Donnerstag, 21. November 2024

Geht das Abendland nun doch unter?

aus spektrum.de, 19. 11. 2024                                                                      öffentliche Angelegenheiten
 
Der Fall der westlichen Imperien
Im fünften Jahrhundert endete das Weströmische Reich, und viele Menschen meinen, dass die Dominanz des Westens auch im 21sten Jahrhundert wieder auf der Kippe steht. War der Zusammenbruch Roms unvermeidlich, ein Ausdruck des gesetzmäßigen Lebenszyklus von Zivilisationen und Reichen, oder hätte er vermieden werden können? Und hält er Lehren für die Gegenwart bereit?
 

Unbedingt – meinen Peter Heather und John Rapley, die Autoren des Sachbuchs Stürzende Imperien: Rom, Amerika und die Zukunft des Westens. „Unheimliche Parallelen und produktive Unterschiede“ wollen sie erkannt haben. Die Ära der westlichen globalen Dominanz habe ihr Ende erreicht, verkündet der Rückentext.

Die Autoren sind eigentlich nicht als Untergangspropheten bekannt. Peter Heather ist Professor für Mittelalterliche Geschichte am King’s College in London. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Spätantike, also genau die Zeit, in das Römische Westreich unterging. John Rapley gibt in seinem Lebenslauf an, er habe auf drei Kontinenten gelebt, und gearbeitet, durch fünf Kontinente gereist, und zwar als Akademiker, Journalist, Unternehmer, Aktivist und Politikberater. Er schreibt, dass er sich als Volkswirtschaftler schwerpunktmäßig mit der Globalisierung und den Folgen für die Entwicklungsländer befasst.

Worum es geht

In der Einleitung erklären die beiden Autoren, dass sie sich zwar mit unterschiedlichen Reichen befassen, aber zu ähnlichen Schlussfolgerungen gekommen seien, wenn es um deren „Vergehen“ ginge.

Und die lauten kurz gefasst so: Ein reiches und mächtiges Imperium hat immer Auswirkungen auf seine unmittelbare Umgebung. Auch Stämme, Völker und Staaten am Rand werden reicher, sie profitieren vom Handel, sie exportieren Produkte ins Reich, sie lernen militärische, zivile und kulturelle Fertigkeiten, die wiederum ihre Macht auf Kosten des imperialen Zentrums stärken. Das Römische Reich hat also demnach die Germanen an seiner Grenze erst richtig stark gemacht. In unserer Zeit profitieren Staaten wie Korea, Mexiko, die Philippinen oder Bangladesch von der Auslagerung der industriellen Produktion in Länder mit geringerem Lohnniveau. Das macht sie aber reicher und stärker, so dass sie dem Westen mehr und mehr Macht abnehmen. Das Gefälle von Macht und Reichtum neigt demnach dazu, sich einzuebnen, zu erodieren und langsam abgetragen zu werden, wobei die finanziellen Mittel entscheidend sind für die Machterhaltung.

Heute und damals

Die Autoren betonen aber auch die Unterschiede zwischen den westlichen Imperien der Moderne und Spätantike. So litt Rom unter einem enormen Verlust von Steuereinnahmen, als germanische Stämme immer mehr Land einnahmen, und die Vandalen schließlich – nach einer langen Wanderung durch Gallien und Iberien das reiche Nordafrika eroberten, die damalige „Kornkammer“ Roms. Rom sei, so die Autoren, weitgehend auf Steuern angewiesen gewesen, die von den reichen Landbesitzern aufgebracht werden mussten. Der größte Teil des eingetriebenen Gelds finanzierte die römische Armee, die wiederum die Grundbesitzer schützte. Aber: ohne Geld keine Armee und kein Schutz.

Collosseum und Kapitol Seit 395 war das Römische Reich zwischen zwei Kaisern aufgeteilt: Einem westlichen in Rom und dem östlichen in Konstantinopel. Wohlgemerkt, es war nach wie vor offiziell ein Reich, wenn auch mit zwei Machtzentren. Ob das auf die Dauer gut gegangen wäre, ist eine andere Frage, die von der Geschichte nicht beantwortet werden kann, weil das Machtzentrum in Rom bereits bei der Reichsteilung stark geschwächt war und bereits 81 Jahre später unterging.

Die Macht Roms

Heather und Rapley gehen davon aus, dass das Römische Reich zu Beginn des fünften Jahrhunderts, also um das Jahr 400, unverändert wohlhabend und mächtig war, nicht nur im Osten, sondern auch im Westen. Die römische Armee war exzellent ausgebildet und ausgerüstet. Die germanischen Stammeskrieger waren den Legionären in einer offenen Feldschlacht meist unterlegen, sodass die meisten Stämme es vorzogen, in römische Dienste zu treten – was sie nicht daran hinderte, bei geeigneter Gelegenheit Raubzüge im Reich zu unternehmen. Der Untergang des Reichs war also nicht etwa vorgezeichnet. Das steht durchaus im Gegensatz zu den meisten anderen Interpretationen der damaligen Ereignisse. Sehen wir weiter:

Im Jahr 455 plünderten die Vandalen Rom, nachdem sie es kampflos eingenommen hatten. Das brachte ihnen einen grottenschlechten Ruf ein, den sie bis heute nicht losgeworden sind – durchaus zu Unrecht, denn die Plünderung verlief nach antiken Maßstäben eher zivilisiert. Im Jahr 468 rafften sich das Weströmische und das Oströmische Reich noch einmal zu einem großen gemeinsamen Feldzug gegen die Vandalen auf, der aber mit einer teuren Blamage endete, weil die mehr als 1000 Schiffe starke Flotte von den Vandalen mit Brandern außer Gefecht gesetzt wurden. Nur acht Jahre später war das Westreich Geschichte. Der germanische, in römischen Diensten stehende Heerführer Odoaker setzte den letzten römischen Kaiser Romulus Augustulus („Augustulus“ bedeutet „Kaiserlein“) ab und machte sich nicht mehr die Mühe, einen Nachfolger zu ernennen. Rom war der durch das Reich marodierenden Germanenstämme nicht mehr Herr geworden.

Einwanderung damals und heute

In der Moderne gibt es ebenfalls eine gewaltige Einwanderung aus der Peripherie in die westlichen Länder. Nur kommen sie nicht als Krieger, sondern als Arbeitssuchende, als Flüchtlinge vor Krieg und Elend, als Auswanderer. Und wenn die westlichen Imperien klug mit ihnen umgehen, dann kosten sie kein Geld, sondern erhöhen vielmehr das Bruttoinlandsprodukt, schaffen also für die westlichen Staaten mehr Reichtum. Natürlich profitieren auch ihre Heimatstaaten. Auf den Philippinen machen Rücküberweisungen (Remittances) fast 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus, in Usbekistan sind es 19 Prozent (Zahlen für 2023).

Die Wahlkampfbehauptung von Donald Trump, Amerika sei ein von illegalen Einwanderern terrorisiertes „besetztes“ Land, ist völliger – und gefährlicher – Blödsinn.

So weit so gut. Aber war das Weströmische Reich tatsächlich bis ca. 400 weitgehend intakt, bevor es durch mangelnde Steuereinnahmen die Grundlage für die Unterhaltung der Armee verlor? Und wurde damals wie heute die Peripherie der westlichen Imperien so reich und mächtig, dass sie das Zentrum erfolgreich bekämpfen konnten?

Das ist im Grunde der interessanteste Aspekt des Buchs. Alles übrige ist schon viele Male diskutiert worden. Bereits in meinem Schulgeschichtsbuch stand, dass die Völkerwanderung, ausgelöst durch das Vordringen der Hunnen nach Europa, das Römische Westreich irgendwann überfordert hat. Aber diese Meinung wird heute nicht mehr von allen Historikern geteilt. Ich empfehle dazu den Artikel über die Völkerwanderung in der deutschen Wikipedia. Sehr gut ist auch der Artikel des Historikers Mischa Meier in dem Online-Magazin Geschichte der Gegenwart.

Die römische Kultur

Das Römische Imperium war niemals ein zentral regiertes Gebilde, das wäre bei der schieren Größe unmöglich gewesen. Aber es war ein Kulturraum. Die Verwaltung war nicht zentralisiert, aber standardisiert. Maße, Gewichte und Münzen entstammten einem einheitlichen System. Die von Rom angelegten Städte entstanden nach festgelegten Mustern. Ein dichtes Straßennetz erlaubte umfangreichen Handel und schnelle Truppenbewegungen. ‚Auch fast alle auf römischem Boden entstandenen Nachfolgereiche betrachteten sich anfangs als Teil der römischen Welt. Niemand wollte das das bewährte Netz der Infrastrukturen zerstören. Den großen Grundbesitzern konnte es egal sein, ob sie Steuern an einen germanischen König oder an den Imperator zahlten. Die wahre Macht lag ohnehin bei wechselnden Kriegsherren, mit denen man sich arrangieren musste. Und viele der germanischen Aristokraten waren in der römischen Kultur heimisch. Das Problem lag eher in der Schwäche des weströmischen Zentrums. Ein starker Imperator, der die Legionen zentral befehligte, war nicht mehr in Sicht. Ob das aber am fehlenden Steueraufkommen lag, ist nicht kaum noch sicher festzustellen. Das Imperium kannte übrigens nicht nur Grundsteuern (hier eine Übersicht), und die reichen Großgrundbesitzer waren durchaus findig beim Hinterziehen von Steuern.

Zivilisationen als komplexes System mit eigenen Regeln

Der amerikanische Historiker Joseph Tainter sieht Zivilisationen als komplexe Systeme (im physikalischen Sinn), die zusammenbrechen können, wenn die Erhaltung zu aufwendig wird.

KI-Bild Hunde vor zerstörtem Kapitol
Eigenes symbolisches KI-Bild

Wir sehen beispielsweise im Moment, dass Erhaltung und Ausbau des Bahnsystem in Deutschland die finanziellen Möglichkeiten der Bahn übersteigt. Zugleich muss auch die Infrastruktur von Schulen und Straßen auf allen Ebenen verbessert werden. Allein die Kommunen schieben einen Investitionsstau von 186 Milliarden Euro vor sich her und erwarten eine eher schlechtere Finanzlage in den nächsten Jahren. Auch die römischen Städte und Regionen mussten beträchtliche Mittel aufwenden, um ihre Infrastrukturen zu erhalten.1

Was fehlt

Alle diese Punkte diskutiert das Buch allenfalls am Rande. Die einseitige Sicht der Autoren auf das Ende des Römischen Imperiums entwertet auch den Vergleich mit den Aussichten der aktuellen westlichen Welt. Die Autoren gehen davon aus, dass die Dominanz der westlichen Welt wesentlich auf der Ausbeutung von Kolonien beruht, die mit deren formaler Unabhängigkeit nicht vorbei war, sondern erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit dem Aufstieg Chinas beendet wurde. Seitdem haben die ehemaligen Kolonien die Möglichkeit, sich an China anzulehnen und sich der Dominanz der Europäer und Nordamerikaner zu entziehen.

Diese Sicht ist durchaus gängig, unterschlägt aber wichtige Faktoren. Entscheidend für den Aufstieg Europas und Nordamerikas war eher die Erschließung von neuen Energiequellen und die Erfindung der Telegraphie für die schnellere weltweite Kommunikation. Mit Dampfmaschinen, Gaslampen, Eisenbahnen und Traktoren ließ sich die Industrieproduktion und auch die Nahrungsmittelproduktion vervielfachen, ohne dass dafür die Kraft von Menschen oder Tieren gebraucht wurde. Und die schnelle Kommunikation über Telegraphen und später über Funkgeräte sorgte dafür, dass Herrscher immer größere Gebiete kontrollieren und verwalten konnten. Die Erfindung von weitreichenden Schusswaffen half ebenfalls. Bis zum 15. Jahrhundert waren die Waffen der europäischen Heere kaum besser als die der römischen Legionäre. Dieses Thema sprechen die Autoren des Buchs aber nicht an.

Damals und heute: kein echter Vergleich

Der Vergleich der Spätantike mit der Jetztzeit dient den Autoren eher der Begründung ihrer scharfen Kritik am Kolonialismus und am Neoliberalismus. Nach 1999 „kehrten Ausbeutung und Entbehrungen, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert ausgelagert worden waren, nun wieder in den Westen zurück“, schreiben sie.

Sie kritisieren unter anderem die Spaltung der modernen Gesellschaft, die Politik von Boris Johnson, den Aufstieg rechter Parteien in Europa, die hohen Staatsschulden, den maroden britischen National Health Service und den Verfall der Justiz in England – insgesamt eine ermüdende Jeremiade.

Und am Ende folgt die Moralpredigt. Das koloniale Erbe sei zu überwinden und westliche Länder sollten nicht im Alleingang versuchen, China bessere Handelskonditionen abzuringen. Das Ende des alten westlichen Imperiums sei unvermeidlich, könne aber positive Auswirkungen haben. Schließlich böten die „fundamentalen Institutionen des sozialen integrierten westlichen Sozialstaats“, überarbeitet für eine „wirklich“ postkoloniale Epoche, eine bessere Lebensqualität als jede konkurrierende Staatsform. Steueroasen müssten trockengelegt werden, ein globales System von CO2-Abgaben der jungen Generation eine lebenswerte Zukunft sichern. Dumm ist nur, dass die Autoren vorher beklagt haben, dass der Westen bereits entscheidend an Macht verloren habe. All diese Wohltaten werden sich deshalb kaum durchsetzen lassen, wie gerade wieder der UN-Klimagipfel im Erdölland Aserbaidschan zeigt.

Fazit: keine Empfehlung

Insgesamt bietet das Buch einen fundierten, wenn auch einseitigen Blick in die Weströmische Welt der Spätantike. Die drei Karten dazu sind allerdings etwas lieblos geraten. Und ich hätte mir doch deutlich mehr Quellenangaben gewünscht. Der Vergleich der Spätantike mit der Moderne überzeugt mich nicht. Insgesamt keine Empfehlung von mir.

Buchdaten
Peter Heather, John Rapley
Stürzende Imperien: Rom, Amerika und die Zukunft des
Westens
Gebundene Ausgabe, Stuttgart, Juli 2024
ISBN 978-3-608-98236-7

Anmerkungen

[1] Das Thema habe ich auch in meinem Buch „Offline! – der Kollaps globalen digitalen Zivilisation“ ausführlich diskutiert. Die moderne digitale Zivilisation verlässt sich sehr stark auf Komponenten, die nur an wenigen Orten der Welt hergestellt werden und eine kurze Lebensdauer haben. Schon eine kurze Unterbrechung des Welthandels kann zu einer katastrophalen Abwärtsspirale führen. Und die Kosten für die Erhaltung der Infrastruktur übersteigen möglicherweise schon bald die Leistungsfähigkeit der weltweiten digitalen Zivilisation.

 

 

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