicht ist allerdings ein unterschwelliges deutsches 
Erbe; zuerst ausgesprochen** von Meister Eckhart in der Idee vom seelenfünklîn. Eck-hart wurde aber von seinem Papst der Ketzerei bezichtigt, das zwang seine Lehre in den Untergrund, wo sie freilich überdauerte.
Ihren
 Siegeszug begann die Idee aber nicht auf theologischem, philologischem 
oder sonstwie gelehrten Weg, sondern auf den Schlachtfelderen des 
30jährigen Krieges, mehr noch in Diplomatenstuben und Friedenskongressen. Der Siegesszug des Ver-nunftprinzips verdankt sich nicht den 
Philosophen, sondern dem Westfälischen Frieden. Hugo Grotius war eben nur zur Stelle, als er am dringendsten gebraucht wurde. 
Pierre Bayle
 gilt als Begründer des neuzeitliche Skeptizismus, was ihm bis heute 
einen schlechten Ruf eintrug. Doch ist Skeptizismus nicht sein erster, 
sondern sein zweiter, aus dem ersten abgeleiteter Gedanke: Der Grundgedanke ist, dass uns in der Vernunft ein Maßstab gegeben sei, an dem 
wahr und falsch zu unterscheiden sind. Das ließ sich in keiner der 
widerstreitenden Konfessionen vertreten; doch da sie eben stritten, ließ es sich immerhin öffentlich vertreten, wenn auch nur in Hol-land und manchmal nur anonym.
 Öffentlichkeit ist die Heimstatt der Vernunft, nirgend anders kann 
sie sich entfalten und zu einer selbstständigen Macht neben und schließlich
 über den feindlichen Glaubensrichtungen ausbilden, und Gottgege-benheit 
muss sie schon gar nicht mehr beanspruchen; vielmehr müssen jene sich 
vor ihr rechtfertigen
Es
 ist offenkundig, dass nichts Vergleichbares im islamischen Raum 
geschehen ist. Das Große Schisma zwischen Sunna und Shia hat mit 
theologischen Fragen nichts zu tun, sondern lediglich mit dem zufälligen
 historischen Ereignis der Absetzung Alis zugunsten von Mo'awwiya. In 
beiden Parteien finden sich religiöse Richtungs-kämpfe
 in der Spannung zwischen Buchstabenorthodoxie und mystischer 
Erleb-nisreligion und zwischen Rechtsschulen und Freigeistern. Wenn 
überhaupt argu-mentiert wird, so über Entzifferungen von Wortlauten, 
nicht aber über Vernunftur-teile. Ansonsten predigt ein jeder seine 
Wahheit und schlagen sie einander die Schä-del ein.
Vernunft war kein originäres Erbe der christlichen Offenbarung.*** Sie ist im Abendland politisch
 an die Stelle der Kirchenlehren getreten und hat sich zu deren 
Bedingungsrahmen gefestigt. Das hat viel Blut gekostet, doch nun ist es 
einmal so. In der muslimischen Kultur ist Vernunft überhaupt kein 
legitimer Bestandteil. Statt als ultimativer Maßstab anerkannt zu 
sein, muss sie dort ums Überleben kämpfen.
*) Es handelt sich um den mystischen Elementargedanken; aber öffentlich ausgesprochen wurde er vor Eckhart nicht - und auch nicht mehr danach.
**) Descartes versteht unter Raison ausdrücklich den Geist der Geometrie. 
***) Ratiocinatio - 'Verstand' eher als Vernunft - wurde dank der aristotelischen Logik zum Medium der scholastischen Philosophie; doch an eine Beurteilung der Kirchendogmen durfte sie sich nicht wagen.
14. 8. 19
Nota. Das
 obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie
 der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht 
wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE 
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