Dienstag, 19. November 2024

Der abendländische Sonderweg.

                                                            zu öffentliche Angelegenheiten

Das ist die spezifische Differenz, die das Abendland von allen andern Kulturräu-men unterscheidet und vor allen Kulturräumen auszeichnet: dass dem Menschen ein eigenes und nicht bloß durch priesterliche Vertretung ausgeborgtes Urteilsver-mögen zugeschrieben wird. Doch keineswegs hat das Christentum 'ursprünglich' die Teilnahme von Gottes Geschöpf an der Vernunft seines Schöpfers gelehrt. Die in andern Sprachen übliches Ableitung der Vernunft von lat. ratio* - mehr Rech-nung als Erkennen - zeigt an, dass es sich um eine recht späte und wenig anschau-liche Wortbildung handelt. Im Deutschen haben wir in der 'Vernunft' einen stim-mungsvolleren und scheinbar elementaren Ausdruck, denn sie stammt, wie der "Eleat" Herbart zu Recht einwendet, von vernehmen; Vernehmen von was? Vom Raunen des wahren Wesens, versteht sich. 

Das germanisch-tiefsinnige Vernehmen wurde jedoch erst von dem rationalisti-schen Aufklärungsphilosophen Christian Wolff als deutsche Übersetzung der la-teinischen raison eingeführt. Der Gedanke einer ursprünglichen Teilhabe des Men-schen an der göttlichen Einsicht ist allerdings ein unterschwelliges deutsches Erbe; zuerst ausgesprochen** von Meister Eckhart in der Idee vom seelenfünklîn. Eck-hart wurde aber von seinem Papst der Ketzerei bezichtigt, das zwang seine Lehre in den Untergrund, wo sie freilich überdauerte.

Ihren Siegeszug begann die Idee aber nicht auf theologischem, philologischem oder sonstwie gelehrten Weg, sondern auf den Schlachtfelderen des 30jährigen Krieges, mehr noch in Diplomatenstuben und Friedenskongressen. Der Siegesszug des Ver-nunftprinzips verdankt sich nicht den Philosophen, sondern dem Westfälischen Frieden. Hugo Grotius war eben nur zur Stelle, als er am dringendsten gebraucht wurde.

Pierre Bayle gilt als Begründer des neuzeitliche Skeptizismus, was ihm bis heute einen schlechten Ruf eintrug. Doch ist Skeptizismus nicht sein erster, sondern sein zweiter, aus dem ersten abgeleiteter Gedanke: Der Grundgedanke ist, dass uns in der Vernunft ein Maßstab gegeben sei, an dem wahr und falsch zu unterscheiden sind. Das ließ sich in keiner der widerstreitenden Konfessionen vertreten; doch da sie eben stritten, ließ es sich immerhin öffentlich vertreten, wenn auch nur in Hol-land und manchmal nur anonym. Öffentlichkeit ist die Heimstatt der Vernunft, nirgend anders kann sie sich entfalten und zu einer selbstständigen Macht neben und schließlich über den feindlichen Glaubensrichtungen ausbilden, und Gottgege-benheit muss sie schon gar nicht mehr beanspruchen; vielmehr müssen jene sich vor ihr rechtfertigen

Es ist offenkundig, dass nichts Vergleichbares im islamischen Raum geschehen ist. Das Große Schisma zwischen Sunna und Shia hat mit theologischen Fragen nichts zu tun, sondern lediglich mit dem zufälligen historischen Ereignis der Absetzung Alis zugunsten von Mo'awwiya. In beiden Parteien finden sich religiöse Richtungs-kämpfe in der Spannung zwischen Buchstabenorthodoxie und mystischer Erleb-nisreligion und zwischen Rechtsschulen und Freigeistern. Wenn überhaupt argu-mentiert wird, so über Entzifferungen von Wortlauten, nicht aber über Vernunftur-teile. Ansonsten predigt ein jeder seine Wahheit und schlagen sie einander die Schä-del ein.

Vernunft war kein originäres Erbe der christlichen Offenbarung.*** Sie ist im Abendland politisch an die Stelle der Kirchenlehren getreten und hat sich zu deren Bedingungsrahmen gefestigt. Das hat viel Blut gekostet, doch nun ist es einmal so. In der muslimischen Kultur ist Vernunft überhaupt kein legitimer Bestandteil. Statt als ultimativer Maßstab anerkannt zu sein, muss sie dort ums Überleben kämpfen.

*) Es handelt sich um den mystischen Elementargedanken; aber öffentlich ausgesprochen wurde er vor Eckhart nicht - und auch nicht mehr danach.
**) Descartes versteht unter Raison ausdrücklich den Geist der Geometrie. 
***) Ratiocinatio - 'Verstand' eher als Vernunft - wurde dank der aristotelischen Logik zum Medium der scholastischen Philosophie; doch an eine Beurteilung der Kirchendogmen durfte sie sich nicht wagen.
14. 8. 19

 

Nota. Das obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

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